Conclusion. « L’Allemagne possède des trésors enfouis ». Deutsche Autoren in französischer Sprache (teils lange) vor der Romantik*
« L’Allemagne possède des trésors enfouis ». Auteurs allemands en langue française (en partie longtemps) avant le Romantisme
p. 411-430
Résumés
C’est un lieu commun que de croire que la France ne s’ouvre à la pensée allemande qu’à partir de l’époque romantique. Or il est grand temps de diriger notre regard vers les importations d’une longue période précédente qui s’étend de la fin du Moyen âge à la fin du Siècle des Lumières, avec plus d’un millier d’ouvrages traduits. Mon analyse se consacre d’abord aux dates socio-biographiques de quelques centaines de traducteurs de cette période (sexe, âge, confession, métier et statut social, séjours dans le pays voisin, degré de spécialisation, réseaux à l’intérieur du champ littéraire). Suit une analyse des lieux de publication, des sujets et catégories littéraires, de la vitesse surprenante des transferts, des rééditions, des pratiques et idéologies de transformation, etc.
Als gesichert gilt, dass Interesse am deutschen Geistesleben in Frankreich erst durch die Romantik ausgelöst wurde. Es scheint daher dringlich, den Blick auf eine lange Vorphase deutscher Literaturimporte zu lenken, die vom Spätmittelalter bis zum Ende der Aufklärungszeit reicht und eine dreistellige Zahl übersetzter Werke umfasst. Meine Skizze gilt vor allem sozio-biographischen Daten einiger Hunderte von Übersetzern dieser Frühphase (Geschlecht, Alter, Konfession, Stand und Beruf, Aufenthalte im Nachbarland, Spezialisierungsgrad, Vernetzungen innerhalb des literarischen Feldes). Ins Auge gefasst werden ferner: Verlagsorte, Dominanten der Angebotspalette, überraschende Geschwindigkeit des Transfers, Mehrfachauflagen, Leitideen wie Praktiken der Umformung u. a. m.
Texte intégral
1Es verdient hohe Anerkennung, dass die Herausgeber dieses Bandes sich einer wichtigen Thematik angenommen haben, die zwar zusehends wissenschaftliches Ansehen gewinnt, aber insgesamt noch immer weitgehend unerforscht ist. Am höchst stattlichen Inhaltsverzeichnis fällt mir zweierlei auf:
- Die meisten Beiträge gelten dem Literatur-und Wissenstransfer seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Das ist, soweit es Übersetzungen ins Französische angeht, kaum erstaunlich. Entspricht es doch der Überzeugung nicht nur Harald Weinrichs, des so ungemein belesenen und wohl namhaftesten lebenden Romanisten deutscher Sprache. Erst kürzlich bekräftigte er das (beidseits des Rheins kaum je bezweifelte) Dogma, Interesse am „deutschen Geistesleben“sei in Frankreich erst durch die Romantik, etwa ab 1810, ausgelöst worden1.
- Einem alten Hang der Geisteswissenschaften zum pittoresken Einzelphänomen folgend, ist die große Mehrheit der Beiträge einzelnen Autoren-und Mittlergestalten gewidmet2 – überwiegend „monstres sacrés“der literarischen Welt wie Benjamin, Celan, Handke, George Sand, Heinrich Mann.
2Angesichts solcher Schwerpunkte schien mir dringlich, die leichtere Waagschale aufzufüllen: einmal mit Blick auf einen (manchem wohl überraschend lang erscheinenden) Zeitraum vor 1810; dann durch den Versuch, die Übersetzungsproduktion und ihre Protagonisten in größerer Breite nach Gesetzmäßigkeiten abzuklopfen. Das allerdings ist eine undankbare Aufgabe. Droht doch mein Beitrag abstrakter zu werden als die beliebte Schilderung von Einzelfällen, und folglich recht trocken. Betonen möchte ich, dass Zeit-und Mengenangaben nicht mehr sein wollen als erste Annäherungen. Basis meiner Skizze sind weit über 7000 Übersetzungen ins Französische, davon fast 1300 von Werken deutscher Autoren3. Deren Texte waren zu gut 70% in ihrer Muttersprache, die übrigen in Latein verfasst4.
Eckwerte und Rekordmarken
3Die Einbürgerung lateinischer Texte deutschen Ursprungs setzte schon im Spätmittelalter ein5. Bei Übersetzungen aus der Lingua franca der gelehrten Welt lagen im 16. Jahrhundert (unter nichtfranzösischen Autoren) die des deutschen Kulturraums an Platz zwei hinter den Italienern, und im 17. und 18. Jahrhundert rückten sie sogar an diesen vorbei an die Spitze. Unnötig zu betonen, welch hohes Interesse jene Erschließung deutschen Gedankenguts für ein breiteres Publikum halb-oder ungelehrter Laien verdient. Rund zweihundert uns bekannte Übersetzer bemühten sich, neben einer stattlichen Reihe Anonymer, um solche Umformung in die eigene Volkssprache. Gefragt waren – aus dem Ursprungsland der Reformation – primär Werke religiösen Charakters, sowohl der Frömmigkeit als auch theologischer Kontroversliteratur. Doch Abhandlungen zu Politik und Geschichte, Naturwissenschaften, Medizin und Recht, auch Schöne Literatur fanden gleichfalls Beachtung, teils schon im 16. und 17. Jahrhundert, vor allem aber im achtzehnten.
4Nun zu Übersetzungen aus dem Deutschen. Von ihnen erschienen die ersten indirekten, nach einer lateinischen Zwischenversion, Ende des fünfzehnten, die ersten direkten in den ersten Jahrzehnten des nächsten Jahrhunderts. Doch mehr als drei Viertel gehören in eine weit spätere Zeit, zwischen 1750 und 1809. In jenem reichlichen Halbjahrhundert kletterten Titel deutschsprachiger Herkunft, nach den englischen, auf Rang zwei aller Herkunftssprachen. Die Kammlinie der Publikationskurve erreichte ihren Gipfel in den 1780er Jahren. Wie nie zuvor zeigte das Land gerade damals erstaunliche Offenheit für fremde Geistesprodukte ganz allgemein, für die seiner östlichen Nachbarkultur im Besonderen. Die Popularität deutscher Importe spiegelte sich schon darin, dass ein Großteil echter, manchmal auch nur vorgeblicher Übersetzungen den Namen des Autors, Übersetzers oder beider auf dem Titelblatt für unnütz hielt. Um Käufer anzulocken, setzte man also häufig nicht auf das Gütesigel bekannter Größen des Buchmarktes, sondern einzig auf die Verheißung „traduit de l’allemand“. Augenfälliger noch wird die Faszinationskraft von Ostimporten durch ein schon angedeutetes zeittypisches Phänomen: Vor allem in den Genres Roman und Drama gab sich, aus allerlei Gründen, eine stattliche Anzahl französischer Originale als Übertragung aus dem Deutschen. Candide und seine Fortsetzungen sind hier nur die bekanntesten Beispiele6.
