Weltalter und Weltreich1
p. 235-242
Texte intégral
1Weltalter und Weltreich scheinen zwei einander nahe liegende Begriffe zu sein, und das sind sie auch ; nichtsdestoweniger zeigt eine historische Erörterung, dass sie wohl von einander unterschieden werden müssen. Welches aber das Verhältnis zwischen Weltalter und Weltreich sei, lehrt die Beantwortung der Frage, auf welchem Wege eine Nation ein nach ihr zu benennendes Weltalter begründe. Die Antwort lautet : Eine Nation begründet ein Weltalter, wenn sie eine originale und universale Literatur produzirt und diese durch ein Weltreich, welches eine Weltsprache im Gefolge hat, über weite Länderstrecken und Völkermassen verbreitet. Dieser Satz beweist sich selbst, ja er könnte als ein Gemeinplatz erscheinen : seine Bedeutung bekommt er als Mass für die Ansprüche der grossen Nationen.
2Die Römer hätten ein ökumenisches Reich, aber keine originale Literatur und keine Wissenschaft und auch keine Weltsprache. Der Mangel an Originalität in der römischen Literatur bedarf als zugestanden wohl keiner weiteren Erörterung. Paradoxer könnte es Manchem klingen, dass die lateinische Sprache nie eigentliche Weltsprache gewesen sei. Ich verweile daher hierbei einige Augenblicke. Zunächst war schon wegen der mangelnden Originalität seiner Literatur der Römer selbst genöthigt, auf Monoglottie (Einsprachigkeit) zu verzichten. Er musste Griechisch lernen, um sich seiner höheren Menschlichkeit bewusst zu werden und prunkte nachher mit dem erworbenen griechischen Geistesschmuck. Die Reihe der Römer, welche als griechische Skribenten auftraten, zieht sich von der besten Zeit der Republik bis in die späteste Kaiserzeit. Selbst Cicero schrieb eine geschichtliche Darstellung seines Konsulats auf Griechisch. (Ep. ad Attic. I, 19.) Nicht einmal als ausschliessliche Geschäftssprache konnte das Latein sich festsetzen. Tiberius hält zwar noch darauf, im Senat kein griechisches Wort zu gebrauchen und umschreibt lieber ἔμβλημα, aber von Hadrian an reskribiren die Kaiser griechisch auf griechische Anfragen. Andrerseits entschliesst sich nicht leicht ein griechischer Provinziale, Latein zu lernen. Noch zu Diocletians Zeiten galt es in Antiochia für ein Zeichen italischer Abstammung, wenn dort Jemand Latein schreiben konnte (Liban. I, 4). Ferner ist das Latein nie gefüge Konversationssprache der gebildeten Kreise geworden. Die Römer haben kein Wort für causerie, d. h. für das Sprechen bloss um des Sprechens willen, so wenig, wie die Deutschen. Cicero gebraucht dafür λέσχη.
3Wir reden also nach, wie vor, von einem römischen Weltreich, aber nicht von einem römischen Weltalter, von einem imperium Romanum, aber nicht von einem saeculum Romanum.
4Der nächste Erbe des imperium Romanum war das heilige römische Reich deutscher Nation ; es kann nur uneigentlich ein Weltreich heissen, denn es war kein Kosmos, sondern ein Chaos. Von den aufgestellten Kriterien eines Weltalters findet sich in ihm keines ; kaum dass ein tonangebendes Volk vorhanden ist. Denn in dem Völkergemenge waren die Deutschen nur Eines neben vielen. Die Literaturen zersplitterten sich und haben wohl lokale Raritäten und Kabinetstücke für patriotische Liebhaberei, aber kein Werk, welches, wie die Bibel, Homer und Shakespeare, eine dauernde Aufnahme in die geistige Schatzkammer der Menschheit gefunden hätte. Von einer Weltsprache war man so weit entfernt, dass vielmehr während jener Zeit die moderne Sprachentrennung sich fixirte. Ein entsetzliches Latein war nur Geschäftssprache, gleichsam das Rothwälsch oder die lingua franca der Diplomatie und der Mönche.
