Sprache als Fremdkörper. Yoko Tawadas Poetik der Übersetzung
La langue, corps étranger. La poétique de la traduction selon Yoko Tawada
p. 383-407
Résumés
La poétique de Yoko Tawada est une poétique de la traduction et de la transformation. Les lettres, observées comme des objets-choses, sont souvent, par la description, transformées en êtres vivants ; de manière complémentaire, les choses et les structures sont considérées comme des lettres et des textes : parties du corps, physionomies, paysages, animaux et objets d’usage quotidien. La perception apparaît ainsi elle-même comme un acte de lecture et elle est présentée comme processus de traduction de l’objet vers la langue. Le Je qui lit est constamment confronté à des « langues » étrangères et hétérogènes. De façon complémentaire, l’audition de langues étrangères ou la lecture de textes en langues étrangères possèdent une composante concrète et sensuelle, souvent d’ordre « physionomique ». L’intérêt poético-poétologique de Tawada pour la « littéralité » de certains phénomènes et les qualités physionomiques et gestuelles des signes graphiques peut être rapporté à diverses sources extérieures. Une voie conduit à Walter Benjamin, une autre vers le lettrisme ; ces deux voies conduisent, directement ou indirectement, à travers un territoire « français ». Une troisième conduit directement en France – jusqu’à Roland Barthes, dans « l’empire des signes ».
Yoko Tawadas Poetik ist eine Poetik des Übersetzens und der Transformation. Buchstaben werden als dingliche Objekte beobachtet und beschreibend oft in lebendige Wesen verwandelt; komplementär dazu werden Dinge und Strukturen als Buchstaben und Texte betrachtet: Körperteile, Physiognomien, Landschaften, Tiere und Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs. Wahrnehmung selbst erscheint insofern als ein Lesevorgang, ihre Thematisierung als ein Übersetzungprozeß vom Gegenständlichen ins Sprachliche. Das lesende Ich ist ständig mit fremden und heterogenen „ Sprachen“konfrontiert. Komplementär dazu hat das Hören von Fremdsprachen oder das Lesen fremdsprachiger Texte eine konkret-sinnliche, oft „ physiognomische“Komponente. Tawadas poetisch-poetologische Auseinandersetzung mit der „ Buchstäblichkeit“von Phänomenen und mit der physiognomisch-gestischen Qualität von Schriftzeichen geht auf verschiedene Anregungen zurück. Eine Spur führt zu Walter Benjamin, eine weitere ins Umfeld der lettristischen Kunst; beide Spuren führen direkt oder indirekt auch über „ französisches“Territorium. Eine dritte führt direkt nach Frankreich – zu Roland Barthes, ins „ Reich der Zeichen“.
Texte intégral
1Begünstigt ein Wechsel des geographischen Raumes die Wahrnehmung des „ Fremden?“, so lautet eine dem Symposium vorangestellte Frage aus dem „ Call for Papers“. Die Erörterung dieser Frage soll schwerpunktmäßig anläßlich von Beziehungen zwischen deutsch-und französischsprachigen Räumen Europas erfolgen, wie es dort ebenfalls heißt. Nun könnte es auf den ersten Blick verwundern, in diesem Kontext Werke einer japanischen Schriftstellerin vorgestellt zu bekommen, die zwar in deutscher, nicht aber in französischer Sprache schreibt und weder selbst Übersetzungen aus dem Französischen verfaßt noch ihre eigenen Texte mit Blick auf solche Übersetzungen geschrieben hat. Wenn Yoko Tawada – immerhin mittlerweile mehrfach ins Französische übersetzt (aber das ist nicht mein Thema) – dennoch vorgestellt werden soll, so aus folgenden Gründen: Passend zu der grundsätzlichen Frage, ob ein Wechsel des geographischen Raumes die Wahrnehmung des Fremden begünstige, findet sich gerade in ihrem Œuvre eine Vielzahl von Beobachtungen, Beschreibungen und Reflexionen. Und die Beziehung zwischen dem deutschen und dem französischen Sprachraum hat immerhin für einen Text Tawadas handlungstragende Bedeutung: für die 2004 erschienene längere Erzählung Das nackte Auge1. Von dieser Erzählung her lassen sich zentrale Themen Tawadas erschließen. Denn hier verknüpfen sich Reflexionen über Sprache, Selbstwahrnehmung und erfahrene Wirklichkeit im Zeichen der Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit, zwischen Wörterwelten, Körperwelten und kulturellen Räumen übersetzend zu vermitteln.
2Yoko Tawada, die seit 1979 vorwiegend in Deutschland lebt und arbeitet, publiziert sowohl in ihrer japanischen Muttersprache als auch in Deutsch. Ihr Werk ist sowohl inhaltlich als auch strukturell durch die Erfahrung differenter Kulturen und Sprachräume sowie den häufigen Ortswechsel zwischen ihnen geprägt; neben Japan und Deutschland reflektiert Tawada in Erzählungen, Essays und Reiseberichten auch Lebens-, Artikulations-und Kommunikationsformen, die sie in weiteren europäischen Ländern, in den USA und in Südafrika beobachtet hat. Eine Schlüsselrolle spielen dabei stets die sprachlichen Entdeckungen und Fundstücke, die Erfahrungen mit der Sprachkultur des besuchten Landes, mit den Beziehungen zwischen Wortschatz, Ausdrucksweisen, Redensarten, Denkhaltungen und Lebensformen. Ins Zentrum vieler Texte rücken insbesondere sinnlich-körperliche Erfahrungen mit SprachSprachlichem: mit Rede und Schrift, mit Stimmen und Lettern, mit Geschriebenem und Gedrucktem. Über die Wahrnehmung von Sprache als physische Realität artikuliert sich das Befremden im Umgang mit Sprache, wie es vor allem von der Konfrontation mit fremden Sprachen, Schriftsystemen und deren jeweiliger kultureller Kontextualisierung ausgelöst wird. Aber auch die eigene Sprache und Schrift wird in der Gegenüberstellung mit anderen unvertraut, sperrig, oft rätselhaft. Tawadas Poetik ist durch die Leitidee von der Sprache als einem Fremdkörper geprägt, die zum Fokus komplexer Erfahrungen des Befremdens in der Welt wird. Unter diesem Vorzeichen gewinnen Prozesse der Orientierung im fremden Sprachraum programmatische Bedeutung – vor allem unterschiedliche Spielformen des (oft tentativen und bewußt subjektiven) Übersetzens.
3Das nackte Auge ist die fiktive autobiographische Erzählung einer jungen Frau aus Vietnam, die nach Europa reist: in einen fremden kulturellen Raum, dessen verschiedene Sprachen sie mit einer Ausnahme nicht versteht und die ihr auch während ihres langjährigen Aufenthalts fremd bleiben, obwohl sie sich ihnen annähert. Die erwähnte Ausnahme betrifft das Russische, das die Erzählerin vor dem Verlassen ihres Heimatlandes immerhin gelernt hat, das für ihr Leben in Europa aber insofern keine tragende Rolle spielt, als sie sich im russischen Sprachraum nicht aufhält. Ihr Leben spielt sich in Deutschland und in Frankreich ab, und seine Geschichte ist die eines durchgängigen Befremdens, das von der Beobachtung fremder Kulturen und Sprachen ausgelöst wird, dabei aber über diese hinaus auf die Befremdlichkeit des Lebens unter Menschen, die Befremdlichkeit des eigenen Körpers, der eigenen Sinneswahrnehmungen und des eigenen Ichs verweist2. Frankreich ist aber nicht einfach eine „ fremde Welt“, sondern auch ein Anlaß, auf die Relativität der Differenzierung zwischen Heimat und Fremde hinzuweisen. Wenn Tawada mit der Dichotomie von Vertrautem und Fremdem operiert, wie es oftmals geschieht, so in einer dekonstruktivistischen Weise, die auf die Unterminierung dieser Dichotomie hinausläuft. Wie das Fremde eigentümlich vertraut anmuten kann, erweist sich das scheinbar Heimatliche immer wieder als fremd. Die Erzählerin in Das nackte Auge interpretiert das Fremde – Frankreich – beispielsweise als Heimatliches, indem sie naiv auf die Geschichte der Beziehungen Vietnams und Frankreichs anspielt; zwischen den Zeilen ihrer naiv-verfremdenden Darstellung dieser Beziehungen zeichnet sich unausgesprochen die Erinnerung an den Kolonialismus ab – ein Hinweis darauf, welche Gründe es haben kann, wenn man Fremdsprachen wie das Französische beherrscht.
