Arbeiterkultur versus Massenkultur? Historiographische Überlegungen
p. 303-314
Texte intégral
I. Begriffliche Annäherungen
1Der Begriff der „Arbeiterkultur“ wie auch der Begriff „Kultur“ allein sind bis heute unscharf geblieben. In der neueren Forschung zur Arbeiterkultur seit den 1970er Jahren ist man sich zumindest darüber einig, dass „Kultur“ nicht – wie lange üblich im deutschsprachigen Raum – ausschließlich mit „Hochkultur“ (Literatur, Musik, Theater, Kunst etc.) gleichgesetzt werden darf, sondern die „Lebensweise“ miteinbezogen werden muss. Als wenig zielführend hingegen wird auch die Ausweitung des Begriffs auf die Gesamtheit menschlicher Äußerungen einer historischen Periode gesehen. Nach Jürgen Kocka zeichnen sich aus den Überlegungen zur Begriffsbildung drei Merkmale von „Kultur“ ab:
2„1. ‚Kultur [...] bezeichnet eine in sich heterogene Dimension geschichtlicher Wirklichkeit, ein System von bedeutungsvollen, Sinn stiftenden oder Sinn transportierenden, auch symbolischen Zeichen, Einstellungen, Handlungen, Konfigurationen und Manifestationen (einschließlich künstlerischer Manifestationen) – in begrifflicher Abgrenzbarkeit von Ökonomie, Politik und Sozialstruktur, doch zugleich in analysierbarer Wechselwirkung mit diesen. 2. Der Begriff „Kultur“ meint Phänomene, die sich zwar in der Zeit verändern, aber nicht dem schnellen Wandel unterliegen, sondern so viel Konstanz und Eigengewicht haben, dass sie trotz des Wechsels der Individuen, die die Trägergruppe ausmachen, identisch bleiben, also tradiert werden können. 3. Schließlich meint der Begriff etwas, was klassen-, schichten- oder gruppenspezifisch unterschieden und differenzierbar ist, wobei in ‚Arbeiterkultur‘ die Stellung der Trägergruppe im Produktionsprozess als relevantes Unterscheidungskriterium dient“1.
3Kocka weist allerdings daraufhin, dass es für den „Fall“ Deutschland schwierig ist, eine sinnvolle Trennung zwischen Arbeiterkultur und älterer Volkskultur vorzunehmen und das Ausgrenzungskriterium „Stellung im Produktionsprozess“ ernst zu nehmen. Eher ließe sich die Kultur einer bestimmten Arbeitergruppe identifizieren, wie es Klaus Tenfelde am Beispiel der Bergarbeiter heraus gearbeitet habe.
4Klaus Tenfelde hat seinerseits einen oft zitierten Definitionsversuch von „Arbeiterkultur“ unternommen. Er versteht darunter „diejenigen Manifestationen der proletarischen Lebensweise und der Arbeiterbewegung, die Werthaltung ausdrücken und als solche tradierfähig sind“2. Dann müssten „lohnabhängige Arbeit, arbeitsverbundenes Dasein und Arbeiterbewegung als kulturstiftende Wirklichkeitsbereiche gelten“3. Dies unterscheide die „Arbeiterkultur von der älteren ’Volkskultur’, grenzt sie von einem eher abgehobenen, ’bürgerlichen’ Kulturbegriff ab und vermeidet die Beliebigkeit von ’Industrie’- oder gar ’Alltagskultur’“4. Dieter Langewiesche agiert mit den Begriffen der Gruppen-, Sub- und Gegenkultur. Die Gesamtkultur begreift er als „System von anerkannten und untereinander verschränkten Kulturen“5, also ein Geflecht von Teiloder Gruppenkulturen, geprägt durch dominante kulturelle Normen in der Gesellschaft. Gruppenkulturen besäßen einen beschränkten Autonomieanspruch, würden aber gesamtkulturell akzeptiert werden, wohingegen die Subkulturen, die zwar auch eine relative Autonomie besäßen, nicht gesamtkulturell anerkannt und zumindest teilweise nicht in die Gesamtkultur integriert seien. Zur Gegenkultur wird Subkultur, wenn sich diese politisiert und ausgrenzt, sich gegen den Verbindlichkeitsanspruch der dominanten Kultur richtet. In diesem Sinne hätte sich Arbeiterkultur von einer Gruppen- über eine Sub- zur Gegenkultur entwickelt, wobei immer noch gruppen- und subkulturelle Elemente weiter bestanden hätten. Bei diesem Umformungsprozess habe die sozialistische Arbeiterbewegung eine entscheidende Rolle gespielt: sie politisierte die Subkultur und begriff sich von Anfang an als Keimzelle einer künftigen Gegenkultur. Hier ist vertiefend nach den Elementen der dominanten bürgerlichen Kultur zu fragen und nach dem Verhältnis zwischen bürgerlicher Kultur und Arbeiterkultur. Wie auch die Arbeiterkultur war, so Bernd Faulenbach, auch die sogenannte bürgerliche Kultur nicht heterogen und ihr Verhältnis zueinander komplizierter als es Begriffe wie Gegen- oder Subkultur implizierten, da die Arbeiterkultur teilweise die Kultur des Bürgertums adaptierte und fürs Proletariat zwar umdeutete; Arbeiterorganisationen aber so nicht eine unerhebliche Rolle als Vermittlungsinstanzen bürgerlicher Wertorientierungen spielten6.