5Die Italiener haben wohl die originalste und universalste Literatur unter allen modernen Völkern. Wenn ihr Drama auch zurücktritt, so ist ihr vielartiges Epos (Dante-Ariosto-Tasso) doch ohne Gleichen in den übrigen Literaturen. Einen Prosaiker, wie Machiavelli, hat keine andere Nation, auch die Griechen nicht. Er übertrifft den Thukydides an Leichtigkeit und den Aristoteles an Fülle, und steht keinem von Beiden an Tiefe und Strenge nach. Aber die Italiener waren in politischer Ohnmacht seit dem Untergange Roms und werden trotz aller Unifikation schwerlich je wieder jenseits der Alpen herrschen.
6Die Spanier waren im sechszehnten Jahrhundert nur zu sehr Weltmacht. Die Sonne ging in ihrem Reich nicht unter. Ihre Literatur ist auch original genug, aber sie weist nur Ein Erzeugniss auf, das zugleich original und universal ist, den Don Quixote des Cervantes. Schon um den Calderon zu goutiren, muss ein Nichtspanier etwas von einem feurigen Glauben phantastischen Ritterthums an sich haben.
7Die Engländer haben ebenfalls nur Einen universellen Autor, den Shakespeare. Byron hätte es werden können, wenn er ausgegoren wäre. Unter den Prosaikern ist Gibbon universal, aber er ist französisch. Ueberdies haben die Engländer auch zur Zeit ihrer höchsten Macht zwar Einfluss, aber nicht Herrschaft auf dem Kontinente Europas besessen.
8Es hat also bisher nur zwei Weltalter gegeben : das griechische und das französische, dem sich von nun an das deutsche als drittes anschliessen wird.
Griechenland
9Das griechische Weltalter erstreckt sich von Perikles bis Constantin und umfasst also einen Zeitraum von etwa 800 Jahren. Der Kern der poetischen Literatur und ein bedeutender Theil der prosaischen wurde in den anderthalb Jahrhunderten bis auf Alexander den Grossen angesammelt, und das Gebiet, wo diese Aeusserungen des griechischen Geistes wirkten, war damais keineswegs eng. Es umfasste alle Küsten des Mittelmeeres bis tief an die Pontusländer hinein. Aber dennoch fühlten die Griechen sich in diesen Grenzen eingeengt und früh strebten sie nach der Weltherrschaft, wie dies des Alcibiades Rede bei Thukydides (6, 90) bekundet : «Wir Athener unternahmen den Zug nach Sicilien zunächst, um, wenn es uns gelänge, die Sikelioten zu unterwerfen. Darauf nach jenen auch die Italioten, und dann wollten wir uns an die Provinzen der Karthager und an diese selbst wagen. Ware dies Alles oder zum grössten Theil nach Wunsch gegangen, so wollten wir dann endlich den Angriff gegen die Peloponnes richten mit der ganzen hellenischen Truppenmacht aus jenen unterworfenen Ländern und mit Söldnern aus Iberien und den andern jetzt als die streitbarsten anerkannten barbarischen Völker-schaften ; zu unsern vorhandenen Kriegsschiffen hätten wir viele neue hinzugebaut, da Italien Schiffsbauholz in Fülle besitzt ; mit diesen hätten wir den Peloponnes ringsum blokirt, zugleich mit dem Landheer die Städte angegriffen, um die einen im ersten Anlauf zu nehmen, die andern einzuschliessen ; so hofften wir leicht den Krieg zu beendigen und alsdann über die gesammte Hellenenwelt zu herrschen.»