Auch Frankreich musste irgendwo liegen. Das war ein Land, das eine Zeitlang bei uns zu Gast gewesen war und deshalb im Geschichtsunterricht behandelt wurde. Meine Urgroßeltern mütterlicherseits konnten angeblich französisch sprechen, und meine Mutter und einige meiner Schulfreundinnen hatten eine diffuse Sehnsucht nach diesem Land.3
4Alle Stationen des Pariser Lebens der Erzählerin stehen im Zeichen problematischer Verständigungsversuche und unvermeidbarer MißverMißverständnisse; dies gilt auch für das durch einen französischen Freund vermittelte Zusammenleben mit ihrem Landsmann Tuong Linh, den sie nach einiger Zeit ebenfalls wieder verläßt. Zeitweilig dem Alkoholismus verfallen, treibt es die Protagonistin haltlos durch Paris. Jörg aus Bochum hat sie, wie sich schließlich herausstellt, während ihrer in Frankreich verbrachten Jahre gesucht; mithilfe einer Bibliotheksangestellten namens Frau Finder findet er sie auch und möchte sie mit zurück nach Deutschland nehmen. Ob es dazu kommt, bleibt offen, denn der Realitätsbezug der Erzählerin hat im Laufe der erzählerisch protokollierten Zeit einen Charakter angenommen, der keine klare Aussage mehr darüber zuläßt, wo sie sich befindet. Die Ursache für diese Verfassung (die Realitätsverlust heißen dürfte, wenn es denn in der Welt der Erzählerin eine Realität gäbe, die man verlieren könnte) liegt in ihrer Faszination durch das Kino, in dessen Bilderwelt sie in Paris eintaucht und in dem sie soviel Zeit verbringt, wie es sich eben einrichten läßt. Genauer gesagt, geht die Faszinationskraft des Kinos von einer Schauspielerin aus, deren Filme die Erzählerin sich so oft wie möglich anschaut und in deren Filmwelt sie so eintaucht, daß es für sie keine Differenz mehr zwischen erlebter und filmisch dargestellter Welt, zwischen wirklichen und gespielten Charakteren gibt: Die heimliche Heldin von Tawadas Buch ist Catherine Deneuve4. An sie ist der fiktiv-autobiographische Erzählerinnenbericht adressiert. Die Berichte der Erzählerin über ihr eigenes Leben werden jeweils durchflochten von Berichten über und Anspielungen auf Filme mit Deneuve, wobei diese dann als die jeweilige Rollenfigur angesprochen und beschrieben wird. Vordergründig könnte man auf die Idee kommen, die Bedeutung, die das Besuchen von Kinos – oder eher noch: das Leben in Kinos – für die Protagonistin gewinnt, psychologisch mit ihrer Lebenssituation als entwurzelte Fremde in einem ihr unbekannten Sprach-und Lebensraum zu erklären: So spärlich und fragil ihre Bindungen an reale Menschen sind, so eng ist ihre Bindung an die Frau auf der Leinwand; so indifferent sich die Erzählerin gegenüber den wechselnden Szenarien ihres Lebens verhält, dessen Rahmenbedingungen und Spielregeln sie als Fremde nicht oder wenig oder auch falsch versteht, so intensiv taucht sie in die Bilderwelt der Deneuve-Filme ein, die sie als Bilder so nachhaltig affizieren, daß sie selbst zum Auge wird. Gegen die Deutung des Kinos als ersehnte bergende Gegenwelt zur kulturellen und sprachlichen Fremde von Paris, also im Sinne einer schlichten Kompensationstheorie, spricht aber vor allem eins: Die Deneuve-Filme sind französische Filme. Daher ist die Kinobesucherin allein auf die Sprache der Bilder verwiesen, wenn sie verstehen will, was da jeweils gespielt wird.
5Neben kulturellen Differenzen steht die Dichotomie zwischen der Sprache der Bilder und den verbalen Sprachen im thematischen Zentrum des Romans. Die Konkurrenz zwischen Sprache und Bild wird in mehrerlei Hinsicht handlungstragend: Sie ist ablesbar daran, daß sich die Erzählerin dem sprachlichen Austausch mit ihrer sozialen Umwelt in eben dem Maß verweigert, in dem sie in die Filmwelt um Deneuve eintaucht, und sie wird dadurch unterstrichen, daß ihre der Kino-Versessenheit gegenläufigen Versuche, in Paris im bürgerlich-praktischen Sinn Fuß zu fassen, stets mit dem Plan verbunden sind, systematisch Französisch zu lernen. Dazu kommt es im Lauf der erzählten Geschichte aber nicht. Ihre Leidenschaft für das Kino erscheint nicht zuletzt dadurch motiviert, daß der Film neben der Wortsprache andere Sprachen verwendet: die Körpersprache vor allem. In Catherine Deneuve personifiziert, wird die Gebärdensprache der Wortsprache pointiert gegenübergestellt (über die von Deneuve dargestellte Tristana heißt es, daß diese „ ihre eigene Gebärdensprache hatte und daher auch ohne ihre Zunge kommunizieren konnte“5) – was allerdings nicht bedeutet, daß die erstere unmittelbar verständlich wäre. Im Gegenteil scheint die Vietnamesin wiederum eher vom Verrätselten und Vieldeutigen angezogen zu werden.
6Das Komplementaritäts-aber auch Rivalitätsverhältnis zwischen der Wortsprache (in Frankreich einer fremden, der Hauptfigur kaum verständlichen Sprache) und der Bildersprache, die sie fasziniert, ist ein Leitthema der Erzählung. Mit einem Freund, Charles, kommuniziert sie in rudimentärer Weise mittels eines Kinoprogramms6. Allerdings verwendet die Erzählerin gerade die Filmzeitschrift Écran, von der sie einzelne Nummern besitzt, als Sprachlehrbuch7. Wort für Wort tastet sie sich an das heran, was die Texte der Zeitschrift zu den Bildern zu sagen haben. Der Erzählerbericht gibt als simulierte Interlinearversion des Gelesenen einen plastischen Eindruck von dieser tastenden Übersetzungsarbeit auf fremdsprachlichem Gelände; der Leser sollte sich dabei übrigens bewußt machen, daß der Text Tawadas wiederum in einer anderen als der Ausgangs-und der Zielsprache verfaßt ist: Wir lesen in deutscher Sprache, wie sich eine Vietnamesin einen französischen Text Wort für Wort in ein ihr verständliches Idiom erschließt, aber wir hören bzw. lesen dieses Idiom als solches ja ebensowenig wie das französische Original selbst. An die Stelle konventioneller Decodierung tritt die Aufmerksamkeit auf sinnlich-konkrete Darbietungsformen, auf die physische Gestalt gedruckter Wörter8.
7Immer wieder wird Sprache, vor allem in geschriebener Form, bei Tawada als bildhaft wahrgenommen; gerade fremdsprachige Texte besitzen eine oft aufdringliche Sichtbarkeit. „ In einem fernen Land sah die eigene Handschrift unglaubwürdig aus“, so die Erzählerin, als sie in Ostberlin ihr russisches Redemanuskript nochmals durchgeht9. Aber auch gesprochene Wörter werden als konkrete, sichtbare Gegenstände erfahren. In Bochum registriert die Erzählerin: „ Die deutsche Sprache klang so, wie sie aus dem Mund von Anna herauskam, plastisch und bunt. Beim Zuhören hatte ich das Gefühl, durch hügelige Landschaften spazieren zu gehen“10. Der körperlich-plastische Effekt von Fremdsprachen motiviert die Situierung des größten Teils der Handlung von Das nackte Auge in Frankreich, im französischen Sprachraum. Das Erzählerinnen-Ich denkt zwar gelegentlich an Vietnam und die eigene Familie, aber es strebt nicht „ heim“, sondern tendiert eher dazu, sich selbst durch Assimilation an immer neue Situationen und Kontexte in eine Gestalt aufzulösen, die nur als dauernd „ übersetzte“existiert. Entsprechend entfremdet es sich der eigenen Muttersprache, aber nicht, um desto besser französisch zu sprechen, sondern weil die Konfrontation mit der Fremdheit dieser Sprache die Selbstauflösung erleichtert.