5Arbeiterkultur ist weiterhin, so die Ansicht des Gros der Autoren, von der Arbeiterbewegungskultur bzw. der Arbeiterkulturbewegung zu unterscheiden, wenngleich diese Begriffe nicht immer – das gilt insbesondere für die deutsche Entwicklung – scharf zu trennen sind. Dennoch, so Gerhard A. Ritter, würde durch eine Gleichsetzung der deutschen Arbeiterkultur mit der Tätigkeit der Kultur- und Bildungsorganisationen der Arbeiter, der Blick verstellt auf Erscheinungsformen der Arbeiterkultur, die sich nicht im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung entwickelt hätten7. Für Klaus Tenfelde entfaltete sich Arbeiterkultur in drei Wirkungsbereichen: erstens am Arbeitsplatz, im Gefüge von Arbeitsprozess und Arbeitsorganisation, zweitens in Nachbarschaft, Kommune und Verein und drittens schließlich als Arbeiterbewegungskultur und Kulturpolitik im engeren und weiteren Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung8. Bernd Faulenbach warnt davor, die Zusammenhänge zwischen Arbeiterbewegungskultur und Arbeiterkultur aus den Augen zu lassen: es sei davon auszugehen, dass die Arbeiteralltagskultur auf die Arbeiterbewegungskultur einwirkte, diese aber auch die Arbeiteralltagskultur beeinflusste und beide ihrerseits durch kulturelle Einflüsse aus der übrigen Gesellschaft durchdrungen wurden9.
6Im internationalen Vergleichsmaßstab bleibt zuletzt mithin fraglich, ob und wie es überhaupt gelingen kann, so Friedhelm Boll, eine deutsche, französische, englische etc. nationale Arbeiterkultur abzustecken angesichts starker regionaler, religiöser und berufsgruppenbezogener Spezifika der Arbeiterkulturen in einem Land10.
7Ebenso wie die Definitionen und begrifflichen Abgrenzungen der Arbeiterkultur schwierig sind, ist auch der Begriff der Massenkultur nicht eindeutig zu beschreiben. Die Kategorie der „Masse“ war und ist weitgehend negativ konnotiert, sei es nun von konservativ-bürgerlicher Seite, die sich mit einer wie auch immer zu definierenden „Elitenkultur“ von der Kultur der Massen abgrenzten, sei es aus Sicht etwa Max Horkheimers und Theodor W. Adornos, die diese als „Massenbetrug“ gekennzeichnet haben11. Daher wird von Irmgard Wilharm vorgeschlagen, lieber von einer „Kultur für viele“ zu sprechen, um etwa auch den demokratisierenden Charakter einer Kultur für möglichst alle hervorzuheben. Dabei gibt sie auch zu bedenken, dass „Massenkultur“ nicht eindeutig schichtenspezifisch zuzuordnen sei und diejenigen, die sich als Eliten verstehen und meinen, sie würden an der „Massenkultur“ nicht teilnehmen, falsch lägen. Denn sich den modernen Massenmedien und dem staatlichen wie kommerzialisierten Kulturbetrieb komplett zu entziehen, ist nun mal kaum möglich. Fraglich bleibt aber, ob tatsächlich kulturelle Homogenität in der demokratischen Gesellschaft erreicht ist (geschweige denn, dass man von einer demokratisch-aufklärerischen Massenkultur sprechen könnte). Der Begriff „Massenkultur“ impliziere, so Frank Deppe und Klaus Dörre, zwar eine Tendenz zur Nivellierung kultureller Unterschiede, doch seien trotz der Anhebung des allgemeinen Lebensstandards und Bildungsniveaus, trotz der Vergesellschaftungsprozesse des fordistischen Regulationsmodells, Ungleichheitsrelationen erstaunlich gleich geblieben, was sich nur daraus erkläre, dass sich die gesellschaftliche Klassen- und Schichtstruktur auch im Alltagsverhalten, in Wertorientierungen und Verhaltensdispositionen der Individuen reproduziere: Die vermeintlich klassenlose Alltagskultur ist mindestens gekennzeichnet durch die „feinen Unterschiede“ im Sinne Pierre Bourdieus12. Zu beachten ist weiterhin, folgt man Anselm Döring-Manteuffel und Lutz Raphael, dass die „Zeit der standardisierten Gesellschaft des fordistischen Produktionsmodells [...] auf dem Feld der persönlichen Lebensführung und der Lebensentwürfe“13 in den 1970er Jahren zu Ende ging, eine Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten einsetzte und Raum geschaffen wurde für die Entwicklung von „Alternativkulturen“. Schließlich lässt sich aktuell darüber diskutieren, inwieweit eine neue, distinktive „Unterschichtenkultur“ mit entsprechenden Medienformaten in Deutschland Einzug gehalten hat.