10Mit dem Scheitern der athenischen Pläne waren die hellenischen nicht aufgegeben. Sie beruhten auf einem physiologischen Selbstbewusstsein der Nation. So blieben denn jene Aspirationen der Athener auch nach der Schwächung Athens lebendig. Der Nationalstolz der Hellenen beruhte auf einer physiologischen und psychologischen Theorie, die uns Aristoteles angiebt.* Aber erst durch das Weltreich Alexanders ward das griechische Weltalter dauernd begründet, die grossen Kontinente hellenisirt. Alexanders Weltreich ward von dem römischen absorbirt, aber nicht verändert, und wenigstens fünf Jahrhunderte war der griechische Geist der Herr über die Geister der Menschen, auch der Christen der ersten zwei Jahrhunderte. Zwei Strömungen : anthropomorphistische Mytho-logie und Philosophie, oder Plastik und Spekulation vereinigen sich im griechischen Geiste und bilden durch die griechische Literatur in der Menschheit den Sinn für die Form und das Bewusstsein der Freiheit des Gedankens aus. Das letztere Moment, das freie, voraussetzungslose Denken, konnte gleichsam Nationaleigenschaft der Griechen werden, weil sie früh und so nachdrücklich, wie keine andere Nation, die Macht ihrer priesterlichen Korporationen brachen, ihnen weder auf die Leitung des Staates noch auf die Erziehung Einfluss verstatteten, und weil ihre Religion ohne Dogmen war, welche den Geist in vorgezeichnete Geleise hätte bannen können. Auch als die plastische Kraft in der Alexandrinischen Zeit versiegte, blieb dieses Freiheitsgefühl lebendig, ja verstärkte es sich. Das bedeutendste philosophische Produkt dieser Zeit, das stoische System, erfüllt die Menschen mit einem Selbstbewusstsein, welches die edleren Naturen auch unter dem bleiernen Druck der römischen Kaiserzeit frisch erhält. An diesem mehr oder weniger durch die gesammte Literatur wältenden Freiheitsprinzip hat sich während der Renaissance die Menschheit gegen das Mittelalter aufgerichtet ; der ἐλευθέριος befreite von den Blitzen nicht des Jupiter Capitolinus, sondern des Vatikans ; die Hauptautoren der lateinischen Literatur waren auch während des Mittelalters bekannt und wirksam, aber sie schützten nicht vor der Finsterniss ; erst mit der Rückkehr der griechischen Literatur kam auch Licht und Freiheit wieder ((τὸ Ἐλληνικὸν ἐλεύθερον διατελεῖ). Wer diese Verhältnisse übersieht, muss den Versuch, das Griechische aus dem höheren Jugendunterricht zu verdrängen, für eine Verkümmerung der edelsten Güter der Menschheit halten.
Frankreich
11Das französische Weltalter dauerte etwas über zwei Jahrhunderte. Man kann es mit dem westfälischen Frieden, der Abtretung des Elsass (1648) beginnen lassen, und es endet bei Sedan. Halten wir eine kurze und milde Leichenrede an seinem frischen Grabe. Allerdings begründet es sich und befestigt es sich durch militärisch-politisches Übergewicht, welches dreimal in der ganzen Periode, unter Ludwig XIV, Napoleon I und Napoleon III, auf den europäischen Kontinent und auch auf den Orient erdrückend wirkt. Aber auch hier wie bei den Griechen tritt das Charakteristische des Weltalters darin hervor, dass mit jenen Zeiten des kriegerischen Glanzes und der politischen Macht lange Zeiträume der militärischen Schande und politischen Ohnmacht abwechseln, in denen sich der Einfluss des französischen Geistes und der französischen Sprache eher verstärkt, als vermindert. Während des niederschmetternden Erbfolgekrieges schreibt Leibniz seine Hauptwerke (die Nouveaux Essais und die Theodicee) französisch, und der Sieger von Ross bach mochte kein anderes, als ein französisches Buch in die Hand nehmen. Die Wichtigkeit, die Goethe den Monsieurs du Globe beilegt, die Angst, mit der Niebuhr während der Restauration auf jedes Gerücht von Paris lauschte und den Ausbruch der Julirevolution begleitete, zeigt, dass der Talisman des französischen Prestige auch durch St. Helena nicht gebrochen war. Es bewahrt sich eben die Regel, dass ein Weltalter zwar zu seiner Begründung des Schwertes nicht entbehren kann, aber eben so sehr durch die Feder und die Zunge, wie durch das Schwert, fortbesteht.