Mittelsleute und Zwischenhändler
5Wer waren die Übersetzer, deren Name auf dem Titelblatt bzw. im Vorspann ausgedruckt oder deren Urheberschaft erschließbar ist? Von rund 40% unter ihnen kennen wir vorerst keinerlei biographische Daten. Nach der Geschlechts-Zuweisung, teils nur aufgrund des Vornamens, wurde jeder zwölfte Titel übertragen von Frauen. Sie gehörten fast sämtlich der Aristokratie an. Bekannt sind immerhin viele Geburtsdaten7. Sie zeigen, dass Übertragungen aus dem Deutschen alles andere waren als frühe stilistische Fingerübungen halbflügger Möchtegern-Literaten. Hatten doch die Übersetzer bei Erscheinen ihres Erstlings-Produkts im Durchschnitt das stattliche Alter von rund 42 Jahren erreicht8. Weniger häufig lässt sich die Konfessions-Zugehörigkeit bestimmen. Beim Übersetzen hier zuweisbarer Titel aus dem Lateinischen dominierten klar die Katholiken. War die Sprache des Originals dagegen Deutsch, wurden die weitaus meisten Werke von Protestanten übertragen: augenfällige Affinitäten also einerseits zur Sprache der römischen Kirche, andererseits zur Sprache Luthers und zum Ursprungsland der Reformation, das späterhin (nach Aufhebung des Toleranz-Edikts) vielen Hugenotten Zuflucht bieten sollte.
6Weitere Auffälligkeiten zeichnen sich ab bei der Standes-Zugehörigkeit. Erwartungsgemäß dominierte zwar beim Überführen aus dem Idiom der Gelehrten in die Volkssprache der alte Gelehrtenstand par excellence, d. h. Geistliche beider Konfessionen. Dagegen war beim Übersetzen aus dem Deutschen der Beitrag von Aristokraten dreimal höher als der des Ersten Standes, weit überproportional auch im Vergleich zu ihrem BevölBevölkerungsanteil: ein schlagender Beweis für ungemein hohe Wertschätzung des Literatur-und Wissenstransfers aus Deutschland bei der alten weltlichen Standeselite. Übersetzen galt ihr offenbar mitnichten – was man aus heutiger Sicht argwöhnen könnte – als verächtliche Schufterei von Lohnschreibern, sondern als höchst standesgemäße Beschäftigung.
7Kommen wir zum Beitrag einzelner Berufsgruppen oder Korporationen bzw. von Inhabern öffentlicher Ämter. Hauptberufliche Billiglöhner, in Sorels Francion ein Grund, bezahltes Übersetzen als „chose très servile“ abzutun9, lassen sich nur vereinzelt entdecken10. Ungemein aktiv waren, mit der doppelten Titelzahl wie Kleriker, Spielarten pädagogisch orientierter Berufe – Hauslehrer oder Erzieher an diversen Schul-und Hochschultypen. Deren Affinität zum Übersetzergeschäft mag nicht zuletzt aus dem hohen Wert herrühren, der dem Übertragen (meist antiker Autoritäten) im traditionellen Bildungsbetrieb zugesprochen wurde. Ein Drittel höher als bei Klerikern war der Anteil aktiver oder früherer Offiziere seit den 1760er Jahren. Das dürfte überraschend erscheinen. Es mag sein, dass jenes besondere Engagement der Gruppe ableitbar ist aus geschärftem Bewusstsein für Sprachprobleme und Nutzen des Wissenstransfers, das während des Siebenjährigen Kriegs und der Revolutionsjahre in Feldzügen auf deutschem Boden entstand11. Unter den Absolventen Hoher Schulen traten Mediziner relativ selten und nur als Übersetzer lateinischer Fachtexte ihrer Disziplin in Erscheinung, ganz im Gegensatz zu Rechtsgelehrten. Worin gründete deren große Nähe zum Übersetzen – nicht nur einschlägiger Fachliteratur, sondern auch von Gedichten und Epen, Romanen und anderem? Primär wohl darin, dass die zentrale Aktivität der Juristerei, ganz wie die des Übersetzers, dem Auslegen von Texten gilt. Weitere nennenswerte Gruppen bildeten Diplomaten, Theaterleute, Sekretäre hoher Herren, Drucker und Verlagsbuchhändler, die manchmal eigene Übersetzungen verlegten12. Die unterschiedlich begründbare Nachbarschaft all dieser sozialen Typen zum Übersetzen muss nicht eigens erläutert werden.
8Erwähnung verdienen rund dreißig Mitglieder von Akademien: in Paris und der französischen Provinz, vor allem aber in Berlin. Gerade letztere nahmen eine absolute Sonderstellung ein. Die Produktivität all jener Akademieangehörigen lag deutlich über dem Durchschnitt ihrer Kollegen. Übersetzen – selbst aus einer lebenden Sprache, der noch das Prestige der italienischen Renaissancekultur fehlte – war also durchaus nicht schädlich für den Ruf von Mitgliedern gelehrter Gesellschaften oder jener, die eine Aufnahme in deren erlauchten Kreis anstrebten. Im Fall Bitaubés etwa wissen wir, dass sein übersetzerisches Werk ihm sowohl die Pforten der Berliner Akademie öffnete als auch seine Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Académie des Inscriptions entschied.
9Fast zwei Drittel aller deutschsprachigen Originale wurden adaptiert durch Übersetzer, denen Auslandsaufenthalte die Kluft zwischen Muttersprache und fremden Idiomen erlebbar gemacht hatten. Mehr als ein Drittel dieser Übertragungen stammte von Urhebern, deren mehr oder weniger gute Kenntnis des deutschen Sprach-und Kulturraums selbst biographische Lexika vermerken. Vertrautheit aus persönlichem Erleben mit dem Herkunftsland der Texte war damit deutlich häufiger als bei Übersetzern aus dem Idiom des britischen Inselreichs. Gleiches gilt für die Produktivität jener Deutschlandkenner. Sie lag um ein Drittel über dem Durchschnitt der Zunft und fast gleich hoch über dem damaliger England-Importeure.