II. Überblick über die Forschung in Ost und West
8Die oben aufgeführten Diskussionen um die Begrifflichkeiten in der Arbeiterkulturforschungsbewegung stammen ausschließlich aus der westdeutschen Forschungslandschaft. Die marxistisch-leninistische Hauptströmung der DDR-Forschung hatte aber ebenso Schwierigkeiten eine Definition von „Arbeiterkultur“ zu finden. Sie verwendete einen weiten, auf Marx gestützten, Begriff von „Kultur“, in dessen Mittelpunkt die Arbeit steht. Kulturelles sollte in der Gesamtheit der Lebensbedingungen und Lebenstätigkeiten untersucht werden, wobei die Trennschärfe zwischen Kultur und Lebensweise fehlte.
9Mit der Rezeption der „Zwei-Kulturen-Theorie“, d.h. das Vorhandensein zweier Klassenlinien in der Gesellschaft, von denen die „zweite Kultur“ geeignet sei, die Massen im Geiste des revolutionären Demokratismus und der revolutionären sozialistischen Ideologie zu erziehen, grenze sich, so Langewiesche, die marxistisch-leninistische Forschung von allen Richtungen ab, die mit nicht-normativen schicht- und gruppenbezogenen Kulturbegriffen arbeiten, und weise deren Relativismus als „perspektivlos“ zurück. Dies, Gerhard A. Ritter folgend, verengte die Perspektive der DDR-Forschung, da nur in den Blick genommen wurde, was unmittelbar mit dem Klassenkampf zu tun hatte und weite Bereiche der Arbeiterkultur, wie das Nachwirken vorindustrieller Denk- und Verhaltensmuster, Bemühungen um Aneignung des bürgerlichen Kulturerbes, wesentliche Elemente der durch die Anpassung an den Industrialisierungsprozess veränderten Kultur etc. ausgeklammert und für irrelevant erklärt wurden14. „Die ’politische Anforderung [...], inhaltliche Traditionslinien der ideologischen Klassenauseinandersetzung nachzuweisen’, richtet die DDR-marxistische Kulturforschung kompromisslos-eindeutig auf die ’Erbe-Aneigung’ aus, die man gefährdet sah durch die intensive ’bürgerliche’ Forschung zur Sozialgeschichte der deutschen Arbeiterschaft“15. Und weiter: „Der marxistisch-leninistischen Arbeiterkulturforschung gilt die Annahme eines zielgerichteten kulturellen Entwicklungsprozesses, an dessen vorläufigem Endpunkt die Staaten des ’real existierenden Sozialismus’ stehen, als grundlegender, nicht in Frage zu stellender Richtpunkt aller Studien“16.
10Auf den kulturellen Aspekt der Geschichte der Arbeiterbewegung ist – von älteren Darstellungen zur Geschichte einzelner Organisationen der Arbeiterkulturbewegung, die meist von Arbeiterführern selbst geschrieben worden sind, abgesehen – erstmals in den 1950er Jahren hingewiesen worden. In den 1960er und 1970er Jahren wurde das Thema der Arbeiterkultur und Arbeiterkulturbewegung, dem Trend zu Alltags- und Kulturgeschichte in der gesamten historischen Forschung folgend, aber auch durch die Rezeption des Sozialismus durch die Neue Linke und Teile der Protestbewegung als „Lebensform und Weltanschauung mit umfassenden humanen Geltungsanspruch“ angefeuert, zu einer der bevorzugten Gegenstände der Forschung. Dabei konzentrierte sich die Forschung stark auf einzelne Organisationen der Arbeiterkulturbewegung, regionale und berufsgruppenspezifische Felder, und etwa um Problembereiche wie Arbeiterlied, Arbeitertheater, Arbeiterliteratur, Lesegewohnheiten, Arbeitersport, -jugend und –frauen – weniger auf die sozialen und soziokulturellen Zusammenhänge bzw. Wandlungen. Mit der generellen Krise der Forschung in den 1990er Jahren ging auch die Hochzeit des Themas Arbeiterkultur zu Ende.