8Tawada versteht ihren eigenen Angaben zufolge das Französische nicht. Freilich: Was heißt schon „ eine Sprache verstehen“? Um diese Frage kreist ein Text, in dem es auch ums Französische geht: Musik der Buchstaben aus dem Band mit dem sprachspielerisch-mehrdeutigen Titel Überseezungen11. Der Anblick eines französischen Textes – eines Gedichtes von Véronique Vassiliou – löst Befremden und damit Reflexionen aus: nicht nur über die unterschiedliche Wahrnehmung von vertrauten und unvertrauten Sprachen, sondern auch über Differenzen zwischen Sprach-Familien wie der europäischen und der ostasiatischen. In letzteren hält die ideogrammatische Schrift zusammen, was in ersterer als Folge der Buchstabenschrift auseinanderfällt12. Völlig unverständliche Wörter sind zunächst wie klare Glasscheiben; sie färben den Blick nicht ein, entziehen sich selbst aber auch dem Erblicktwerden13. Doch Tawada will sehen, was sie liest, und so schaut sie den Wörtern ins Gesicht – und entdeckt, daß ihr manche Gesichter trügerisch vertraut vorkommen, weil sie Wörtern im Deutschen (einer Sprache, die sie kennt) ähnlich sehen. Das (französische) „ du“[dy:] wird zum deutschen „ du“(erste Verwandlung) – dieses gleicht einem „ Du“, einem Gegenüber (zweite Verwandlung) – einem Reisenden von Land zu Land – und damit sind die Zeichen wieder einmal anthropomorph (dritte Verwandlung). Daß das „ d “aussieht, als hebe jemand die Hand, paßt ins Bild14. Erneut werden die Buchstaben in ihrer visuellen Qualität als Bilder von Dingen wahrgenommen. Die Erzählerin, die das Französische nicht beherrscht, entwickelt hier Strategien einer hypothetischen Übersetzung des Unlesbaren ins Lesbare – durch Vergleiche, Analogiebildungen und Kontextualisierungen, in denen sich grundsätzliche Formen der Orientierung in der fremden Kultur und der Auseinandersetzung mit dem Befremdlichen spiegeln. Ein modellhafter „ Übersetzungs“-Vorgang wird nacherzählt: ein Entlangtasten an Buchstaben, die eine Physiognomie besitzen. Nicht nur das „ du“blickt die Erzählerin mit scheinbarer Vertrautheit an, auch das „ Gesicht“des Wortes „ blanc“hat sie schon einmal gesehen: in einem Schreibwarengeschäft, wo offenbar Artikel der Marke „ Montblanc“angeboten wurden; das Wort „ bleu“ist überdies ein Bekannter aus einem Fischrestaurant15. Die wiedererkannten Worte sind als Namen für Farben miteinander verbunden, die an sie geknüpften Assoziationen aber durch ihren Charakter als poetologische Gleichnisse. Das Schreibwarengeschäft und die Welt der Fische sind jeweils auf ihre Weise Binnenspiegelungen von Tawadas Kosmos. Die Begegnung mit Wörtern in einer unbekannten Sprache ist Anlaß, dieser Sprache ins Gesicht zu sehen16, so daß das sogenannte Nichtverstehen durch Entdeckungen anderer Art kompensiert wird – für die Protagonistin ein Grund, auch dem Nichtlesenkönnen positive Seiten abzugewinnen. Wie Scharniere zwischen dem Verständlichen und dem Unverständlichen wirken dabei identifizierbare Eigennamen im französischen Text (Bach und Bartók) – und sie sind als Namen von Komponisten zugleich ein Anlaß, die Reflexion über Übersetzungsprozesse auszuweiten auf die Frage nach der Übersetzbarkeit des Unübersetzbaren, als das sich Musik und Gedichte darstellen können17.
9In einem weiteren Text Tawadas, der auch französischen Wörtern gilt, bestätigt sich der assoziative Zusammenhang von Dichtung, Musik, Übersetzung und einer Lektüre, die nach Elementen aus dem Wortschatz der einen Sprache in Texten der anderen sucht: in einem Kommentar zu Else Lasker-Schülers Gedicht Mein blaues Klavier18. Mitten im Wort „ Klavier“entdeckt die Interpretin das „ Leben“(la vie), in dem Ausdruck „ Klaviatür“hingegen eine Straße („via “) – ein Anlaß, die Idee des Übergangs durchzuspielen und mit dem im Gedicht selbst enthaltenen Motiv der Tür zu verbinden19. Tawadas Kommentar ist charakterisiert durch die Korrespondenz zwischen seinem Thema (Übergang) und seinem Duktus, dem des Übergangs von Motiv zu Motiv, Wort zu Wort, Tür zu Tür. In den Worten selbst öffnen sich Türen (zu anderen Sprachen), wenn man sie segmentweise liest.
10Diese Methode, Wörter segmentweise zu „ lesen“, ist für jemanden, der mit der chinesischen Schrift vertraut ist, ganz plausibel, insofern dort die Schriftzeichen in ihrer konkreten Gestalt aus Radikalen zusammengesetzt sind, die jeweils für sich etwas bedeuten. Durch Zeichen, die ein Radikal gemeinsam haben, treten die bezeichneten Dinge oder Inhalte in einen semantischen Bezug ein. Bei den Silben der Wörter in den europäischen Sprachen verhält es sich natürlich anders; in der Regel haben die Silben eines Wortes für sich selbst genommen ja keinen gegenständlichen Referenten, und wenn etwa ein Substantiv einmal in andere Substantive zerlegt werden kann, dann ist dies meist kontingent und signalisiert keineswegs, daß sich die Bedeutung des Ausgangsworts aus der der Einzelwörter zusammensetzt. Tawada tut nun aber so, als seien auch europäische Wörter in ihrer Eigenschaft als Silbenfolgen Komposita aus Namen für Dinge, Eigenschaften oder Tätigkeiten. Indem sie die Wörter so liest, schreibt sie ihnen die entsprechenden Eigenschaften zu. Und sie bewirkt durch entsprechende Lektüre und Kommentierung, daß semantisch nicht verbundene Wörter sich miteinander verbinden. Dadurch erscheinen dann auch die benannten Dinge in neuem Licht. Ein Übersetzungsvorgang hat stattgefunden, der nicht auf dem Gebrauch eines Wörterbuchs und einer Grammatik beruht, sondern gegen deren Regeln sogar verstößt. Aber die Übersetzung „ funktioniert“insofern, als sie aus vorgegebenen Texten (Wörtern) neue, sinnvolle Zusammenhänge entstehen läßt. Vor den Augen eines Lesers, der so liest bzw. ein solches Lesen nachvollzieht, verwandelt sich die sprachlich bezeichnete und beschriebene Welt. Die aus dem ostasiatischen Schriftsystem abgeleitete „ buchstäbliche“Lese-und Übersetzungsmethode Tawadas mag im übrigen bezogen auf konventionelle Verwendungsformen der westlichen Sprachen eine „ falsche“sein, die die Wortbildungsmechanismen dieser Sprachen ebenso geflissentlich ignoriert wie die Tatsache, daß eine Buchstabenschrift eben keine Silbenschrift ist, sondern aus Elementen besteht, die an sich asemantische Lautwerte wiedergeben. Aber zur Entzifferung poetischer, zumal lyrischer Texte scheint Tawadas Methode sogar in besonderem Maße geeignet. Wenn als Folge ihrer Kommentare Dinge, die scheinbar und aus alltäglicher Perspektive nichts miteinander zu tun haben, in Beziehungen treten, sich so verwandeln, daß sie scheinbar Unähnlichem ähnlich werden, dann stiftet die Einstellung zur Sprache in der Welt der bezeichneten Dinge Korrespondenzen.