10Prüfen wir kurz ein ehernes Gesetz heutiger Verleger auf seine historische Geltung: dass man nur in die Muttersprache, nicht in die Fremdsprache übersetzen sollte. Offenbar war dieses Dogma noch nicht verkündet. Denn die meisten und produktivsten unter den übersetzenden Kennern des deutschsprachigen Raums waren ebendort geboren13, wenn auch einige zeitweise in Paris lebten. Nur zum kleineren Teil stammten sie aus jenem Hugenotten-Milieu14, über dessen veraltetes Französisch man sich nun in der alten Heimat gern mokierte. Halb so viele, wenn auch weniger aktive Übersetzer hatten den deutschen Sprachraum im Rahmen beruflicher Aktivitäten kennen gelernt15, andere auf Reisen16 oder beim Studium17. Ein halbes Dutzend schließlich entdeckten während der Revolutionsjahre erstmals als Emigranten die östlichen Nachbarn oder kehrten zu ihnen zurück18.
11Über dieser nahe liegenden Frage nach dem Vertrautheitsgrad von Übersetzern mit dem Ursprungsland der Werke sollte man eine zweite nicht vergessen: die nach persönlicher Kenntnis des Ziellands auf Seiten deutscher Originalautoren. Von fünf Dutzend unter ihnen wissen wir, dass sie vor Erscheinen ihrer ersten Übersetzung in Frankreich auftauchten; in einer stattlichen Reihe jener Fälle war Paris zugleich Ziel ihres Aufenthalts und Verlagsort der französischen Fassung ihres Werks. Zu prüfen bleibt, in welchen Fällen nachweisbar oder wahrscheinlich ist, dass ihr Bekanntheitsgrad in Frankreich durch solche Aufenthalte gesteigert und damit der Boden für Übersetzungen bereitet wurde, oder ob sie gar konkrete Kontakte zu dortigen Übersetzern oder Verlagsbuchhändlern knüpften. Dahin deuten Aussagen wie die des Verlegers Henrichs im Vorspann von Mayers Schilderung seiner Italienreise, er habe den Autor getroffen
[…] pendant un dernier séjour qu’il vient de faire à Paris ; séjour qui me sera toujours cher, puisque c’est à lui que je dois l’avantage d’avoir formé une liaison plus intime avec un homme aussi distingué.19
12Und es mag kein Zufall sein, dass der Durchschnitt übersetzter Titel pro Kopf bei jenen landeskundigen Autoren ein gutes Drittel über dem der Gesamtheit liegt.
13Die Übersetzer ihrerseits wirken in ihrer Gesamtheit noch wenig spezialisiert. Fälle wie Bielfeld, Huber, Jansen, Junker oder Bock, die eine zweistellige Zahl von Titeln auf ihr Konto verbuchen konnten, blieben seltene Ausnahmen. Weit über die Hälfte zuweisbarer Übertragungen aus dem Deutschen stammten von Verfassern, denen nur ein einziges Werk oder, weit seltener, ein zweites zugeschrieben werden kann. Eine Übersetzungsgeschichte, die sich einzig auf Vielübersetzer oder Träger berühmter Namen konzentriert, würde also ein sehr verzerrtes Bild der Gesamtproduktion erbringen. Andererseits wurde ein Großteil aller Titel von Leuten verantwortet, die auch aus einer oder mehreren anderen Sprachen übersetzten. Bei Creuzé de Lesser z. B. waren es deren vier, bei Boulanger, Griffet de Labaume oder Roman drei. Selten allerdings formten sich Teams von zwei oder drei Ko-Autoren (mit der daraus zwangsläufig resultierenden Stilmischung). Seltener noch manifestierte sich, unabhängig von der Originalsprache, übergreifendes Sonderinteresse am Herkunftsland deutscher Geistesprodukte: nur in Ausnahmefällen (zu denen etwa Formey, Eidous, Gueudeville gehören) übersetzte man sie sowohl aus dem Lateinischen als auch dem Deutschen.
14Verzichten wir vorerst auf Verfeinerung der Übersetzer-Typologie und wenden wir uns einer anderen Mittler-Instanz zu: dem Verlagswesen. Deutsche Originalausgaben, die Anlass zu einer französischen Version gaben, waren in über fünf Dutzend Städten vor allem des deutschen Sprachraums erschienen, unter denen Leipzig unangefochten Rang eins, Berlin Rang zwei einnahm. Die Übersetzungen ihrerseits verteilten sich auf rund hundert Verlagsorte. 1773 betonte der Provinzverleger Grasset in Lausanne:
Nous nous attacherons surtout à faire traduire en françois de bons ouvrages imprimés en langue allemande, qui sont en très grand nombre ; c’est pourquoi nous prions les savans de l’Allemagne de nous honorer à cet égard de leurs bons et judicieux conseils.20
15Doch erwartungsgemäß war Paris als Verlagsort von Übersetzungen ungleich dominanter als Leipzig bei Originalen. Allein im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts warfen Pariser Verleger mehr als ein halbes Hundert von Titeln deutscher Herkunft auf den Markt. Eine Analyse über den gesamten Untersuchungszeitraum hin lässt allerdings vermuten, dass bei keinem von ihnen eine Konzentration auf Deutschlandimporte anvisiert wurde. Teilten sich doch fast 140 Verlage in gut 200 Titel21. In der übrigen Verlagslandschaft führte, auch bei Übersetzungen, klar und vielleicht überraschend nicht etwa die französische Provinz, sondern ebenfalls der deutschsprachige Raum. Nicht wenige Verlagsorte waren bereits als Zentren für Originalausgaben in Erscheinung getreten – etwa Berlin, wo besonders Mitglieder der dortigen Akademie bevorzugt publizierten. Auf deutsche Städte folgten, mit annähernd gleichen Anteilen, solche der Übergangszonen Niederlande und Welschschweiz. Doch selbst Kopenhagen, Petersburg oder Warschau tauchten vereinzelt auf. Insgesamt wurde von den Übersetzungen aus dem Deutschen ein weit höherer Anteil jenseits der französischen Staatsgrenzen verlegt als von Übertragungen aus alten Sprachen. Grund dafür mag manchmal gewesen sein, dass es um brisante geistige Konterbande ging, deren Publikation im Inland, vor allem dem des Ancien Régime, allzu riskant schien. Das dürfte etwa gelten für die Erörterung religiöser Probleme aus protestantischer oder aufklärerischer Perspektive, für Informationen über die demokratisch verfasste Schweiz, aber auch Basedows Gedanken zur Prinzenerziehung. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass außerfranzösische Verlagsorte ab 1790, also auf dem Höhepunkt der Importwelle, stark an Bedeutung verloren. Ist es doch kein Zufall, wenn sich zuvor namhafte Aufklärer als Importeure rechtsrheinischen Gedankenguts profiliert hatten. Unnötig zu betonen, dass mehr als fünf Dutzend jener teils anrüchigen Titel noch heute in der Bibliothèque Nationale fehlen. Im Ganzen gesehen spielte die geographische Nähe zwischen den Verlegern von Original und Übersetzung keine nennenswerte Rolle.