III Exkurs: Arbeiterkultur in Frankreich
11Für den „Fall“ Frankreich wichtig zu konstatieren sei, so Friedhelm Boll, dass man lediglich in Bezug auf einige Aspekte von einer gemeinsamen Arbeiterkultur sprechen kann. Die regional- und berufsspezifisch im Vergleich zu Deutschland sehr viel stärker unterschiedlich ausgeprägten Kulturen haben unter anderem ihren Ursprung in einer sektoral differenzierteren Industrialisierungs-geschwindigkeit. Hinzu kam, dass die Arbeiterkulturen in Frankreich sehr viel stärker in die demokratischen Traditionen des Landes eingebunden waren und somit nicht im gleichen Maße Isolation und Ausgrenzung erfuhren, wie es in Deutschland der Fall war, entsprechend weniger auf sich selbst ver- und auf ein so ausgeprägtes Organisationsgeflecht angewiesen waren. Die französische Arbeiterkulturforschung ist u.a. auch deshalb mehr als die deutsche auf die Lebenswelten innerhalb und außerhalb der Betriebe und weniger auf die Arbeiterkulturbewegung konzentriert17.
12Hinsichtlich der Periodisierung der Arbeiterkultur in Frankreich sind die nach der Jahrhundertwende einsetzenden technologischen Wandlungsprozesse für die Entstehung der Arbeiterkultur entscheidend; die 1920er Jahre sind als eine Periode des Übergangs zu betrachten, die zwar mit der Front populaire ihren politischen Höhepunkt erreichte, dennoch zunächst gekennzeichnet war durch eine Krise der culture de metier der Facharbeiter, die mit den Streikniederlagen 1906/07 begann, sich fortsetzte in einer stärkeren Verbreitung einer „Kultur der Armut“ und einer Krise des lokal und politisch zersplitterten Gewerkschaftssystems. Ansätze zur einer Gegenkultur blieben marginal, bis sich diese zur zugkräftigen Massenkultur der Volksfront entwickelte, wobei die neue Freizeitkultur mehr als in Deutschland als Partner, nicht so sehr als Konkurrenz gesehen wurde. „Die fließenden Übergänge von Arbeiterschaft und Kleinbürgertum in Frankreich sowie die politische Allianz mit einem Teil des liberalen Bürgertums zur Verteidigung der Republik markieren hier grundlegende Unterschiede zu Deutschland, Österreich oder Russland, wo die Arbeiterkulturbewegung trotz partieller Übernahme in kommunale Trägerschaft vornehmlich Institutionen der Abgrenzung gegenüber dem Bürgertum blieben“18.
13Weitere Unterschiede zur deutschen Arbeiterkultur war die weitaus stärkere Verankerung der Arbeiterautonomie im Produktionsprozess, so dass Ausprägungen der Arbeiterkultur auch klarer von industriellen Wandlungsprozessen beeinflusst worden sind. Die französische Arbeiterkultur als culture au travail war viel stärker eine Kultur der Widerständigkeit, sie ging Hand in Hand mit der Gewerkschaftsstrategie des revolutionären Syndikalismus, versagte sich organisatorischem Zentralismus und zielte auf selbstverantworteten Streik. Kaum eine Idee könnte somit der französischen Situation unangepasster sein als die Vorstellung einer auf starke Organisationen gegründeten, tendenziell allumfassenden, den „Neuen Menschen“ anstrebenden Arbeiterkulturbewegung.