11Die in Tawadas Texten erkundeten Korrespondenzen zwischen den Sprachen lassen sich im Beispiel des Kommentars zu Lasker-Schülers Gedicht modellhaft erläutern: Ein deutsches Gedicht wird in einer Weise gelesen, die sich am Lesen der ostasiatischen Silbenschrift orientiert. Der Anstoß dazu geht von einem im deutschen Text „ entdeckten“französischen und einem lateinischen Wort aus. Auch wo im konventionellen Sinn kein Verstehen stattfindet, können Produktivkräfte der Sprache nutzbar gemacht werden. Lasker-Schülers Text wird im folgenden einer entsprechenden Lektüre unterworfen:
Das Gedicht führt den Leser durch verschiedene Orte (ote): Man beginnt mit dem Ort der Musik, an dem sich die „ N-ote“befindet. Da das Ich aber keine „ Note“kennt, wird hier keine Musik gespielt. Dann folgt die zweite Strophe mit dem weltlichen Ort, der „ verr-ohte“. Der dritte Ort befindet sich in einem Übergang, im „ Bo-ote“. Das Wort „ Boote“klingt wie „ Bote“, der zwischen zwei Stationen Mitteilungen transportiert. Somit verkörpert ein Bote die Zwischenstation. An diesem Ort gibt es Musik und Tanz, deren Darsteller kein Mensch, sondern die Mondfrau und die Ratten sind. Der Zugang zu diesem märchenhaften Ort wird durch vier Sternenhände geschaffen: Vielleicht ist es das Licht der Sterne, das durch das Kellerfenster scheint und sich auf den Klaviertasten widerspiegelt. /Diese Szene wirkt etwas unheimlich, weil das Wort „ Sternen“wie „ sterben“, „ Mond“wie „ Mord“und „ Ratten“wie „ retten“klingen. In der vierten Strophe ist nur noch von einer Zerbrochenheit die Rede, die Klaviatür ist eine „ T-ote“. Aber vielleicht muss man die Zerbrochenheit wörtlich nehmen und das Wort „ Klaviatür“wirklich zerbrechen. In drei Teile, „ Kla“, „ via“, und „ tür“ - Der Bruchteil „ Kla“– sei es der Anfang einer „ Kla-ge“oder eines „ Kla-ngs“wird via Zwischenorten zu einer anderen Tür geführt, zu der Himmelstür. Zum Schluss kommt der Ort der Religion, in dem die Begriffe wie „ Br-ote“oder „ Verb-ote“verankert sind. Das Ich bittet die Engel, ihm die Himmelstür frühzeitig zu öffnen. Diese Tür scheint nicht zerbrochen zu sein, aber das ist eine Tür, die die Menschen nicht selber öffnen können20.
12Tawadas Geschichten – und Das nackte Auge ist hier exemplarisch – handeln im Sinne der eingangs zitierten Frage davon, daß und wie Ortswechsel die Wahrnehmung des Fremden begünstigen. Die von solcher Wahrnehmung ausgelöste Einsicht ist dabei die in die Fremdheit auch des eigenen Raumes, der eigenen Sprache. Denn die Differenzierung zwischen Eigenem und Fremdem, Vertrautem und Unvertrautem ist, wie angedeutet, relativ, instabil, fragwürdig.
13In der von Tawadas Texten evozierten Welt finden unablässige Transferprozesse, unablässige Übersetzungen statt: zwischen den verschiedenen Wortsprachen, vom Sinnlich-Körperlichen zum Sprachlichen und umgekehrt, zwischen Sprachlichem und Bildlichem. Als Folge dieser Transferprozesse kommt es zur Suspendierung geläufiger räumlicher Ordnungsmuster. So gibt es keinen privilegierten Ort mehr, der den Namen Heimat verdiente, es gibt keine richtigen Mütter, es gibt keine Mutter-Sprachen.
14Tawadas Poetik ist eine Poetik des Übersetzens. Die verschiedenen, oft komplexen Transferprozesse zwischen Sprache und Sprache, Sprache und Bildern, Bildern und anderen Bildern, zwischen Sinneswahrnehmung und Wort, kulturellem Raum und Beschreibungsformen, zwischen innerer und äußerer Erfahrung stehen untereinander insgesamt in SpieSpiegelungsbeziehungen: Sie dienen einander wechselseitig als Metapher. Das heißt, das Übersetzen oder der Übersetzungsversuch fremdsprachiger Texte ist Metapher für den Versuch, kulturelle Räume zu entziffern, aber auch für die Verbalisierung von Bildern oder für die Beschreibung der eigenen Sinneserfahrungen, die „ Übersetzung“von Sinnesdaten ins Wort. Auch das Ich ist nur als „ übersetztes“beobachtbar; es bewegt sich ständig zwischen den Sprachen und den Territorien, es ist ständig in der Fremde, auch im Umgang mit sich selbst.
15Tawada steht mit ihrer Poetik in einer komplexen Tradition. Ihre poetisch-poetologische Auseinandersetzung mit der „ Buchstäblichkeit“von Phänomenen und mit der physiognomisch-gestischen Qualität von Schriftzeichen darf wohl in mehrerlei Richtungen auf Vorläuferschaften zurückverfolgt werden. Eine Spur führt zu Walter Benjamin (a), eine weitere ins Umfeld der lettristischen Kunst (b); beide Spuren führen direkt oder indirekt auch über „ französisches“Territorium. Eine dritte führt nach Frankreich, zu Roland Barthes, ins Reich der Zeichen (c).
16a) Die Sprache steht im Zentrum des Benjaminschen Denkens. 1916 entsteht die wegweisende Abhandlung Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen21, in der leitende Themen des späteren Werks bereits vorweggenommen sind. 1923 folgt Die Aufgabe des Übersetzers22 – eine nicht minder programmatische Schrift mit einem programmatisch doppeldeutigen Titel. Benjamin bestimmt Sprache als „ das auf Mitteilung geistiger Inhalte gerichtete Prinzip“23. Mehr als ein bloßes Instrument der Bezeichnung und der Kommunikation, ist Sprache die Form aller existierenden Realität.
Es gibt kein Geschehen oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen geistigen Inhalt mitzuteilen. Eine Metapher aber ist das Wort „ Sprache“in solchem Gebrauche durchaus nicht. Denn es ist eine volle inhaltliche Erkenntnis, daß wir uns nichts vorstellen können, das sein geistiges Wesen nicht im Ausdruck mitteilt; der größere oder geringere Bewußtseinsgrad, mit dem solche Mitteilung scheinbar (oder wirklich) verbunden ist, kann daran nichts ändern, daß wir uns völlige Abwesenheit der Sprache in nichts vorstellen können.24
17Seine Leitidee von der Sprache als dem „ Wahrheitsgehalt alles Existierenden“25 entwickelt Benjamin in verschiedenen Schriften. Alles Existierende teilt, so Benjamin, sein geistiges Wesen mit und ist insofern sprachhaft. Allerdings ist dieses geistige Wesen durch die Wortsprache nicht erschöpfend artikulierbar. Die Sprache ist Ausdrucksmedium, aber auch Grenze der Mitteilung jenes geistigen Wesens der Dinge. Was wir von diesem offenbart bekommen, ist das und nur das, was sich davon wortsprachlich artikulieren läßt. „ Die Sprache teilt also das jeweils sprachliche Wesen der Dinge mit, ihr geistiges aber nur, sofern es unmittelbar im sprachlichen beschlossen liegt, sofern es mitteilbar ist“26.
18Als die ursprüngliche Sprache, in welcher die wahre Erkenntnis von Mensch und Dingen möglich ist, betrachtet Benjamin die Namenssprache. Er sieht im Namen das „ Wesensgesetz der Sprache, nach dem sich selbst aussprechen und alles andere aussprechen dasselbe ist“27. Der Mensch empfange, so Benjamin, die stumme, laut-und namenlose Sprache der Dinge und übertrage sie – von Gott hierzu beauftragt – in die eigene Namenssprache; Sprechen ist also immer schon ein Übersetzen. Und die menschliche Namenssprache geht wie die namenlose Sprache der Dinge auf den göttlichen Schöpfungsakt zurück, entspringt also demselben Grund. „ Die Objektivität dieser Übersetzung“ist insofern „ in Gott verbürgt“28. Im Wort Gottes gegründet ist die Übereinstimmung des geistigen Wesens der Dinge mit dem Namen; Benjamin spricht hier von der „ Objektivität“der Sprache. Im Zusammenhang mit diesen metaphysisch grundierten Thesen geht er davon aus, daß keine Übersetzung je unmittelbar von einer Sprache in die andere erfolgen könne, sondern eine jede auf Vermittlungen beruhe. Jede Sprache ist Übersetzung des ursprünglichen Gottesworts, und alle Sprachen übersetzen einander wechselseitig29. Inwiefern solche Thesen buchstäblich sind, kann hier nicht erörtert werden. Benjamins Prägung durch die Kabbala ist so offenkundig wie ambig30. „ Alle überhistorische Verwandtschaft der Sprachen“beruht für Benjamin darin, „ daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache“31. Die Frage nach Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen sollte nicht vom ersten oberflächlichen Eindruck entschieden werden.