12Die französische Literatur nun spiegelt in ihrer klassischen Periode, im siècle de Louis Quatorze, die Eigenschaften wieder, welche zu jener Zeit in der französischen Regierung und Gesellschaft herrschten. Die Macht der Regierung beruhte auf der geordneten Administration, die hier zum ersten Male im modernen Europa unbeirrt durch feudale Ausnahmsrechte die reichen Hilfsmittel eines grossen, kompakten Landes den Zwecken des Gebieters dienstbar machte. Colbert und Louvois stellen ein Muster finanzieller und militärischer Verwaltung auf, welches zur Nachahmung reizte und noch mehr, als das Glück der Schlachten, zur Verbreitung französischen Wesens beitrug. Daneben entwickelte sich in der französischen, vom Hofe beherrschten Gesellschaft der sogenannte bon ton, ein Zurückdrängen der persönlichen Eigenthümlichkeiten und Gegensätze zum Behuf anstosslosen Plauderns. So zeigt denn auch die Literatur eine schematische Strenge der äusseren Form, eine klare Präzision, eine Jedem zugängliche Fasslichkeit. Es ist Alles schmuck und fast nichts im vollen Sinne des Wortes schön. Denn zur Schönheit gehört nach der aristotelischen Definition die Grösse so gut, wie die Ordnung. Und Grösse und Tiefe fehlt mit sehr wenigen Ausnahmen diesen höfisch abgeschliffenen Menschen und den auf den populären Ton gestimmten Werken. Das einzige Literaturprodukt dieser Periode, welches trotz vieler Ungeheuerlichkeiten Grösse und Tiefe zeigt, die Pensées de Pascal, hat diese dem Umstande zu verdanken, dass es embryonisch hingeworfene Materialien zu einem Werke find, welches der düstere Selbstpeiniger auszuarbeiten keine Zeit fand. Wären die Demanten zu französischer Klassizität geschliffen worden, so hätten sie ihr Feuer verloren. Man sieht es an Malebranche. Seine Gedankenkraft ist der Pascal’schen fast ebenbürtig, aber sie erlahmt unter der geschniegelten Eleganz der Ausführung. -Trotz aller Mängel war nun aber jene klassische Literatur ein origineller Ausdruck des damaligen französischen Geistes, und eben jenes konventionelle Vertuschen der eigentlichen, die Gemüther der Menschen beschäftigenden und trennenden Probleme, das Hingleiten über die Dinge (pas appuyer) vermehrte die Universalität und erleichterte die Aufnahme in den nicht französischen Ländern. In England schuf sie die Literaturepoche der Königin Anna, welche die Kraft und Fülle der Elisabethanischen Epoche dem französischen Firniss opferte und freilich dafür auch eine der früheren englichen Literatur unbekannte, gelenke Prosa schuf, welche besonders in dem damais zuerst kein Haupt erhebenden Journalismus ein mächtiges Werkzeug zur Lenkung der Menschen wurde. In Deutschland ausserte sich die Wirkung später, weil es noch immer an den Wunden des dreissigjährigen Krieges darniederlag und zunachst in sklavischer Unselbstständigkeit französisch schrieb. Aber sobald es ein wenig zu Kräften gekommen war und deutsch zu schreiben anfing, zeigte sich auch hier das Bestreben, es der französischen Eleganz nachzuthun. Die poetischen Versuche mit deutschen Alexandrinern bleiben billig der Vergessenheit anheimgegeben, aber vergessen darf man nicht, dass die deutsche neuere Prosa, welcher Luther’s schlagende Kraft längst abhanden gekommen war, sich aus ihrer Versunkenheit und der Versumpfung des siebzehnten Jahrhunderts erst wieder an der Hand jener französischen Prosa zu einer menschenwürdigen Redeform empor-arbeitete. Der wässerige Gottsched und der feurige Lessing wirken hier zu gleichem Ziel. Wie viel Lessing in seiner formalen Ausbildung seinen französischen Gegnern verdankt, kann man aus Danzels Nachweisungen ersehen. Das Resultat dieser ganzen von Frankreich eingeleiteten und nach England und Deutschland verpflanzten Bewegung war das Entstehen eines grossen europäischen Lesepublikums, welches die höheren und mittleren Stände umfasste : dieses wollte und konnte keine Bücher studiren und verpönte die frühere Gelehrsamkeit als langweilig ; aber gar bald wurde ihm auch die Belletristik, von welcher das Jahrhundert Ludwig des Vierzehnten gezehrt hatte, zu schaal ; es wollte die praktischen Fragen in Kirche und Staat, welche früher den Fachmännern überlassen waren, vor sein Forum