IV Von der Entwicklung der Arbeiterkultur in Deutschland bis zu ihrer Überlagerung durch die Massenkultur
14Dieter Langewiesche folgend bildete sich Arbeiterkultur als „Gruppenkultur“ bereits in vorindustrieller Zeit aus, hier spielten handwerkliche und volkstümliche Traditionen eine Rolle. Als „Subkultur“ bildete sich dann ein Teil der gruppenkulturellen Zusammenhänge im Vormärz und stärker noch in der Revolution von 1848/49 aus, als das Proletariat sich zu organisieren begann. Zur „Gegenkultur“ schließlich wurde ein Teil der Arbeiterkultur, als die sozialistische Arbeiterbewegung in den 1860er Jahren entstand19. Vor dem Ersten Weltkrieg, so die herrschende Forschungsmeinung, war der Höhepunkt der Arbeiterkulturbewegung, erreicht, auch wenn sich in der Weimarer Republik die Organisationen der Arbeiterkulturbewegung weiter ausdifferenzierten und auch quantitativ nochmals zulegten. Die Zeit der sozialistischen/sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und die Ausformung der Arbeiterkultur wie auch der Arbeiterkulturbewegung im Kaiserreich wurde im Wesentlichen durch zwei Elemente geprägt: durch die Industrialisierung, die zur Ausformung klassenspezifischer Daseinsformen führte, und durch den preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat und die herrschende bürgerliche Klasse, die der Arbeiterschaft demokratische Partizipation wo möglich verweigerte, ihre Organisation behinderte und von Bildung und Kultur ausschloss. Die Arbeiterkultur entstand so nicht nur als Reflex auf alltägliche Nöte und Bedürfnisse, sondern auch als solidarische Antwort auf die erfahrene Ausgrenzung und Isolation20.
15Diese Voraussetzung zur Ausformung einer Gegenkultur fiel in der Weimarer Republik weg. Trotz qualitativer wie quantitativer Zunahme der kulturellen Organisationen begann die Arbeiterkultur zu erodieren, wurde die Arbeiterkulturbewegung mehr und mehr zur bloßen Traditionswahrung denn prägend für die Wirklichkeit, wenngleich die eigentliche Zäsur für die Organisationen 1933 darstellt, als sie als Teil der marxistischen Arbeiterbewegung verboten wurden. Mit dem „Kultursozialismus“, mit der Vorstellung von der Entwicklung eines „neuen Menschen“ durch Bildung und Kultur, wurde versucht die bedrohte sozialistische Utopie nach dem Scheitern eines völligen politischen und wirtschaftlichen Neuanfangs nach 1919 zu retten. In den 1920er Jahren trat die sich neu entwickelnde Massen (freizeit) kultur mit Radio, Film, Illustrierten, Boulevard-Presse etc. als Konkurrenz zu den überkommenen kulturellen Ausdrucksformen der Arbeiterbewegung. Die Arbeiterkulturbewegung versuchte einerseits, so Faulenbach, „den Tendenzen der Massenkultur entgegen zu wirken und gegen diese die Arbeiter zu immunisieren, teils bemühte sie sich, diese aufzugreifen und für die Arbeiterbewegung zu nutzen“21. Doch letztlich ließen sich trotz dieser Bemühungen die neuen Medien Radio und Kino im Grunde nicht mehr integrieren. Weiterhin ist das Spannungsverhältnis zwischen der betont klassenkämpferischen kommunistischen Arbeiterkulturbewegung und der sich einer Art Festkultur nähernden und auf Integration in Staat, Politik, Gesellschaft zielenden sozialdemokratischen Arbeiterkulturbewegung zu erwähnen.
16Im „Dritten Reich“ schließlich wurden Elemente der Arbeiterkultur (z.B. die Feiern zum 1. Mai) aufgegriffen und umgedeutet und die gesamte Massenkultur in den Dienst des Regimes gestellt. Die Diskreditierung bestimmter „ganzheitlicher“ Politikstile durch den Nationalsozialismus stellt eine der vielen Ursachen dar, warum nach 1945 der systematische Wiederaufbau der Arbeiterkultur von Sozialdemokratie und Gewerkschaften verworfen wurde. Ein bedeutsamerer Grund für den – zweifellos auch bewussten – Verzicht der Arbeiterbewegung auf die Revitalisierung lag in der Einschätzung, dass nun eine demokratische Kultur möglich und nötig sei und Lagermentalitäten überwunden werden müssten. Klaus Tenfelde bezeichnet den „Verzicht auf organisatorischen Rückhalt für eine neuerliche kulturelle Gegenheimat der Arbeiter“ als eine „bedeutende Morgengabe [...] an die aufzubauende Demokratie“22. Dahinter standen aber auch unübersehbare Erosionsprozesse des traditionellen sozial-moralischen Milieus der Arbeiterbewegung, die bereits in Weimar einsetzten und im Zuge des „Wirtschaftswunders“ an Wirksamkeit zunahmen.
