Wie Melusine den Drachen verdrängte
Eine sagengeschichtliche Untersuchung zum Unverwundbarkeitsmotiv
Comment Mélusine chassa le dragon. Étude du motif de l'invulnérabilité dans l'histoire d'une légende
p. 243-275
Résumés
S’intéressant au motif de l’invulnérabilité, l’auteur conteste l’idée reçue selon laquelle il s’agit d’un motif porté par la tradition orale et surgissant fortuitement dans des pays fort éloignés les uns des autres. Partant du principe qu’il existe une filiation directe et linéaire entre les textes attestés, il retrace l’histoire du motif en question sans tenir compte d’une éventuelle oralité. Il constate que le Nibelungenlied (1200) est indépendant de la version primitive de la légende de Sigurd et conclut que l’Achilléide de Stace est la seule source susceptible d’avoir fourni le motif de l’invulnérabilité à l’auteur du Nibelungenlied. En adaptant le poème allemand, Snorri supprima le motif de l’invulnérabilité dans son Edda (1220), mais l’auteur de la Thidrekssaga (1250) le réintroduisit en fusionnant l’Edda avec le Nibelungenlied. Par l’intermédiaire de la Didrikskrönikan (1450), cette version mixte inspira le poète du Lied vom Hürnen Seyfrid (1530), Vedel (1591) et Venusin, l’auteur de la Chronique de Hven (1603). Cet humaniste danois réintroduisit à nouveau le motif de l’invulnérabilité tout en remplaçant délibérément le traditionnel sang du dragon par l’eau du puits de Mélusine. Cette fusion originale entre la légende de Mélusine et celle des Nibelungen visait à présenter le héros invulnérable comme un personnage lubrique.
Bei seiner Untersuchung des Unverwundbarkeitsmotivs leugnet der Autor die vorgefasste Meinung, dieses Motiv werde von mündlicher Überlieferung getragen und tauche zufällig in voneinander weit entfernten Ländern auf. Ausgehend vom Prinzip, dass zwischen den Textzeugnissen ein direkter und linearer Zusammenhang besteht, beschreibt er die Geschichte des fraglichen Motivs ohne Rücksicht auf eine eventuelle Mündlichkeit. Er stellt fest, dass das Nibelungenlied (1200) von der ursprünglichen Fassung der Sigurdsage unabhängig ist, und folgert, dass Statius’Achilleis die einzige Quelle ist, die dem Dichter des Nibelungenlieds das Unverwundbarkeitsmotiv hat liefern können. Als Snorri das deutsche Gedicht bearbeitete, ließ er in seiner Edda (1220) das Unverwundbarkeitsmotiv weg, aber der Verfasser der Thidrekssaga (1250) führte es wieder ein, als er die Edda mit dem Nibelungenlied verschmolz. Durch die Didrikskrönikan (1450) regte diese Mischfassung den Dichter des Lieds vom Hürnen Seyfrid (1530), Vedel (1591) und Venusin, den Verfasser der Hvenischen Chronik (1603) an. Der dänische Humanist führte das Unverwundbarkeitsmotiv wieder ein, aber ersetzte absichtlich das herkömmliche Drachenblut durch Melusines Brunnenwasser. Diese originelle Verschmelzung zwischen Melusine- und Nibelungensage zielte darauf hin, den unverwundbaren Helden als lüsterne Figur darzustellen.
Texte intégral
Die dänische Nibelungensage
1Es ist nicht notwendig, Mediävistik studiert zu haben, um von Siegfried gehört zu haben. Ein jeder weiß, dass dieser furchtlose Held einen schrecklichen Drachen tötete und dass sich sein Körper beim Bad im Drachenblut mit Hornhaut bedeckte. Dadurch wurde der Held unverwundbar, bis auf eine kleine Stelle im Rücken, denn während er sich im Drachenblut badete, fiel ein Lindenblatt zwischen seine Schulterblätter. Gerade diese schutzlose Stelle wurde ihm später zum Verhängnis.
2Völlig unbekannt ist dagegen Siegfrieds dänischer Doppelgänger. Sigfrid Horn ist eine der Hauptgestalten in der Hvenischen Chronik, einer Prosabearbeitung der Nibelungensage, die 1603 in Kopenhagen von Venusin verfasst wurde1. Das dänische Renaissancemärchen ist insofern mit der deutschen Nibelungendichtung von 1200 vergleichbar, als beide Verfasser ihre eigene Gegenwart unter dem Schleier einer fernen Vergangenheit darstellten2.