16Nicht wenige Verlagsprojekte umfassten eine Vielzahl von Bänden. Sie erforderten so größere Investitionen und – fast ausnahmslos ohne die Trumpfkarte vertrauter Autorennamen – beachtliche Risikobereitschaft des Verlegers. Ein Dutzend Titel waren fünf-oder sechsbändig, andere hatten acht oder neun, das Nouveau Théâtre allemand von Friedel und Bonneville gar zwölf Bände. So lagen gelegentlich Versuche nahe, die Publikation der Einzelbände möglichst über mehrere Jahre zu strecken.
Die Angebotspalette
17Was wurde offeriert? Die zu Beginn erwähnten rund 1400, nicht selten anonymen Titel stammen von über 460 deutschen Verfassern. Deren Erfolgsrate lag also im Durchschnitt bei bescheidenen zwei bis drei Titeln pro Kopf. Zu den frühesten Importen aus dem Lateinischen gehörten Heinrich Seuses Oreloge de sapience im 14. Jahrhundert und Sebastian Brants Narrenschiffam Ende des fünfzehnten. Mit Abstand meistübertragener Autor eines lateinischen Originals war, seit Beginn des Grand Siècle, Thomas a Kempis mit seiner Imitatio Christi, die man mehrfach sogar in Verse goss. Unter den Verfassern deutschsprachiger Werke reizte später nicht etwa Goethe das Gros der Übersetzer und Verleger, sondern Kotzebue und das Universaltalent Albrecht von Haller, gefolgt von Gessner und Wieland. Selbst August Gottlieb Meissner, ein längst vergessener Romancier, war im Export erfolgreicher als Schiller. Innerhalb der traditionellen Ordnungskategorien von Buchbeständen gingen belletristische Importe seit dem 18. Jahrhundert in Führung. Vorreiter einer wahren Germanomanie waren in den 1760er Jahren Lyrik und Versepos, ungeachtet der Anforderungen, die gerade Übertragungen in Versform erschweren. Seit den 1780er Jahren wurde die Versdichtung eingeholt und bald überholt von Drama und Erzählliteratur in Prosa. Doch auch nichtbelletristische Titel erreichten eine dreistellige Zahl: Reiseberichte, Abhandlungen vor allem aus den Bereichen von Politik, Geschichte und Zeitgeschichte, aber auch Theologie, Philosophie und Recht, Medizin und Naturwissenschaften. Diese Hunderte und Aberhunderte von Titeln erhärten, wie wenig Weinrichs eingangs zitierte Annahme zutrifft, deutsches Geistesleben sei im Frankreich des 18. Jahrhunderts „kaum wahrgenommen worden“.
18Die Vorreiterrolle der mittelalterlichen Seuse-Übersetzung übrigens war wohl kein Zufall. Sie stand am Beginn eines lange währenden Interesses an deutscher Mystik – angefangen bei Mechthild von Magdeburg, Hildegard von Bingen und Gertrud von Helfta über Tauler und Thomas a Kempis bis hin zu Cusanus und Jakob Böhme – ein Interesse, das nicht zufällig im Jahrhundert des französischen Quietismus seinen Höhepunkt erreichte. Die historischen Wurzeln des späteren Generalverdachts hexagonaler Rationalisten, Deutsche seien anfällig für einen gefährlichen „mysticisme irrationnel“22, reichen also weit hinter die Romantik zurück.
19Eine Frage vor allem verdient genauere Überprüfung, als sie im Rahmen dieses Vortrags machbar ist: Wieweit trug der Zustrom deutschen Gedankenguts dazu bei, den Boden zu bereiten für die politischen, religiösen, sozialen Umwälzungen des revolutionären Dezenniums23? Welche Rolle spielte jenes Gedankengut für geistige wie politische Eliten, denen im revolutionären Vor-und Umfeld besondere Bedeutung zufiel: etwa unter jenen Encyclopädisten, die als ‚ Kerntruppe’der französischen Aufklärung gelten und wesentlich das Klima schufen, welches schließlich zur Eruption führen sollte? Oder die Akteure, die sich danach aktiv im Neuerungsprozess engagierten? Ich habe schon erwähnt, dass die Übersetzungskurve zwar seit den 1740er Jahren steil anstieg, aber gerade vom vorrevolutionären Jahrzehnt bis zum Jahrhundertende ihr Maximum erreichte. Gewiss war bei weitem nicht alles damals Übersetzte von direkter politischer oder gesellschaftlicher Relevanz. Aber es fällt nicht schwer, über zwei Dutzend Titel aufzulisten, die von Haupt-Beiträgern der Encyclopédie übertragen wurden24. Ein weiteres Dutzend Titel stammt von politisch aktiven Revolutionären. Welche Rolle spielten Texte und Textarten, deren Thematik handgreiflichen Einfluss vermuten lässt einerseits auf das Werden der aufklärerischen Ideologie, andererseits auf die politische Umsetzung der neuen Leitgedanken? Es würde zu weit führen, hier eine französische Wirkungsgeschichte der Schriften deutscher Aufklärer wie Kant, Christian Wolffund Reimarus, Lessing, Klopstock und Wieland, Engel, Meiners, Zimmermann und Moser skizzieren zu wollen. Doch auffällig ist gewiss, wenn man die Geschichte der Schweizer Eidgenossenschaft, ihrer alten republikanischen Verfassung und deren Zerschlagung zwischen 1794 und 1802 gleich mehrfach anbot25; wenn man die preußische Armee gerade 1791 vorstellte26, den Esprit du système de guerre moderne 1803, Schombergs Strategie im Portugiesischen Krieg 1807, ein Traité de grande Tactique prussienne 1808. Und nicht weniger auffällig scheint, wenn ein Geschichtswerk zur römischen Dekadenz „aux derniers temps de la République“ gerade 1795 übertragen wurde27.