Ordnet man [...] Wörter der verschiedenen Sprachen, die ein gleiches bedeuten, um jenes Bedeutete als ihren Mittelpunkt, so wäre zu erforschen, wie sie alle – die miteinander oft nicht die geringste Ähnlichkeit besitzen mögen – ähnlich jenem Bedeuteten in ihrer Mitte sind.32
19In jedem Fall ist sein Sprachdenken für Tawadas Erkundungen ins Reich der Sprachen offenbar impulsgebend gewesen, wenn auch unter einem gegenüber seinen metaphysischen Implikationen deutlich distanzierten Vorzeichen. Eine explizite Auseinandersetzung mit Benjamin findet sich in Tawadas Dissertationsschrift, die im Jahr 2000 unter dem Titel Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur33 erschien. Gegenstand der Interpretation und Kontextualisierung sind vor allem die Schriften Benjamins über die Buchstaben. So schreibt Tawada über Benjamins Aufsatz ABC-Bücher vor hundert Jahren, hier würden die „ Autoren der beschriebenen Bücher nicht erwähnt“: „ Nicht sie, sondern die Buchstaben werden als ‚ Subjekt‘ der historischen Entwicklung von ABC Büchern dargestellt. Der Subjektstatus der Buchstaben hat bei Benjamin mehr als nur rhetorische Bedeutung“34. Zitiert werden Kernpassagen:
Daneben begannen die Buchstaben schon früh einen Hof von Gegenständen um sich zu bilden. Die Älteren unter uns haben noch den Hut dienstfertig beim h hängen, die Maus harmlos am m knabbern sehen und das r als den dornigsten Teil der Rose kennengelernt.35
20Tawada kommentiert unter Verwendung Benjaminscher Formulierungen den Prozeß der Erzeugung von Dingen und Wesen aus Buchstaben explizit und legt damit eine wichtige Inspirationsquelle ihrer eigenen Buchstaben-und Silben-Lesekunst offen.
Hier setzen nicht die Autoren ihre Bilder in Buchstaben um, sondern die Buchstaben sind eigenständige Wesen, die „ einen Hof von Gegenständen um sich bilden“. Daß die Buchstaben die sie umgebenden Bilder erzeugen, ist bei einem ABC-Buch selbstverständlich. In einem ABC-Buch entstammt die Figur der Maus keiner Erzählung, und es gibt auch keine symbolische Bedeutung, die sich hinter dem Bild der Maus verbirgt. Vielmehr wurde die Maus aus dem Buchstaben M geboren.36
21Benjamins Reflexionen über den Rebus kommen Tawadas Interesse an der konkret-physischen Erscheinung von Buchstaben, an Buchstaben als verrätselten Zeichen sowie an den mit Zerlegungs-und Kompositionsprozessen verbundenen Metamorphosen von Wörtern besonders entgegen. Sie paraphrasiert die Ausführungen zur Körperlichkeit der isolierten Buchstaben, zu ihren Aktivitäten, zur Subversivität der so aus ihren konventionellen Funktionen freigesetzten Zeichen; die Paraphrase wirft ein Licht auf ihre eigene Verfahrensweise mit Schriftzeichen. Der Rebus als die Kunst, den Buchstaben Beine zu machen und sie zum Tanzen zu bringen, hat in Tawadas Lektüren eine späte Fortsetzung gefunden. Benjamin sehe, so wird dabei betont,
im Bilderrätsel einen starken Widerstand gegen die Autorität: nicht nur gegen die der Rechtschreibung, sondern auch gegen die der Kirche. Die Buchstaben wehren sich gegen eine Hierarchie, die den Schöpfer über die Menschen und die Menschen über die Gegenstände stellt [...]37. Der Rebus als Ort der „ widerstehenden“Buchstaben gehört jedoch der Vergangenheit an. Benjamins Aufsatz über den Rebus trägt den Titel „ Worüber sich unsere Großeltern den Kopf zerbrachen“, das heißt, es geht um das Spiel einer früheren Generation.38
22Wo die Buchstaben räumliche Präsenz gewinnen, da lädt das Buch den Betrachter ein, es als einen begehbaren Raum wahrzunehmen und sich selbst als Mitspieler im Raum der Zeichen einzufinden. Benjamins Aufsatz Aussicht ins Kinderbuch39 handelt davon, wie die Welt der Schriftzeichen das Kind als Mitspieler absorbiert40. Der hier beschriebene Einstieg ins Kinderbuch und der Einstieg des chinesischen Malers ins Bild finden bei Tawada manche Parallele. Erinnert sei etwa an die Entdifferenzierung von Filmwelt und Realität in Das nackte Auge.
23b) In seinem Standardwerk über Buchstabenbilder und Bildalphabete41 hat Robert Massin die Einstellung früherer Zeiten gegenüber den Buchstaben mit der modernen verglichen und dabei eine Säkularisierungsdiagnose formuliert: Dem sprachmagischen Denken früherer Zeiten ist eine Tendenz gewichen, Buchstaben in den Dienst der immanenten Weltkonstruktion, insbesondere des Selbstentwurfs und der Selbstdarstellung zu nehmen42. Massin hat – unter Einbeziehung der ostasiatischen Kultur – eine Vielzahl von Beispielen für Buchstabenbilder und Schriftarrangements in Kunst und Alltagskultur zusammengetragen und kommentiert.
24Seine Beschreibungen der modernen Buchstabenwelt stehen zu Themen und Verfahrensweisen Tawadas teilweise in deutlicher Korrespondenz. So, wenn er die Stadt als Schrift-Raum charakterisiert43. Die Idee eines Eigenlebens der Buchstaben greift auch Massin auf. Seine Rekonstruktion einer „ lettristischen“Wahrnehmungsweise führt weit ins 19. Jahrhundert zurück, insbesondere zu Victor Hugo, der bei einer Alpenreise im Jahr 1839 Landschaftsformationen als Buchstaben gelesen hat und die Buchstaben des Alphabets bei dieser Gelegenheit als die Grundformen aller Phänomene interpretierte. Hugos Buchstabenphantasien schlagen eine komplementäre Lektüre vor: Die Elemente der Erscheinungswelt wie Objekte und Landschaften haben den Charakter von Lettern; Buchstaben wiederum sind Objekte; sie haben Physiognomien, sie bewegen sich, sie sind räumliche Objekte, Bestandteile von Architekturen; kurz: in ihnen ist die ganze Welt des Menschen in komprimierter Form gegenwärtig44. Schon hier, bei Hugo, zeichnet sich eine Wahrnehmungsform ab, die für die Kunst und Literatur der Moderne wegweisend geworden ist. Wolfgang Max Faust macht deutlich, in welch hohem Maße die moderne Kunst insgesamt die Tendenz besitzt, die Übergänge zwischen Bild und Schrift zu verwischen. Viele Künstler „ üben sich [...] im Erfinden von Bilderschriften und Hieroglyphen. Sie suchen eine Sprache der Zeichen, universal zu verstehen jenseits der natürlichen Sprachen. Das Bild bekommt Beziehung zur Bilder-Schrift, zum Ideogramm“45. Futuristen und Dadaisten wollten die Wörter und Buchstaben in Freiheit setzen. Eine „ lesende“(im Sinne von „ entziffernde“) Wahrnehmungsweise haben, hieran anknüpfend, insbesondere Vertreter der konkreten Kunst und Poesie explizit gefordert46. Mit der Sensibilisierung für das Buchstäbliche verknüpft sich bei Franz Mon und seinen Kollegen eine veränderte Haltung gegenüber der Sprache; an eine Ästhetik der Verfremdung anschließend, betont er den Irritationseffekt der Entdeckung, „ daß auch die Sprache faktischer Natur ist; daß sie ebenso real ist wie das, was sie vermitteln soll: Phänomen zwischen Phänomenen, nicht nur Vermittler, Medium, Bedeutungstransporteur“47.