ziehen und nach dem Durschschnittsmass einer sogenannten gefunden Vernunft entscheiden. Dieser Stimmung gab die zweite Epoche der französischen Geistesbewegung, welche von Ludwig des XIV. Tode bis zur Revolution reicht, reichliche Nahrung und wusste so, während Frankreichs tiefen politischen Verfalls, die geistige Hegemonie Europas für die Franzosen zu behaupten. Von der früheren Epoche unterscheidet sie sich vornehmlich dadurch, dass sie das vom Hofton gebotene konventionelle Vertuschen der Probleme aufgiebt, sie zerrt vielmehr Alles in die Debatte und will tiefe Furchen ziehen, auf die Gefahr hin, keine Saat zu finden, die sie in die Furchen streuen könnte. Am Unbarmherzigsten betreibt dieses grelle und nackte Hinstellen ungelöster Probleme der bedeutendste Kopf der ganzen Schaar französischer Philosophen und Encyklo-paedisten, der auch von Lessing und später von Goethe anerkannte Diderot, den man einen unfrommen Pascal nennen könnte. Er hat mit Pascal auch dies gemein, dass seine Schriften um so wirksamer sind, je weniger sie eine abgeschlossene Abrundung der Form zeigen. - Wie weit nun auch diese zweite Periode von der ersten sich durch das Aufgreifen höherer und aufregenderer Gegenstände der Behandlung unterscheidet, in der Behandlungsweise setzt die zweite nur die erste mit mehr Bewusstsein fort. Die Satze kürzen sich noch knapper, als früher ; immer weniger Anstrengung wird dem Leser zugemuthet. Nicht nur der Adlige und der Bürger, auch der Handwerker, Jeder der lesen kann, soll in die Bewegung hineingezogen werden. Die Minen, mit welchen so die europäische Gesellschaft in allen ihren Schichten unterhöhlt wurde, explodirten in der grossen Erschütterung, welche nach dem Repräsentanten des Weltalters die französische Revolution heisst, in der That aber eine europäische und ganz wesentlich auch eine deutsche ist. Ja, man kann sagen, die Franzosen betrieben die Revolution als Empiriker, und grosse deutsche Geister systematisirten sie. Die Stellung der drei leitenden deutschen Philosophen zur französischen Revolution ist zwar jedem Kenner ihrer Schriften hinlanglich bekannt, aber sie pflegt in den gangbaren Geschichtsbüchern nicht mit der gehörigen Schärfe hervorgehoben zu werden. Am weitesten geht wohl der grundehrliche und urdeutsche Kant. Im Jahre 1798, also zu einer Zeit, als alles Entsetzliche, aller Greuel, welchen die Revolution geboren, schon als vollendete Thatsache bei ihrer Beurtheilung mit in Rechnung gezogen werden musste, liess Kant einen Aufsatz drucken : «Erneuerte Frage : ob das Menschengeschlecht in beständigem Fortschreiten zum Bessern sei ?» Nachdem er alle sonstigen Mittel der theoretischen und geschichtlichen Betrachtung als ungenügend zur Entscheidung der Frage mit seiner gewohnten Schärfe nachgewiesen, findet er allein in dem «Phänomen» der französischen Revolution einen festen Anhalt für die «wahrsagende» Geschichte, die stetige Perfektibilität des Menschen-geschlechts anzunehmen. Fichte hätte schon früher, im Schreckensjahre 1793 selbst, seine «Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution» erscheinen lassen, deren Hauptsätze er auch später festhielt. In ihnen wird die durch Rousseau zum revolutionären Dogma erhobene Theorie vom Gesellschaftsvertrage zwar nicht als geschichtliche Thatsache anerkannt, aber mit glühender Begeisterung als politisches Ideal aufgestellt. Und was Hegel anlangt, so hat er zu Berlin in den Zwanziger Jahren, also zur Zeit der französischen Reaktion, in seinen Vorträgen über Philosophie der Geschichte (S. 441) sich folgendermassen vernehmen lassen : «Der Gedanke, der Begriff des Rechts macht sich nun - in der Revolution - mit einemmale geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. Im Gedanken des Rechtes ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr Alles basirt sein. So lange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hätte zuerst gesagt, dass der Geist die Welt regiert ; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, dass der Gedanke die gesammte Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durschschauert, als sei es zur wirklichen Versohnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.»