20Doch beschränken wir uns auf einige kanonische Titel der Schönen Literatur. Welche politisch-ideologischen Auswirkungen hatte Wielands zwischen 1768 und 1799 mehrfach übersetzter Agathon und die Konfrontation seiner Titelfigur mit verschiedenen politischen Systemen, dem zur Despotie entarteten Absolutismus wie den Missständen der Republik? Wie kamen seine Abderiten an, der „umfassendste gesellschaftskritische Roman“ der Aufklärungszeit? Wenn Bonneville, bald glühender Republikaner und Herold der Pressefreiheit, um die Mitte der 1780er Jahre eine Übersetzung von Schillers Jugenddramen und Goethes Götz von Berlichingen herausbrachte, lag deren politische Lesart auf der Hand. Dies gilt natürlich für die französische Fassung der Räuber und das (apokryphe, aber treffende) Motto „in tirannos“ ihrer Zweitfassung. Es gilt für Übertragungen des um Freiheit und Despotismus kreisenden Fiesko, eines mit Tyrannenmord endenden „republikanischen Trauerspiels“; oder der Entlarvung abgrundtiefer Verderbtheit herrschender Eliten in Kabale und Liebe; und schließlich des Don Carlos, mit seinem Gegensatz von despotischem Absolutismus und schwärmerischem Entwurf einer alle Völker beglückenden Menschheitsordnung des Republikaners Posa, seines sprichwörtlich gewordenen Ultimatums „Geben Sie Gedankenfreiheit“. Ähnlich wie Schillers Sympathieträger ist auch Goethes Götz ein glühender Verfechter freiheitlichen Menschentums, Rebell gegen Fürstenmacht und Beschützer der Bedrängten und Unterdrückten. Der Kampf gegen fremde Unterdrücker in Klopstocks Hermannsschlacht, ihre Vaterlandsbegeisterung traf bald danach im Frankreich von 1799 auf offene Ohren, ähnlich wie 1802 Schillers Jeanne d’Arc und ihr Bemühen, die Zwietracht der Nation zu bezwingen, ihr siegreicher vaterländischer Befreiungskampf bis hin zum Opfertod28.
21Aufmerksamkeit weckte übrigens auch die Außensicht der östlichen Nachbarn auf die revolutionären Umbrüche im eigenen Land. Nennen wir nur den Bericht Forsters über seinen Voyage philosophique von 1790 nach Frankreich, eine Übertragung von Meyers Fragmente aus Paris im IVten Jahr der französischen Republik oder Kotzebues Lustspiel Le club des Jacobins29.
Hochgeschwindigkeit und Erfolgsspuren
22Bezogen auf das Gesamt deutscher Autoren und Titel dürfen schon die absoluten Übersetzungszahlen als stolze Erfolgsbilanz gelten, ganz wie der Vergleich mit Anteilen anderer Nationalkulturen am Importvolumen. Die schon erwähnte Modeströmung von Pseudo-Übersetzungen fiktiver deutscher Originale im 18. Jahrhundert ist ein weiteres Indiz für generelle Wertschätzung überrheinischer Produkte. Als Maßstab für den Erfolg bestimmter Einzeltitel können Mehrfach-Übersetzungen dienen, eine dreistellige Zahl von Mehrfachauflagen für den von Einzelversionen. Zu einer Vielzahl solcher Auflagen brachte es die Imitatio Christi etwa in Fassungen von Beauzée und Brignon, oder Gessners La Mort d’Abel in Übertragung Hubers, Campes Nouveau Robinson von Arnex, dann Mme Lafites Mémoires de Mlle de Sternheim der Sophie von La Roche, aber auch Barbeyracs Pufendorf-Übertragung, Gerberons Version von Widenfeld und manch anderer Titel. Doppel- und Dreifach-Übersetzungen waren nicht selten. Goethes Werther oder Kotzebues Misanthropie et repentir brachten es auf mindestens vier, Gessners Mort d’Abel auf sechs Versionen. Nicht selten wurden innerhalb eines Jahres konkurrierende Übersetzungen desselben Titels auf den Markt geworfen. So schon im 16. und 17. Jahrhundert der aus dem Lateinischen übertragenen Heures desrobées des Camerarius30, der République des Suisses von Simler, der Imitatio Christi31; im späten 18. Jahrhundert der Histoire de la guerre de sept ans von Archenholz, der Theaterstücke Le Page von Engel oder Misanthropie et repentir von Kotzebue, der Lebenserinnerungen Friedrich v. Trencks, des Agathon Wielands.
23Auch in weniger eklatanten Fällen ist zeitliche Nähe zwischen den Erscheinungsjahren von Original und Übertragung ein Indikator der Beliebtheit deutscher Importe. Anders als noch im Übersetzungsbetrieb des Grand Siècle stammten inzwischen rund 95% aller aus Deutschland eingeführten Werke aus der jüngsten Vergangenheit, d. h. dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Als Kehrseite solch auffälligen Aktualitätsdrangs schlägt natürlich zu Buch, dass deutsches Geistesgut früherer Zeiten nur in Spurenelementen zum Zuge kam. Andererseits lag vieldutzendfach schon vier, drei oder zwei Jahre nach Erscheinen der deutschen Fassung auch eine französische vor. In über hundertfünfzig Fällen war diese sogar noch im selben oder spätestens folgenden Jahr auf dem Markt – eine Schnelligkeit des Austauschs, auf die man aus heutiger Sicht neidisch werden könnte. Bei einer ganzen Reihe von Werken lassen sich solch prompte Einbürgerungsprozesse übrigens schon seit Einsatz der Übersetzungstätigkeit, im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert belegen32. Eine Massierung unmittelbar übertragener Texte von politischer Aktualität kann man beispielsweise während des Dreißigjährigen Kriegs feststellen. Die Blütezeit von Schnell-Übersetzungen allerdings kam mit dem Übersetzungs-Boom der 1780er Jahre.