25c) Die Verbindungen, die Tawadas Texte mit Das Reich der Zeichen von Barthes48 verbinden, sind weitläufig. Eine Skizze mag hier genügenügen: (1) Die Begegnung mit der kulturellen Fremde wird hier wie dort thematisiert und zugleich durch die Form der Thematisierung visualisiert. Auch Barthes’Reflexionen gelten dem Spannungsraum zwischen der westlichen und der östlichen Kultur. Wie Tawada Europa und die europäisch geprägte Welt mit den Augen einer Asiatin betrachtet, so beobachtet er mit westlichen Augen die japanische Welt. Er betont dabei, daß es nicht darum gehen könne, ein angemessenes Bild Japans zu liefern; sein Japan ist ein in westlichen Augen entstandenes „ Japan“, kein Gegenstand klassisch-hermeneutischer Verstehensbemühungen. (2) Zentral ist in Barthes Essay das Thema Schrift – wobei der Schriftbegriff weitere Bereiche betrifft als nur den der Texte im engeren Sinn. Auf einer Japanreise mit der japanischen Zeichenwelt konfrontiert, registriert Barthes, daß diese Zeichen dem besonders gut korrespondieren, was er unter „ Zeichen“versteht49. (3) Die Erfahrung der Fremde, gekoppelt mit dem Interesse an Zeichen, erzeugt eine spezifische Sensibilität für die sinnliche Konkretheit, die Materialität von Zeichen – und dies heißt vor allem: für das Widerständige an ihnen. Die Begegnung mit der fremden Sprache und den Zeichen der Fremde vertieft dabei auch das Bewußtsein von der Kontingenz und Widerständigkeit der eigenen Sprache und der eigenen Zeichen50. (4) Die Faszination durch Schrift und Schreibprozesse bedingt das Interesse an Modalitäten des Schreibens, an den Materialien des Schreibprozesses und an Orten, die mit ihnen verbunden sind. Ein Kapitel des Barthesschen Essays gilt der „ Schreibwarenhandlung“. Die ihm zugrundeliegenden Beobachtungen und Reflexionen zu Geräten und Objekten, die dem Schreiben dienen, findet ihre Entsprechung bei Tawada. (5) Das Interesse an kulturell differenten Zeichensprachen liegt auch den Beobachtungen visueller Phänomene zugrunde, die nicht im engeren (wohl aber im weiteren) Sinne „ schrift“lichen Charakter besitzen. Wie später Tawada, so weist auch Barthes auf die Möglichkeit hin, daß sich die Züge eines asiatischen Gesichts in einem westlichen Kontext „ verwestlichen“– und umgekehrt51. (6) Schon der äußeren Form nach ergeben sich vielfache Vergleichshinsichten. Barthes koppelt Textelemente und Bildelemente, wobei die Bildelemente ihrerseits meist von Schrift durchsetzt sind. Mehrere von Tawadas Büchern sind analog gestaltet. Diese Buchgestaltungspraxis bekräftigt die „ Schrift“lichkeit von Bildern, die „ Bild“lichkeit von Schrift.
26Die Affinitäten Tawadas zu Schreibweisen solcher Dichter, die Sprache in ihrer Buchstäblichkeit erkunden, bestätigt ein in diesem Sommer publizierter Essay, der in einer Sondernummer der Zeitschrift Volltext zu Ehren Ernst Jandls erschienen ist52. Die Herausgeber der Sondernummer, Michael Hammerschmidt und Helmut Neundlinger, hatten Gedichte Jandls ausgewählt und an Autorinnen und Autoren versandt – „ verbunden mit der Bitte um eine persönliche poetische oder essayistische Antwort“. Die darauf eingegangenen Texte sind Dokumente nicht nur der Auseinandersetzung mit Jandl, sondern auch des eigenen Denkens, Fühlens und Schreibens. Im Juni 2005 wurden die Dokumente bei einer gemeinschaftlichen Veranstaltung in Wien der Öffentlichkeit vorgestellt53. Zu den Beiträgern gehören auch Franz Mon und Yoko Tawada54. Tawadas Text zu Jandl-Gedichten beruht, wie man vielleicht sagen könnte, auf dem Grundeinfall, zwei Sprachen einander wechselseitig beobachten zu lassen, die deutsche und die japanische. Zunächst werden aus einem europäisch-indogermanischen Sprachhorizont heraus Fragen an die japanische Sprache gestellt; insofern sie auf Deutsch gestellt sind, mag als „ Subjekt“des Fragens die deutsche Sprache gelten, die die japanische auf ihre Ähnlichkeit mit sich selbst befragt:
Hat die japanische Sprache auch eine Grammatik oder sprechen die Leute ohne Regeln?
Wie meinen Sie das?
Gibt es Genus? Nein? Gibt es Plural und Singular? Nein? Gibt es Deklination? Nein? Gibt es Präposition? Nein? Bestimmte und unbestimmte Artikel? Nein?55
27Von diesen zunächst abstrakt klingenden Fragen nach linguistischen Kategorien ausgehend, modifiziert sich der Fragegestus bald: Die weiteren Fragen suggerieren Analogien zwischen sprachlichen Gegebenheiten einerseits, lebendigen Wesen, Physiognomischem und Sinnlich-Konkretem andererseits; vor allem der Geschmackssinn mischt sich in das Nachdenken über Sprache ein56. Reflexionen darüber, daß eine „ Tafel Schokolade“eine Maßeinheit ist, und daß „ Dinge in eine Form eingepreßt [werden], damit sie gezählt und kontrolliert werden können“57, leiten über zu Beobachtungen und Fragen, die der deutschen Sprache gelten und nunmehr offensichtlich von einem ihr gegenüber externen Beobachterstandpunkt aus formuliert sind, wenn auch auf Deutsch:
Wörter werden zählbar, wenn sie getrennt geschrieben werden. Wenn sie ohne Lücken dastehen würden, würde ein Text wie eine lange Nudel aussehen. Die Gegner des Nudelgerichts haben die Worttrennung erfunden.58
28Aus Beobachtungen zur Schreibweise deutscher Wörter wird im folgenden eine Sequenz von Einfällen entwickelt; die Getrenntschreibung von „ Rad fahren“scheint die Verwendung zweier Fahrräder bei einem Fahrradausflug zu suggerieren, während die Zusammenschreibung („ radfahren“) eher an den Gebrauch eines Tandems denken läßt. Der eigene Schreibtisch wird als „ Landstraße“beschrieben, „ auf der jedes Wort frei fahren kann“, der Kaffee ohne Tasse, der Nebensatz ohne Komma59. In einer an Texte Jandls erinnernden Weise nimmt Tawada immer wieder Geschriebenes buchstäblich, erprobt seine Verformbarkeit, verstößt dabei gegen konventionelle Spielregeln (deren Zwangscharakter auch explizit hervorgehoben wird), bringt scheinbar Inkompatibles über sprachklangliche Ähnlichkeiten in Konstellationen.
Man muß ein trennbares Verb trennen. [...] Das ist ein Muß. /Es gibt so viele Sorten von Mus: Apfelmus, Pflaumenmus und mousse au chocolat kennt jeder. /Mandelmus und Jandelmus kennt nicht jeder.60
29Aus der Perspektive der Fremdsprachenlernerin wird eine bedenkenswerte Erfahrung formuliert:
Durch das Studium [der Fremdsprachen] gewinnt man die Fähigkeit, etwas falsch zu machen. Alles, was neu ist, erscheint zuerst als falsch. Und die Freunde lachen dich aus, ohne zu merken, daß sie dadurch zu Sprachpolizisten werden.61
30Beobachtungen geschriebener Sprache und Gedankenexperimente, die um die Buchstaben und das Schreiben kreisen, wechseln einander im folgenden ab. Immer wieder verweist Tawada dabei auf Jandlsche Texte, die als Experimente mit dem Wörtlichen, dem Buchstäblichen erscheinen. Leitmotivische Funktion übernimmt dabei die Vorstellung der Grenzüberschreitung – insbesondere der Grenzüberschreitung zwischen Wörtern und Dingen, die als zwei verschiedene Spielformen der Sprache erscheinen. Die „ Sprachpolizei“möchte dies verhindern; ihr widerstrebt es, daß die geschriebenen Wörter als Dinge genommen werden. Doch der Text Tawadas agiert subversiv, als Schmuggler in den Spuren Jandls.