17Die Massenkultur, die nun frei von politischer Steuerung war, sich jedoch stark kommerzialisierte, überlagerte zunehmend die (Restbestände der) Arbeiterkultur, die sich ihrerseits nicht mehr auf ein weitgehend homogenes Milieu, eine Klasse oder Schicht beziehen konnte: „Die Ablösung der ’Klassenkultur’ durch die ’Massenkultur’ lässt sich so als einen Prozess begreifen, in dessen Verlauf – bei Fortbestehen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems und der quantitativen Ausdehnung von unselbständiger Lohnarbeit – der Zusammenhang zwischen objektiver und subjektiver Klassenbildung aufgebrochen wird“23. Voraussetzung dafür bildete die Teilhabe der Arbeiterschaft an wirtschaftlichen wie politischen Errungenschaften der Bundesrepublik: „Erst mit der Durchsetzung des Prinzips sozialer Gerechtigkeit im Wirtschaftsleben, mit der demokratisch-politischen Partizipation der Arbeiterschaft und dem Ende ihrer gesellschaftlichen Isolation ist die Arbeiterkultur in die Gesamtkultur der Gesellschaft schließlich weitgehend aufgegangen“24. Es war hier vor allem, folgt man der sogenannten „Fordismus-These“, das fordistische Regulationsmodell, dass die Arbeiterschaft durch Lohnzuwächse (auch durch die starke Stellung der Gewerkschaften) und deren Anbindung an den Produktivitätszuwachs, durch sozialstaatliche Garantien, durch rechtlich-institutionelle Verfahren der Regulierung der industriellen Beziehungen und der Erweiterung der Konsummöglichkeiten in die Gesamtgesellschaft integrierte, sie „vergesellschaftete“. Der Massenkonsum wurde zum entscheidenden Produktions- und Reproduktionszusammenhang; die Rolle des Konsumenten seit den 1950er Jahren habe, so die These von Wolfgang Ruppert, mehr und mehr kulturell formende Bedeutung für die Gesamtgesellschaft erlangt und die Identität des Arbeiters überlagert, vielleicht erheblich verdrängt. Dabei verliefen diese auch unter „Verbürgerlichung“ gefassten Prozesse keineswegs linear und einheitlich ab, bargen vielmehr Widersprüchlichkeiten, die am Ende der Prosperitätsperiode aufbrachen.
18Wendet man den Blick von der westdeutschen zur ostdeutschen Entwicklung, so hat die SED die massen- wie arbeiterkulturellen Elemente in den Dienst des „real existierenden Sozialismus“ genommen und versucht für alle Bereiche der Kultur, der Jugend und der Freizeit umfassende Massenorganisationen aufzubauen. Unter einer sich von den 1940er bis 1960er Jahren herausbildenden sozialistischen Oberschicht, die ihrem Staat dankbar war für die Entmachtung alter bürgerlicher und adeliger Funktionseliten und ihren Bildungsaufstieg, wurden, so Michael Hofmann, tatsächlich traditionelle Arbeitermilieus „konserviert“ und blieb das soziale Leben in der DDR von traditionellen arbeiterlichen wie auch kleinbürgerlichen Lebenskulturen bis zum Schluss geprägt. Dennoch hätten sich auch in der DDR moderne Lebenswelten entwickelt, seit den 1970er Jahren erhielten die DDR-Bürger trotz aller Einschränkungen Anschluss an Massenkonsum, Massentourismus und vor allem an die westliche Massen- und Musikkultur25. Es bleibt aber mehr als fraglich, inwieweit eine „konservierte“ und für die Zwecke des SED-Staates eingespannte Arbeiterkultur noch als authentisch gelten kann.
V. Massenkultur als Teil europäischer Zeitgeschichte
19In der jüngsten zeitgeschichtlichen Forschung wird mittlerweile der Aufstieg der Massenkultur als wichtige Dimension europäischer Gesellschaftsgeschichte.
20Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass die Entwicklung der Massenkultur im 19. Jahrhundert noch von einigen Ungleichzeitigkeiten durchsetzt ist, das heißt, dass einige der neuen Inhalte noch in die alte kulturelle Form gekleidet waren, oder dass neue Formen noch nicht Massenrezeption erfahren hatten. So bestimmte eine besondere „Dialektik der Widersprüche“ die Dynamik der Kultur, die für die Ausprägung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften bestimmend waren. Bezogen auf die Wertung und Rezeption der Massenkultur bildeten sich dann Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem zwei Perspektiven heraus: Einerseits wurde ihre spezifische Ausprägung als Schund und Merkmal des bevorstehenden „Zerfalls“ von Gesellschaften interpretiert, andererseits wurde sie als demokratischer Fortschritt, der die Teilnahme vieler erlaubt, gewertet. So werden in der Forschung nicht nur im Zusammenhang mit Massenkultur veränderte Formen des kollektiven Bewusstseins sondern auch ihre Rezeptionsgeschichte als wichtige Forschungsaspekte identifiziert. Für den Kulturwissenschaftler Roger Behrens beispielsweise kann die Massenkultur, so wie sie sich zum Beispiel in der Filmindustrie oder in den politisch gelenkten Medien manifestiert, als „Bewusstseinsindustrie“ oder „communication industry“ bezeichnet werden. Ihre kritische Rezeption müsse jedoch ihre Bedeutung als „hegemoniale Kultur“ erkennen, als Ausdruckszusammenhang einer sozialen Ordnung, die von Widersprüchen durchsetzt ist:
21„Soziale, individuelle und psychische Konflikte fänden auch kulturell ihren Ausdruck in einem diffusen System von Symbolen, Codierungen und alltagskultureller Praxis“26.
22Behrens folgend, wäre es spannend zu fragen, ob sich in der Geschichte der Arbeiterkulturen Codes, Symboliken und ihre Praktiken mit eindeutigerem Charakter finden lassen.
23Der Historiker Kaspar Maase erkennt ähnliche Wesensmerkmale und Widersprüche in der Massenkultur des 19. und 20. Jahrhunderts, zieht jedoch andere Schlüsse. Zunächst rekonstruiert er in seiner Pionierstudie Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850 bis 1970 ihren Weg in den Lebensmittelpunkt moderner Leistungsgesellschaften, erkennt sie in den populären Künsten, in ihrer marktgesetzlichen Nachfrageorientierung und dem Konsumverhalten. Für ihn erweist sich die Historie der Massenkultur dabei durchaus als eine Geschichte von Täuschung und Autosuggestion, von Despotismus und Kreativität, von utopischen Hoffnungen und opportunem Verhalten27.
24Maase kommt jedoch zu dem Schluß, dass der Aufstieg der Massenkultur die Demokratisierungsschübe des 20. Jahrhunderts letztlich befördert habe, „nicht unbedingt durch inhaltliche Botschaften, wohl eher durch die Anwendung von Praktiken und Wertmaßstäben“. Massenkultur und die ihr inhärente Massendemokratisierung hätten die Distanzen in den Lebensstilen verringert. Insbesondere populäre Künste und Vergnügungen hätten weiterbestehende Herrschaftsstrukturen mit einem „Netz von Gemeinsamkeiten“ durchzogen. Die „Wünsche“ der Vielen würden sich nicht selten mit denen der Entscheidungseliten decken und wären von diesen in hohem Maße zu berücksichtigen28.
25Auch bei Maase eröffnet sich die Frage, ob dieser „massenkulturelle“ Effekt auf das Verhalten von Führungseliten nicht auch ähnlich beim historischen Rückblick auf Arbeiterkultur zu finden ist. Untersucht werden müsste mit gleicher Schablone insbesondere das Verhältnis von sozialen Bewegungen des Arbeitermilieus in Bezug auf ihre Führungspersönlichkeiten.
Notes de bas de page
1 Jürgen Kocka, „Arbeiterkultur als Forschungsthema“, in: GG5, 1979, S. 5-11.
2 Klaus Tenfelde, „Vom Ende und Erbe der Arbeiterkultur“, in: Susanne Miller/Malte Ristau (Hrsg.), Gesellschaftlicher Wandel – Soziale Demokratie. 125 Jahre SPD. Historische Erfahrungen, Gegenwartsfragen, Zukunftskonzepte, Köln 1988, S. 157.
3 Ebd.
4 Ebd.
5 Dieter Langewiesche, „Arbeiterkultur in Österreich: Aspekte, Tendenzen und Thesen“, in: Ritter, Arbeiterkultur, S. 40-57.
6 Vgl. Bernd Faulenbach, „Von der Klassenkultur zur Massenkultur? Zur Frage der historischen Einordnung der Arbeiterkultur“, in: Arbeit und Kultur. Beiträge zu einer arbeitnehmerbezogenen Kultur (=Forschungsinstitut für Arbeiterbildung (Hrsg.), Beiträge, Informationen, Kommentare 1988, Nr. 7), S. 9.
7 Vgl. Gerhard A. Ritter, „Arbeiterkultur im Deutschen Kaiserreich. Probleme und Forschungsansätze“, in: ders. (Hrsg.), Arbeiterkultur, Königstein 1979, S. 15-39.