24Es bedarf keiner Betonung, was sie bedeuteten für das Postkutschen-Zeitalter, in dem Verlags-Scouts noch nicht erfunden, Auslandsreisen ein oft gefährliches Abenteuer waren; ein Zeitalter, in dem die Lagerhaltung von Buchhändlern höchst bescheiden blieb, in dem Gelehrte oder Literaten die ungemein kostspielige Paketpost mieden, sich mit Neuheiten versorgten durch Bücherpakete, die wochenlang bis zum Bestimmungsort unterwegs waren und nicht selten verloren gingen, man sich folglich oft angewiesen sah auf die Bereitwilligkeit vertrauenswürdiger Bekannter oder Freunde, auf Fernreisen Briefe oder Bücher mitzunehmen33. So verwundert es kaum, wenn ein Übersetzer als Glücksfall vermerkt, der in Paris ansässige Baron d’Holbach sei so freundlich gewesen, ihm sein „original Allemand“ auszuleihen34. Wenig überraschend also, wenn Dutzende jener schnell transferierten Werke von Frankreichkennern stammten, etwa gleich viele durch Übersetzer mit Deutschland-Erfahrung verfertigt wurden. Eine Reihe dieser Mittler, ich nenne nur Arnex und Formey, verantworteten gleich mehrere Titel von höchster Aktualitätsnähe. Wie manche genannten Beispiele bereits andeuten, besaßen die besten Chancen für schnelle Einbürgerung einerseits Beiträge zu Politik und Zeitgeschichte, andererseits Werke der Erzählliteratur. Doch auch Theaterstücke, Reiseberichte, theologische und religiöse oder allgemeinhistorische Titel, Schriften aus den Bereichen Erziehung, Medizin und Naturwissenschaften finden sich unter den Blitz-Importen.
25Der hohe Nachfragedruck des Marktes spiegelt sich seit den 1760er Jahren auch darin, dass nicht wenige Übersetzer innerhalb Jahresfrist mehrere, teils mehrbändige Titel aus dem Deutschen übertrugen. So brachte es Madame de Montolieu einmal auf zehn, Griffet de Labaume auf sechs Bände pro Jahr – Leistungen, auf die bei all ihren modernen Hilfsmitteln selbst heutige Berufsübersetzer recht stolz sein könnten. Eidous wurde von Grimm vorgeworfen: „je crois qu’il ne lui faut que quinze jours pour traduire un volume“35. Charles de Villers bat ausdrücklich um Nachsicht für Stilmängel in einem Fall von besonders hohem Termindruck: Zur Herstellung eines Originalmanuskripts von fast 550 Seiten, seine anschließende Übersetzung und Reinschrift sei insgesamt nicht mehr Zeit verfügbar gewesen als „les quatre mois de novembre, de décembre, janvier et février“36.
Aufbereitungstechniken
26Unnötig zu betonen, dass auf dem Nährboden überhitzter Konjunktur, vor allem in den belletristischen Grundgattungen, Spielarten der „traduction libre“ und überbietenden „imitation“, einer oft kavaliersmäßigen Anpassung an den eigenen Nationalgeschmack prächtig gediehen. Diese Praxis der „belles infidèles“ war bekanntlich schon im Grand Siècle verbreitet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde Freiheit der Übertragung schon vom Titelblatt in einem halben Hundert von Fällen apodiktisch als Qualitätsmerkmal gepriesen. Neben den erwähnten Faktoren trieb nun ein Anspruch, den kein früheres Zeitalter anzumelden gewagt hätte, das Selbstbewusstsein der französischen Übersetzerzunft auf einen unüberbietbaren Gipfelpunkt. Dafür steht beispielhaft Seigneux de Correvon, wenn er 1772 anlässlich seiner Haller-Übersetzung betont:
Heureusement la langue française est devenue presque universelle, en sorte qu’un ouvrage rendu en français se trouve à l’usage de l’Europe entière, & pour ainsi dire de tous les hommes.
27Eine eigene Studie wert wäre jenes oft burschikose Umspringen mit Originaltiteln, das nicht selten sogar eine Identifizierung des Originals unmöglich macht. Bekanntlich besitzt gerade der Titel insofern Schlüsselfunktion, als er das erste Interesse des anvisierten Publikums wecken und fixieren soll. Begnügen wir uns mit wenigen Beispielen. Wie verschob sich die Lesereinstellung dadurch, dass Die Leiden des jungen Werthers im Vorgriffals passions oder délire de l’amour gewertet wurden oder Charlotte zur gleichrangigen Titelfigur avancierte? Dass man Schillers Räuber euphemistisch zu voleurs verniedlichte? Dass Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück sich pedantisch erklärend als Les Amants généreux präsentierte?
28Doch je felsenfester der Glaube an konkurrenzlose Überlegenheit der einheimischen Sprache und Kultur und im gleichen Zuge an die eigene Autonomie beim Umgestalten wurde, desto mehr waren die Übersetzer zum Spagat genötigt, wollten sie ihre Verdienste ins rechte Licht rücken. Einerseits mussten sie den Ausnahmerang ihres Autors oder Originaltextes, wenn nicht der gesamten deutschen Literatur betonen. Darin waren sie seit langem geübt, hatte doch die Werbung für gedruckte Importwaren, von Anbeginn bis zur Ära der Europe française, fast ausschließlich in ihren Händen gelegen. Andererseits zwang sie ihr Eigeninteresse, diese als Halbfertigprodukte mit starken Mängeln hinzustellen, die nach Veredelung riefen, sollten sie dem subtilen „goût général de la Nation Françoise“37 genügen. Für beides sind übersetzerische Vorworte und Widmungsbriefe der Epoche ein beredtes Zeugnis. Zum einen verkünden sie: „l’Allemagne a succédé à la gloire de l’Italie“ und sei nun zur Heimstatt der Musen geworden; sie rühmen superlativisch die in Deutschland entdeckten „trésors“, deren „idées nouvelles“ und erhabenen Gedanken oder „vues élevées“. Sie preisen den fremden Autor als „le plus sublime“ unter einer „foule de bons écrivains & de grands poëtes“ seiner Nation, das Werk als einmalig, als bestes seiner Gattung oder gar Muster eines „genre nouveau“. Zum andern tadeln sie Wiederholungen und die „prolixité“ des Originals, lächerliche „digressions“ und triviale „réflexions“, Gemeinplätze und „termes […] bas & […] révoltans“. Derart heben sie die zivilisatorische Leistung ihrer oft starken Kürzungen, Ergänzungen, Glättungen von Originalen ins Licht, die sie als ungeschliffene Edelsteine präsentieren. Stellvertretend für viele seiner Kollegen sei Maydieu zitiert. Er vermerkt selbstgefällig, eigentlich schulde der Autor ihm großen Dank dafür, sein Produkt befreit zu haben „de tous les vices qui défigurent l’original“. Und Madame Lafite behauptete gar, Wieland habe sie ausdrücklich gebeten, den Text eines Romans frei zu übersetzen „pour remédier aux défauts“38.