13Nicht ohne Wehmuth können wir jetzt nach Ablauf von mehr als fünfzig Jahren und den Erfahrungen dieses halben Jahrhunderts diese überschwänglichen Worte des Philosophen, dem jüngst in Berlin eine Bildsäule errichtet ward, uns vergegenwärtigen. Aber anerkennen muss man doch, dass aus den zum grossen Theil missglückten praktischen Aspirationen der französischen Bewegung und den methodischen Lehren der grossen deutschen Philosophen sich eine für alle Kulturländer gemeinsame, gewöhnlich als liberale bezeichnete Lebensauffassung gebildet hat, welche in dem seit 1789 verflossenen fast vollem Jahrhundert trotz aller Trübungen und Ablenkungen die grossen Ereignisse dieser Epoche im Wesentlichen erzeugt und beherrscht hat.
Notes de bas de page
1 Le texte imprimé ci-dessous reproduit exactement celui de la parution originale dans la Deutsche Revue, sinon que l’on a choisi la graphie ss et que les italiques correspondent aux termes espacés. Il y était présenté comme « Eine bisher nicht verôffentlichte Abhandlung von Jacob Bernays » [J.G. et A.L.].
Notes de fin
* Den Griechen wird als dem Volk der Mitte auch das beste menschliche Temperament (Mischung der Charaktereigenschaften) zugeschrieben. Namlich die Völkerstämme im Binnenlande von Europa sind zwar voiler Thatkraft, aber es fehlt ihnen an Geist und Kunst ; daher behaupten sie sich zwar in Freiheit, aber sie sind ohne geordnete Staatsverfassung und nicht im Stande, über ihre Nachbarn Herrschaft zu gewinnen. Es sind damit die thrakischen, skythischen und slavischen Stämme gemeint. Von den Thrakern sagt auch Herodot (V, 3) : wäre der thrakische Stamm unter Einer Herrschaft oder einträchtig, so wäre er unbesiegbar und der mächtigste aller Völker, und Thukydides von den Skythen (II, 97) : den Skythen, wenn sie einträchtig wären, würde weder in Europa noch Asien ein Volk gewachsen sein. - «Die asiatischen Völker», fährt Aristoteles fort, «sind zwar geistreich und kunstsinnig, aber ohne Thatkraft ; daher leben sie in dauernder Botmässigkeit und Knechtschaft. Die hellenische Nation dagegen, wie sie geographisch zwischen Asien und Europa in der Mitte liegt, so hat sie auch an beiden Eigenschaften Theil, denn sie ist thatkräftig und geistreich. Daher behauptet sie sich in Freiheit, hat die besten Verfassungsformen hervorgebracht und ware im Stande die Weltherrschaft zu gewinnen, wenn sie einmal zu einer einheitlichen Verfassung gelangte.» Jene Weltherrschaft wurde nun zwar nicht unter einer «Verfassung», sondern unter einem «Könige» bewirkt. Aber das «Freibleiben» hat in kulturhistorischer Hinsicht sich doch als richtig bewährt. Die Griechen wurden von Alexander und seinen Nachfolgern auf fürstliche (ἡγεμονικς), nicht auf despotische Weise (δεσποτικς) regiert.
Plato, Republ. 4, 435 E.
Arist., Polit. 4, 7.
Hippokrates, de aere, §. 84-85.
Auteur
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