„ Die Wörter sollen nicht das sein, was sie meinen“, sagt der Zollbeamte der Grammatik. „ Man darf aus dem Wort ‚ Drogen‘ keine Drogen machen. Man darf nicht die Drogen aus dem Land der Wörtlichkeit einschmuggeln.“/Dichter sind Alchemisten. Das Wort „ Kot“fängt dann an, nach Hundekot zu duften und das Wort „ Mist“nach einem Heuhaufen.62
31Der Ausdruck „ Über-Setzung“legt es nahe, im Sinne der ihm eingeschriebenen metaphorischen Dimension wörtlich-konkret gelesen zu werden; als Ausdruck für eine räumliche Bewegung von einem Gelände zum anderen erinnert er an die Tätigkeit des Fährmanns, der den Passagier über den Fluß setzt. Ein diesem Bildfeld affines letztes Beispiel für Tawadas Praxis des Buchstäblich-Lesens gilt dem Ausdruck „ Brücken-Schlag“, in dem die Entzifferungskünstlerin das Wort „ schlagen“entdeckt – um zu betonen, daß Aggressivität gegen Brücken fehl am Platz ist. Aus Schlagwaffen können aber Brücken werden – und ein Äquivalent der Brücke ist in der Welt der Schriftzeichen der Bindestrich:
Der Ausdruck „ eine Brücke schlagen“erschreckt mich. Das Ufer, auf dem ich stehe, wird plötzlich zu einer Hand, die eine gegen das andere Ufer gerichtete Keule hält. Es wird dadurch zu einer Bindung gezwungen. Die Bindung erinnert mich an einen Bindestrich. Deutsch-Französisch.63
Notes de bas de page
1 Yoko Tawada, Das nackte Auge, Tübingen, Konkursbuchverlag, 2004.
2 Die Erzählerin, zunächst Musterschülerin an einem Gymnasium in Ho Chi Minh City, wird als Delegierte auf einen anti-imperialistischen Jugendkongreß in der DDR entsandt, wo sie auf Russisch einen Vortrag über ihr Land halten soll. Das sozialistische Bruderland hält die ersten Befremdlichkeiten bereit, auf sprachlicher, sozialer, topographischer und kulinarischer Ebene. Unter dem Eindruck einer Überflutung durch die Reize einer fremden Welt und ungewohnter Alkoholmengen stehend, gerät das Mädchen in Ostberlin an einen Studenten aus Westdeutschland namens Jörg, der ihr einen Gefallen zu tun glaubt, indem er sie im Zustand der Bewußtlosigkeit in seine Heimatstadt Bochum schmuggelt. In Bochum erwachend, ist sie einer neuen Fremde ausgesetzt; nun hindert sie zudem der Eiserne Vorhang an einer Rückkehr ins eigene Land – zumindest wird ihr dies suggeriert. Von Jörg in die zukunftslose Rolle einer untergeordneten Lebensgefährtin gedrängt, verläßt sie Bochum in der trügerischen Hoffnung, der mittels Notbremsung angehaltene Nachtzug halte auf Moskau zu; tatsächlich bringt er sie nach Paris. Eine vietnamesische Reisegefährtin, deren Bekanntschaft sie unterwegs zufällig macht, versieht sie mit ein wenig Startgeld. In Paris wird die Erzählerin von Station zu Station getrieben; sie lebt nacheinander mit verschiedenen Männern und Frauen zusammen – begonnen mit der Prostituierten Marie, deren Bekanntschaft sie als Folge eines charakteristischen Mißverständnisses macht: Sie hat keinen Begriffdavon, was Prostituierte sind, und als sie Marie mit einem Bündel Geldscheine zuwinkt, versteht diese etwas ganz anderes, als die Vietnamesin mit ihrer Geste meint – in der irrigen Annahme, den gestischen Code der Franzosen verstanden zu haben.
3 Tawada, Das nackte Auge (Anm. 1), S. 13.
4 Und das heißt immerhin auch: Marianne, der Deneuve gelegentlich ihr Gesicht geliehen hat.
5 Tawada, Das nackte Auge (Anm. 1), S. 67.
6 Ibid., S. 106.
7 Ibid., S. 53.
8 Vgl. ibid., S. 57.
9 Ibid., S. 11.
10 Ibid., S. 27.
11 Yoko Tawada, Überseezungen, Tübingen, Konkursbuchverlag, 2002, S. 32-35.
12 Ibid., S. 32.
13 „ Eine Sprache, die man nicht gelernt hat, ist eine durchsichtige Wand. Man kann bis in die Ferne hindurchschauen, weil einem keine Bedeutung im Weg steht. Jedes Wort ist unendlich offen, es kann alles bedeuten.“(ibid.)
14 Ibid., S. 33.
15 Ibid., S. 33-34.
16 „ Eine Sprache, die man nicht versteht, liest man äußerlich. Man nimmt ihr Aussehen ernst. Das Gesicht eines französischen Textes sieht runder aus als das eines deutschen. Es fehlen die eckigen Schultern der großen Buchstaben, die im Deutschen jeder Zeile einen architektonischen Charakter geben.“(ibid., S. 34)
17 Ibid., S. 34-35.
18 Yoko Tawada, „ Zu Else Lasker-Schülers ‚ Mein blaues Klavier‘“, in: Heinz Ludwig Arnold, Aufbruch ins 20. Jahrhundert, Über Avantgarden, München, Ed. Text und Kritik, S. 252-253.
19 Ibid., S. 252: „ Da ich nicht Französisch verstehe, fand ich es erstaunlich, dass ich mitten im Wort ‚ Klavier‘ das Wort ‚ La vie‘ entdeckte./Das Klavier steht im Keller. Man öffnet die Kellertür und betritt den Raum, in dem sich ein Klavier befindet. In ihm sollte sich das Leben, ‚ la vie‘, abspielen. Aber man kann es nicht erreichen, da die Tür des Klaviers zerbrochen ist./Normalerweise wird eine Tür als Hindernis betrachtet. Aber in diesem Gedicht wird der Leser darauf aufmerksam gemacht, dass eine Tür notwendig ist, um eine Öffnung zu ermöglichen./Außerdem ist das Klavier im Wort ‚ Klaviatür‘ mit einem ‚ a ‘ geschrieben, also es gibt kein ‚ Leben‘ (la vie) mehr darin. Dafür fand ich das Wort ‚ via‘, das einen Weg oder eine Zwischenstation andeutet. Das Leben (VIE) verwandelt sich in einen Übergang/Durchgang (VIA). Somit steht man auf dem Weg zu der nächsten Tür, der Himmelstür.“
20 Tawada, „ Zu Else Lasker-Schülers ‚ Mein blaues Klavier‘“(Anm. 18), S. 2.
21 Walter Benjamin, „ Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/1, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1977, S. 140-157.
22 Walter Benjamin, „ Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Gesammelte Schriften (Anm. 21), Bd. IV/1, hg. v. Tillman Rexroth, 1972, S. 9-21.
23 Benjamin, „ Über Sprache überhaupt“(Anm. 21), S. 140.
24 Ibid., S. 140-141.
25 Norbert Bolz, Wilhelm van Reijen, Walter Benjamin, Frankfurt/M., Campus, 1991, S. 41.
26 Benjamin, „ Über Sprache überhaupt“(Anm. 21), S. 142.
27 Ibid., S. 145.
28 Ibid., S. 151.
29 „ Jede menschliche Sprache [so fassen Norbert Bolz und Willem van Reijen Benjamins Sprachmetaphysik zusammen] ist Übersetzung, gleichsam empfangend und gebend. Und jede Übersetzung durchläuft ein ‚ Kontinuum von Verwandlungen‘, in dem die eine Sprache als Übersetzung aller anderen auf das unwandelbare Wort Gottes, deren unvollkommene Nachahmung sie alle sind, bezogen bleibt.“(Bolz, van Reijen, Walter Benjamin (Anm. 25), S. 46)
30 Zur Frage der „ metaphysischen“Ausrichtung Benjamins vgl. ibid., S. 45.
31 Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers (Anm. 22), S. 13.
32 Benjamin, „ Über das mimetische Vermögen“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/1 (Anm. 21), S. 210-213, hier S. 212-213. Dazu Bolz, van Reijen, Walter Benjamin (Anm. 25), S. 52: „ Diese Einsicht impliziert zum einen, daß – entgegen allem Anschein – Wörter nicht als arbiträre Zeichen verstanden werden können, zum anderen, daß jedes Wort, mehr noch eine Sprache insgesamt, eine unsinnliche Ähnlichkeit mit ‚ jenem Bedeuteten‘ in der ‚ Mitte‘ hat. Das gilt nicht nur für die gesprochene Sprache, sondern auch für die Schrift.“
33 Yoko Tawada, Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur, Tübingen, Konkursbuchverlag, 2000.
34 Ibid., S. 155.
35 Walter Benjamin, „ ABC-Bücher vor hundert Jahren“, in: Gesammelte Schriften (Anm. 21), Bd. IV/2, hg. v. Tillman Rexroth, 1972, S. 619-620, hier S. 619.