3In der Hvenischen Chronik begegnen die drei Geschwister Hogen, Kremild und Folgmar diesem Sigfrid bei einem Kampfturnier in Worms:
Nu faldt dett sig saare vel i Laffue, Att thill Wormitz war en kempe, vedt naffnn Sigfrid horn, Saa kalledt, fordj ingenn kunde hugge saar paa hanum, vdenn et stedtz paa hans ryg. Thj saaden en horne haardhedt var vdj Alle hans Lemmer: Huilckidt er hanum vederfarrenn affen brøndt handt thode sig wdj, som enn skoffuequinde Melusina viste hanum.3
4In der dänischen Prosaerzählung hat Melusine also die herkömmliche Rolle des Drachen übernommen. Wir werden sehen, dass dies keine willkürliche Sagenentstellung ist.
5Ziel dieser Untersuchung ist es, das Unverwundbarkeitsmotiv einer sagengeschichtlichen Analyse zu unterziehen, und zwar anhand von zwei unbeweisbaren Grundprinzipien4. Erstens: Sagen werden in Zeit durch Text und Bild vermittelt. Zweitens: Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen zwei verwandten Sagenzeugnissen, wenn der Einfluss des älteren auf das jüngere nicht widerlegt werden kann.
6Die oben erwähnte Verschmelzung zwischen Nibelungen-und Melusinesage kommt in keinem anderen Text vor. Bis vor kurzem stammte der einzige Forschungskommentar dazu vom niederländischen Germanisten Richard Constant Boer, der vor fast einem Jahrhundert seine Verwunderung ausdrückte:
Eine andere nicht zu der Nibelungensage gehörige einzelheit ist die fee Melusine, die Sigfrid den brunnen zeigt, in dem er sich badet. Wann und wo diese bemerkung aufgenommen ist, lässt sich nicht entscheiden; sie sieht ziemlich jung und gelehrt aus.5
7Allgemeiner spricht später Boers Landsmann Jan de Vries in Bezug auf den dänischen Nibelungenstoffvon einer Sagenwanderung und stellt fest: „Das deutsche lied [= ein hypothetisches, uraltes Rachelied] ist also weit gewandert, nordwärts nach Dänemark, westwärts bis Flandern“6.
8Der historische Kern der Nibelungensage beruht bekanntlich auf verschiedenen Ereignissen aus der Völkerwanderungszeit: dem Untergang des Burgundenreichs (436), Attilas Tod (453), der Exilzeit des ostgotischen Königs Theoderich des Großen (459-469) und der Ermordung des Frankenkönigs Sigibert I. († 575), der mit der spanischen Königstochter Brunichild († 613) verheiratet war. Trotz unversiegbarer Tintenergüsse ist die Frage, wie und wann die nicht gleichzeitigen historischen Gegebenheiten zu einer Sage zusammenschmolzen, nie geklärt worden. Nur eins scheint festzustehen: die Wiege der Sage lag in Deutschland. Von hier aus wanderte die Sage aus, aber ohne jemals im Westen oder im Süden Wurzeln zu schlagen. Dieser Tatbestand lässt sich wohl dadurch erklären, dass die Nibelungensage einen spezifisch germanischen Stoffbehandelt. Im Norden fand die Sage dagegen einen guten Nährboden. Vor allem hier wurden im 19. und 20. Jahrhundert Sagenwanderungstheorien entwickelt, welche die denkenden und atmenden Sagenträger nur in sehr begrenztem Maße berücksichtigten.
9In der dänischen Prosaerzählung von 1603 wird die Handlung auf Hven verlagert. Von dieser winzigen Öresundsinsel zwischen Dänemark und Schweden stammt die übliche Bezeichnung Hvenische Chronik. Diese Lokalisierung der Sage taucht zum ersten Mal in der Grimildballade auf, die in drei verschiedenen Fassungen in dem 1591 vom dänischen Historiker Anders Sørensen Vedel veröffentlichten Hundertballadenbuch Aufnahme fand. Die Ballade und die Prosaerzählung bilden die spezifisch dänische Ausformung der Nibelungensage7.