Epilog
29Vieles bleibt zu tun. Die bibliographische wie biographische Basis übersetzungshistorischer Forschung bedarf dringend der Ergänzung, ihre Analyse vielfältiger Differenzierung. Eine Reihe von Einzelbeobachtungen führt zu Arbeitshypothesen genereller Art: Der Elsässer La Martellière, späterer Übersetzer der Räuber, war ein ehemaliger Schulkamerad Schillers. Meister erwähnt, Gessner habe ein Übersetzungsprojekt besprochen mit Diderot und anderen „amis qu’il a à Paris“ und schließlich die Ausgabe selbst überwacht39. Büschings Übersetzer vermerkt im Vorspann, der Autor selbst habe ihm Korrekturen übermittelt, die er an der letzten Auflage des Originals angebracht habe. Ein schon erwähnter Verleger schließlich betont, die französische Fassung sei unter Leitung des Autors entstanden40. Wie häufig war schon damals, trotz aller zeittypischen Kommunikationsprobleme, solch direkter persönlicher Kontakt oder gar die Zusammenarbeit zwischen Autor und Übersetzer, Autor und Verleger? Hier wäre eine umfassende Auswertung aller Paratexte von hohem Wert. Sie erweisen sich als Auskunftsquelle nicht nur für das Selbstverständnis der Mittler, ihr Bild vom Originalautor und seinem Werk wie der deutschen Literatur und Wissenschaft, sondern für das gesamte literarische Feld ihrer Zeit. Weitere Fragen: Welche Übersetzungen wurden in weniger bekannten Zeitschriften veröffentlicht als dem vielbeackerten Mercure? Wo dienten lateinische Fassungen als Bindeglied zwischen deutschem Original und französischer Version? Wo war das Deutsche Zwischenstation für Originalwerke aus skandinavischen und anderen Sprachen41?
30Systematisch zu erforschen wären vor allem sich abzeichnende Vernetzungen zwischen mancherlei Datenkategorien. Begnügen wir uns auch hier mit wenigen Beispielen: Welche Affinitäten sind nachweisbar zwischen Stand, Beruf, Konfession, Ordenszugehörigkeit der Autoren einerseits, ihrer Übersetzer andererseits sowie der Thematik von diesen übertragener Werke? Welche räumliche Nähe besteht zwischen Aufenthaltsort von Autor und Übersetzer? Allein für die französische Provinz und den außerfranzösischen Raum springt ein solcher Konnex schon jetzt in über hundert Fällen ins Auge. Wie oft sind Wohnort des Autors oder Übersetzers und Verlagsort der Übersetzung identisch? Freizulegen wäre schließlich eine erste Tiefenschicht der Rezeption: Wer waren die Käufer – und damit potentiellen Leser – aus dem Deutschen übertragener Werke? Anhaltspunkte hierfür geben Wappenprägungen der Aristokratie auf dem Einband erhaltener Exemplare42 oder Ex-libris, vor allem aber nach Hunderten zählende Nachlaß-Inventare und Verkaufskataloge alter Privatbibliotheken.
31Wir sehen, selbst für die vorromantische Zeit besteht akuter ForForschungsbedarf: im Rahmen einer ganzen Tagungsreihe, besser noch einer deutsch-französischen Forschergruppe oder eines binationalen Graduiertenkollegs. Deren Ergebnisse könnten nicht zuletzt mithelfen, dass übersetzerische Verdienste, ebenso wie die Erhellung von Theorien und Geschichte des Literaturtransfers, künftig innerhalb akademischer Karrieren so gewürdigt werden, wie sie dies im oft beschworenen Zeitalter interkultureller Kommunikation verdienen. Wie sagen doch die Politiker so gerne? Packen wir’s an!
Notes de bas de page
1 Harald Weinrich, Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens, München, Beck, 2004, S. 130.
2 Cramer, Kotzebue, Malvida von Meysenburg, den „filles Polier“, Friedrich II. und den im Folgenden Genannten.
3 Die Masse des Dokumentierten lässt Einzelbelege nur im Ausnahmefall zu. Doch über den Namen von Übersetzer und/oder Autor lassen sich solche Belege in den in Anm. 4 aufgeführten bibliographischen Quellen meist leicht erschließen.
4 Basis meiner Enquete war eine systematische Auswertung von sieben Bänden der Epochen-Bibliographien Alexandre Cioranescus: Bibliographie de la littérature française du xvie siècle, Paris, Klincksieck, 1959, - du xviie siècle, Paris, Éd. du CNRS, 1966-1969 ; - du xviiie siècle, Paris, Éd. du CNRS, 1969. Als Ergänzung herangezogen wurde (für Bestände der BnF und den Zeitraum 1487 bis 1789): Liselotte Biehl/Karl Epting, Bibliographie französischer Übersetzungen aus dem Deutschen, Tübingen, Niemeyer, 1987, erweitert durch Funde in diversen anderen Repertorien.
5 Nach Seuses Oreloge de sapience (1389) mit mehreren Übertragungen ab den 1480er Jahren.
6 Nennen wir (in chronologischer Folge) nur einige mit Sicherheit „entlarvte“Autoren solcher Pseudo-Übersetzungen der zweiten Jahrhunderthälfte: Le Guay de Prémonval, Voltaire, Rabelleau, Thorel de Champigneulles, Bauvin, Cuinet-Dorbeil, Colleville, Rauquil-Lieutaud, Grouvelle, Montjay, Delisle de Sales, Robineau de Beaunoir.
7 Erschlossen wurden sie für 250 Übersetzer.
8 Genauer: bei Übersetzern aus dem Lateinischen 44,4 Jahre, bei Übersetzern aus dem Deutschen 41,2 Jahre.
9 Nachweise in F. Nies, „Geschäft des Königs, Dichters, Hungerleiders“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF Bd. 33, 2003, S. 307.