8 Tenfelde, Vom Ende und Erbe der Arbeiterkultur, S. 157.
9 Vgl. Faulenbach, „Von der Klassenkultur zur Massenkultur?“, S. 4-21.
10 Vgl. Friedhelm Boll, Vergleichende Aspekte nationaler Arbeitskulturen, in: ders. (Hrsg.), Arbeitskulturen zwischen Alltag und Politik. Beiträge zum europäischen Vergleich in der Zwischenkriegszeit, Wien u.a. 1986, S. 7-16.
11 Vgl. Frank Deppe/Klaus Dörre, „Klassenbildung und Massenkultur im 20. Jahrhundert“, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 726-771.
12 Vgl. ebd.
13 Anselm Döring-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, insb. S. 42 ff., S. 106 ff.
14 Vgl. Ritter, „Arbeiterkultur im Deutschen Kaiserreich“, S. 15-39.
15 Dieter Langewiesche, „Politik – Gesellschaft – Kultur. Zur Problematik von Arbeiterkultur und kulturellen Arbeiterorganisationen in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg“, in: AfS 22, 1982, S. 359-402.
16 Ebd.
17 Vgl. Boll, „Vergleichende Aspekte nationaler Arbeitskulturen“, S. 7-16.
18 Ebd., S. 12.
19 Vgl. Langewiesche, „Arbeiterkultur in Österreich“, S. 40-57.
20 Vgl. auch Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970.
21 Faulenbach, „Von der Klassenkultur zur Massenkultur?“, S. 10.
22 Zit. nach ebd., S. 12-13.
23 Deppe/Dörre, „Klassenbildung und Massenkultur im 20. Jahrhundert“, S. 728.
24 Ritter, „Arbeiterkultur im Deutschen Kaiserreich“, S. 30.
25 Vgl. Michael Hofmann, „Was wurde aus den sozialistischen Eliten? Entwicklung sozialer Strukturen in der DDR und in Ostdeutschland“, Friedrich-Ebert-Stiftung 2009, URL: http://library.fes.de/pdf-files/bueros/seoul/06964.pdf.
26 Roger Behrens, Krise und Illusion. Beiträge zur ktitischen Theorie der Massenkultur, Münster/Hamburg 2003, S. 41 f. Vgl. zur Geschichte des Massenkonsums unter neuen wissenschaftlichen Vorzeichen seit den 1990er Jahren vor allem auch Kasper Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt am Main 1997; Axel Schildt, Media-tisierung und Konsumgesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Essen 2004; Ders., Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 1950er Jahre, Hamburg 1995, S. 209 ff; Hannes Siegrist u. a. (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.-20. Jahrhundert), Frankfurt am Main/New York 1995.
27 Kasper Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt am Main 1997, besonders S. 35 ff. und S. 270-281.
28 Ebd., S. 281.
Auteur
Le texte seul est utilisable sous licence Licence OpenEdition Books. Les autres éléments (illustrations, fichiers annexes importés) sont « Tous droits réservés », sauf mention contraire.
La RDA et la société postsocialiste dans le cinéma allemand après 1989
Hélène Camarade, Elizabeth Guilhamon, Matthias Steinle et al. (dir.)
2018
Saisir le terrain ou l’invention des sciences empiriques en France et en Allemagne
Jean-Louis Georget, Gaëlle Hallair et Bernhard Tschofen (dir.)
2017
Fuite et expulsions des Allemands : transnationalité et représentations, 19e-21e siècle
Carola Hähnel-Mesnard et Dominique Herbet (dir.)
2016
Civilisation allemande
Bilan et perspectives dans l'enseignement et la recherche
Hans-Jürgen Lüsebrink et Jérôme Vaillant (dir.)
2013
RDA : Culture – critique – crise
Nouveaux regards sur l’Allemagne de l’Est
Emmanuelle Aurenche-Beau, Marcel Boldorf et Ralf Zschachlitz (dir.)
2017
Le national-socialisme dans le cinéma allemand contemporain
Hélène Camarade, Elizabeth Guilhamon et Claire Kaiser (dir.)
2013
Le premier féminisme allemand (1848-1933)
Un mouvement social de dimension internationale
Patrick Farges et Anne-Marie Saint-Gille (dir.)
2013
France-Allemagne
Figures de l’intellectuel, entre révolution et réaction (1780-1848)
Anne Baillot et Ayşe Yuva (dir.)
2014
La laïcité en question
Religion, État et société en France et en Allemagne du 18e siècle à nos jours
Sylvie Le Grand (dir.)
2008
Migrations et identités
L’exemple de l’Allemagne aux XIXe et XXe siècles
Jean-Paul Cahn et Bernard Poloni (dir.)
2009