36 Tawada, Spielzeug und Sprachmagie (Anm. 33), S. 155. In den von Benjamin beschriebenen ABC-Büchern, so Tawada, „ stehen plötzlich Adler, Apfel, Affe, Amboß, Anker, Armbrust, Arznei, Ast und Axt nebeneinander: ‚ Die Ammen, Apotheker, Artilleristen, Adler und Affen [...] erkannten ihre Solidarität‘ und setzten sich zusammen. Ein ABC-Buch zu lesen heißt, eine Kette der Signifikanten wahrzunehmen und sich den durch ihre Logik hervorgebrachten Signifikaten zu überlassen.“(Ibid., S. 157)
37 Hier (ibid., S. 159) findet sich ein wörtliches Zitat Benjamins, das wiederum nach Frankreich verweist: „ Der eigentliche Patron dieses Rebus aber war der geniale Illustrator Grandville, dessen zeichnerische Demagogie nicht nur Himmel und Erde, sondern Möbel, Kleider und Instrumente gegen den Herrn der Schöpfung mobil machte und noch den Buchstaben die Gliedmaßen und den Übermut lieh, mit denen sie hier den Leser mystifizieren.“(Walter Benjamin, „ Worüber sich unsere Grosseltern den Kopf zerbrachen“, in: Gesammelte Werke, Bd. IV/2 (Anm. 35), S. 622-623, hier S. 623)
38 Vgl. Tawada, Spielzeug und Sprachmagie (Anm. 33), S. 159: „ Beim Kreuzworträtsel bleiben die Buchstaben brav in ihren Kästchen. Sie spiegeln die Zeichenwelt der Industriegesellschaft, die aus ‚ normierten Architekturen, den Schemata der Statistik, der eindeutigen Sprache unserer Lichtreklame und unserer Verkehrszeichen‘ besteht.“
39 Walter Benjamin, „ Aussicht ins Kinderbuch“, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV/2 (Anm. 35), S. 609-615, hier S. 609.
40 Ibid.: „ In einer Geschichte von Andersen kommt ein Bilderbuch vor [...]. Darin war alles lebendig. ‚ Die Vögel sangen, und die Menschen gingen aus dem Buche heraus und sprachen.‘ Wenn aber die Prinzessin das Blatt umwandte, ‚ sprangen sie gleich wieder hinein, damit keine Unordnung entstehe‘. Niedlich und unscharf, wie so vieles, was er geschrieben hat, geht auch diese kleine Erdichtung haargenau an dem vorbei, worauf es hier ankommt. Nicht die Dinge treten dem bildernden Kind aus den Seiten heraus – im Schauen dringt es selber als Gewölk, das mit dem Farbenglanz der Bilderwelt sich sättigt, in sie ein. Es macht vor seinem ausgemalten Buche die Kunst der taoistischen Vollendeten wahr: es meistert die Trugwand der Fläche und zwischen farbigen Geweben, bunten Verschlägen betritt es eine Bühne, wo das Märchen lebt. Hoa, das chinesische ‚ tuschen‘, ist soviel wie kua, ‚ anhängen‘: man hängt fünf Farben an die Dinge. [...] In solch farbenbehängte, undichte Welt, wo bei jedem Schritt sich alles verschiebt, wird das Kind als Mitspieler aufgenommen. Drapiert mit allen Farben, welche es beim Lesen und Betrachten aufgreift, steht es in einer Maskerade mitten inne und tut mit. Beim Lesen, denn es haben auch die Worte zu diesem Maskenball sich eingefunden, sind mit von der Partie und wirbeln, tönende Schneeflocken, durcheinander. ‚ Prinz ist ein Wort mit einem umgebundenen Stern‘, sagte ein Junge von sieben Jahren. Kinder, wenn sie Geschichten sich ausdenken, sind Regisseure, die sich vom ‚ Sinn‘ nicht zensieren lassen. Man kann darauf sehr leicht die Probe machen. Gibt man vier oder fünf bestimmte Worte an und läßt sie schnell zu einem kurzen Satz zusammenfügen, so wird die erstaunlichste Prosa zum Vorschein kommen: nicht Aussicht, sondern Wegweiser ins Kinderbuch. Da werfen sich mit einem Schlag die Worte ins Kostüm und sind im Handumdrehen in Gefechte, in Liebesszenen oder Balgereien verwickelt. So schreiben, so aber lesen auch die Kinder ihre Texte.“
41 Robert Massin, Buchstabenbilder und Bildalphabete, dt. v. Philipp Luidl u. Rudolf Strasser, Ravensburg, Maier, 1970 [im Original: La Lettre et l’image, Paris, Gallimard, 1970].
42 „ Wir sind das Arrangement solcher Dinge nicht mehr gewöhnt, das in der Aura von Poesie und Symbol Heiliges mit Profanem, Realismus mit Abstraktion verbindet. Wer heute einen Buchstaben zur Schau stellt, verfolgt andere Ziele als die einer metaphysischen Fragestellung oder auch nur eines ästhetischen Vergnügens. [...] Wenn die Arbeiter einer Polieranstalt sich stolz hinter dem Namenszug des Passagierschiffs France aufstellen, so geschieht das weniger ihrer wohlgetanen Arbeit wegen, als vielmehr deshalb, weil Jahre hindurch quer über alle Ozeane diese Buchstaben ihr Land symbolisieren werden und weil in ihnen für einen Augenblick die ganze Macht der Handelsflotte gegenwärtig ist.“(Massin, ibid., S. 20/22)
43 „ Die Stadt ist ein großes aufgeschlagenes Buch in anonymer Schrift. Es genügt, nur hineinzuschauen, und die Bilder sprechen. [...] Aus den Tafeln der Buden und den Kisten mit exotischer Beschriftung ersteht der feenhafte Zauber der Jahrmärkte. /Ein buntes Schachbrett der Lebensmittelladen und seine Schaufenster, der Kiosk eine Wand aus Zeitungen, die Pariser Drogerien farbige Puzzles. In gotischer Aufschrift psalmodieren die Scheiben der Cafés (banana split, ice cream soda), Kreidekritzeleien, Rolladen der Geschäfte. Angebote, Ausverkäufe, Schlußverkäufe kleiden die Fassaden in Kattun.“(ibid., S. 11)
44 Zu Victor Hugo vgl. ibid., S. 86-87.
45 Wolfgang Max Faust, Bilder werden Worte, München, Wien, Hanser, 1977, S. 16.
46 Vgl. Franz Mon, „ text und lektüre“, in: artikulationen, Pfullingen, Neske, 1959, S. 14. Ferner: Franz Mon, Texte über Texte, Neuwied, Berlin, Luchterhand, 1970, S. 17: „ Es gibt nichts, was nicht in irgendeine Artikulati onstopographie einbezogen werden könnte und also lesbar würde. Diese ist die Voraussetzung der Lesbarkeit: ein endlicher Spielraum, in dem jede Stelle ihren charakteristischen Wert erhält.“
47 Ibid., S. 135.
48 Vgl. dazu Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, dt. v. Michael Bischoff, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1981 [im Original: L’Empire des signes, Genève, Skira, 1970].
49 Ibid., S. 13-23.
50 Vgl. ibid., S. 17.
51 Ibid., S. 124-125.
52 Volltext, Zeitung für Literatur, Sonderausgabe 1 (2005), Ernst Jandl (zum 80. Geburtstag).
53 Vgl. dazu ibid., S. 3.
54 Franz Mon, „ Wortlauterfindung und Metamorphose“(ibid., S. 12-13); Yoko Tawada, „ Sprachpolizei und Spielpolyglotte“(ibid., S. 14-15), auch in: Yoko Tawada, Sprachpolizei und Spielpolyglotte, Tübingen, Konkursbuchverlag, 2007, S. 25-37.
55 Ibid., S. 14.
56 „ Gibt es feminine und maskuline Wörter? Haben einige Wörter eine Gebärmutter im Leib? Ist der Rock männlich, während die Hose weiblich ist? Gibt es ein Genus beim Verzehren eines Satzes? Gibt es einen bestimmten Geschmack, wenn ich ein Frau-Wort auf die eigene Zunge lege? Wie schmeckt eine Tafel Schokolade als Wort?“(ibid.)
57 Ibid.
58 Ibid.
59 Ibid.
60 Ibid.
61 Ibid.
62 Ibid., S. 15.
63 Yoko Tawada, Aber die Mandarinen müssen heute noch geraubt werden, überarb. Neuaufl., Tübingen, Konkursbuchverlag, 2003, S. 65 (Abschnitt „ Ich wollte keine Brücke schlagen“, S. 65-66).
Auteur
Ruhr-Universität, Bochum
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