10 So Cramer oder die Damen Polier, Montolieu, Cerenville (vgl. dazu die Beiträge in diesem Band).
11 Von Brühl, La Verne und Saint-Hilaire etwa ist gesichert, dass sie an solchen Feldzügen teilnahmen.
12 Etwa Cramer, Doray de Longgrais, Cherbuliez.
13 Etwa Abbt, Arnex, Beausobre, Bielfeld, Bilderbeck, Brühl, Mme de Cerenville, Clausier, Collin, Cramer, Dezèles, Elisabeth Christine, Faesch, Formey, Friedel, Garve, Goertz, Holbach, Huber, Junker, Kilg, Kolbe, Mauvillon, Mechel, Meister, Merian, Moulines, Pohle, Reichel, Tscharner. Aus dem Elsass stammten Bilderbeck, Pfeffel und La Martellière. Auf Herkunft aus dem deutschen Sprachraum lässt auch die Namensform einer langen Reihe vorerst noch unidentifizierter Übersetzer schließen (Binninger, Böhm, Frieswinkel, Harrepeter, Hedelhofer, Hess, Isenflamm, König, Leveling, Refner, Reinfner, Schreiber, Schwab, Schwan, Treuchses, Wagner, Walther, Weiller, Weiss, Weltzin, Wynmann, Zimmermann, Zubrodt). Zum Folgenden: In Paris lebten zeitweise etwa Brühl, Mme de Cerenville, Cramer, Friedel, Holbach, Huber, Mechel, Meister, La Martellière, Raspe.
14 Etwa Barbeyrac, Formey, Larrey, Mme Polier, Reclam, Mme de Staël.
15 Etwa Barbé-Marbois, Boaton, Bourgoing, Bursay, Eberts, Gasc, Jourdan, Laveaux, Le Guay de Prémonval, Prince de Ligne, Luchet, Pajon, Pernetty, Mme Polier, Reclam, Rochon de Chabannes, Rougemont, Saint-Martin, Toussaint.
16 Etwa Bock, Cacault, Diderot, Duvau, Mallet, Roman, Mme de Staël, Turgot, Ussieux.
17 Etwa Bonivard, Bourgoing, Gerhardt, La Martellière, Lezay-Mernézia, Rayneval, Tranchant de Laverne.
18 Etwa Bock, Dumouriez, Duvau, La Verne, Maydieu, Tranchant de Laverne, Vanderbourg, Villers.
19 Voyage en Italie in Übersetzung Vanderbourgs (1801).
20 Avis de l’éditeur zu : Johann Hermann Riedesel, Voyage en Sicile et dans la Grande Grèce, in : Übersetzung von Frey des Landres, S. XI.
21 Einzig Jolly (1659) und Durand mit je 6 Titeln (1746-1753) und Vincent mit neun (1724-1771) setzten gewisse Schwerpunkte.
22 Siehe André Monchoux, L’Allemagne devant les lettres françaises de 1814 à 1835, Toulouse/Paris, 1953, S. 292-230, 297.
23 Detailliertes Eingehen auf diesen Problemkomplex und Einzelnachweise siehe F. Nies, „Schöngeister und Brandstifter“, in: Landes-und Reichsgeschichte. Fs. für Hansgeorg Molitor, hg. J. Engelbrecht und St. Laux, Bielefeld, Verlag für Regionalgeschichte 2004, S. 303-10.
24 Diderot, Eidous, Formey, Holbach, Mallet, Toussaint. Aus dem Deutschen übersetzte von den übrigen Encyclopédistes auch Lézay-Marnésia.
25 Etwa Zschokke in der Fassung Briattes, Johann von Müller in Übertragungen Griffet de Labaumes und Mallets.
26 Archenholz in der Fassung Bocks. – Folgende Beispiele: Bülow in Fassung La Vernes, Hagner in Fassung von Dumouriez.
27 Meiners in Fassung Binets.
28 Beide in Übertragung von Cramer.
29 In Übertragungen von Pougens, Dumouriez, Mme Polier.
30 Übersetzungen von Goulart und Rosset 1610. – Folgender Titel: Übersetzungen von Gentillet und Goulart 1579.
31 Übersetzungen von Hobier und Chiflet 1644.
32 Allein im 16. Jh. für Übersetzungen von Brant, Camerarius, Cochläus, Eisengrein, Erasmus, Hutten, Lindanus, Paracelsus, Sleidanus, Toussain.
33 Zu Details dieses « rouage tout matériel, mais nécessaire au bon fonctionnement de la République des Lettres » im 17. Jh. siehe etwa Jean Chapelain, Les lettres authentiques à Nicolas Heinsius, hg. Bernard Bray, Paris, Champion, 2005, Introduction et passim.
34 Eidous 1769 im Vorwort seiner Fassung von Lomonosovs Histoire de la Russie, p. XI.
35 Nach A. & S. L. Kafker, The Encyclopedists as individuals: a biographical dictionary of the authors of the Encyclopédie, Oxford, Voltaire Foundation, 1988, S. 128.
36 Vorwort der Übersetzung von Heerens Essai sur l’influence des croisades, Paris, Treuttel et Würtz, 1808, p. XVII.
37 Barbeau de la Bruyère 1757. Zum Folgenden vgl. Paratexte von Vaslet 1723, Holbach 1752, Aubert de la Chesnaye des Bois 1754, Roman 1762, Bourgoing 1768-1779, Maydieu 1781, Villers 1808 u. a.
38 Widmungsbrief zu Sophie de La Roches Mémoires de Mademoiselle de Sternheim, S. XI.
39 Préface zu Contes moraux et nouvelles idylles de D… et Salomon Gessner (1773).
40 Bourgoing im Avertissement zur Géographie universelle (1768); Henrichs im Vorspann von Meyers Voyage en Italie in Übersetzung Vanderbourgs (1801).
41 Holbach, Eidous, Rousselot de Surgy beispielsweise übertrugen nach deutschen Zwischenfassungen schwedischer und dänischer Originale (von Walerius, Hasselquist, Kalm, Horrebow). Deutsche Traductions-Relais dienten auch zur Einbürgerung russischer und englischer Originale.
42 So enthalten die Bestände der BnF ein reichliches Halbdutzend von Übertragungen überwiegend belletristischer Werke der 1780er Jahre mit dem Wappen Marie Antoinettes, aber auch Besitzvermerke anderer Aristokraten.
Notes de fin
* Es sei hier hingewiesen auf folgendes von Fritz Nies nach der Tagung, auf die der vorliegende Band zurückgeht, veröffentlichtes Buch zur Geschichte der Übersetzung ins Französische : Schnittpunkt Frankreich. Ein Jahrtausend Übersetzen, Tübingen, Gunter Narr, 2009.
Auteur
Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
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