10Die letzte kurze Notiz, welche die dänische Forschung ihrer Hvenischen Chronik gewidmet hat, ist ein zwölfzeiliger Eintrag in ein Lexikon aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Hier erklärte Axel Olrik: „Sagnet er en ejendommelig Form af Nibelungesagnenes tyske Sagngruppe og er indvandret i Middelalderen“8. Die Bemerkung wurde vier Jahrzehnte später in leicht veränderter Form wiederholt.9 Auch Erik Dal, der den dänischen Nibelungenstoffflüchtig berührte, sprach von „sagnvandring“ und in einer englischen Zusammenfassung von „international wanderings“ und „migration“10. Kein befriedigendes Erklärungsmodell wurde bisher für die geographische Verlagerung formuliert. Die beiden letzten Aussagen zeugen von der grenzenlosen Verwirrung, die heute noch in Dänemark und Deutschland herrscht:
Mange omveje er […] mulige. Der er […] tale om meget indviklede vandringer.11
Die Hvenische Chronik […] berichtet, daß der Untergang der Burgunden auf der Insel Hven in der Ostsee stattgefunden habe. Das diene zur Warnung, die Lokalisierung von Sagen für langlebig zu halten. Der Stoffblieb in Skandinavien beliebt und wanderte in andere Gattungen, vor allem in die Ballade. […] Die dänische Ballade Grimilds Hævn („Kriemhilds Rache“) […] mischt Sagenmotive, die wir aus Nibelungenlied, Thidrekssaga, färöischen Tanzliedern, dem niederdeutschen Lied von Ermenrîkes Dôt und aus der Lieder-Edda kennen. Nicht feststellbar ist, ob die eddische Tradition erst im 16. Jahrhundert eingemischt wurde.12
11Immer wieder ist von einer gespenstigen Wanderung die Rede, besonders in der peinlich dürftigen dänischen Forschung, die meist so tut, als könnte die Sage auf eigenen Beinen wandern.
Der Ursprung des Unverwundbarkeitsmotivs
12Die Frage nach der Entstehung und Wanderung des Unverwundbarkeitsmotivs wird uns auf einer dreitausendjährigen Europareise leiten. Ich möchte allerdings den chronologischen Startpunkt vorläufig beiseite lassen und mit der bekanntesten Stufe der Sage beginnen.
13Um 1200 entstand das Nibelungenlied (NL) im Passauer Bistum. Hierin wird der Drachenkampf mit dessen unmittelbarer Folge äußerst gerafft dargestellt. Bei Siegfrieds erster Ankunft in Worms erzählt Hagen den Burgunden in 16 Strophen, was er vom herannahenden Helden weiß (NL 86-101). Es ist kein Augenzeugenbericht, denn Hagen unterstreicht, dass er den fremden Krieger noch nie gesehen hat (NL 86). Woher seine Kenntnisse stammen, erfahren wir nicht. Ausführlich wird nur die Horterwerbung im Land der Nibelungen geschildert. Das wenige, was der Vasall des Burgundenkönigs vom Drachenkampf und der Unverwundbarkeit weiß, kann er in einer Strophe zusammenfassen (NL 100):
Noch weiz ich an im mêre, daz mir ist bekannt.
Einen lintrachen den sluoc des heldes hant.
Er badet’ sich in dem bluote: sîn hût wart hurnîn.
Des snîdet in kein wâfen; daz ist dicke worden scîn.13
14Hagen kennt zu diesem Zeitpunkt noch nicht den wunden Punkt seines späteren Gegners. Diese Kenntnis bringt er erst nach der Hochzeit des Helden mit der wunderschönen Kriemhild in Erfahrung, und zwar nachdem er eine Kriegserklärung fingiert hat, um Siegfried zu überlisten. Aus Angst gibt die leichtgläubige Prinzessin dem Verräter das Geheimnis ihres Mannes preis. Sie erzählt Hagen, wo Siegfried verwundbar ist (NL 902), und näht dazu noch ein Kreuz auf das Gewand ihres Gatten in der falschen Hoffnung, dass Hagen ihn beschützen wird. Der Krieg wird abgeblasen und in eine Jagd verwandelt. Das geschieht aus praktischen Gründen. Im Wald wird der Held nämlich keine Rüstung tragen. Nach der erfolgreichen Jagd lehnt Siegfried seinen Speer an eine Linde und geht unbewaffnet zu einer Quelle. Hagen zielt mit dem Speer auf das aufgenähte Kreuz und trifft den ahnungslosen Helden (NL 981).
15Der dreistufige Handlungsstrang lässt sich auf folgende Weise interpretieren. Die Tötung des Drachen ist eine Bewährungsprobe, nach welcher der junge Held zum Mann wird. Als solcher ist er nur physisch stark. Der wunde Punkt des Mannes ist das Herz, der Sitz der Gefühle. Dass gerade ein Lindenblatt diesen Körperteil bedeckt, ist kein Zufall. In dem um 1200 in Deutschland blühenden Minnesang war dieser Baum schlechthin zum Sinnbild der Liebe geworden. Wenn Kriemhild in ihrer Unterhaltung mit Hagen das Geheimnis ausplaudert, so geschieht es aus Liebe zu Siegfried. Schließlich geht der Held im übertragenen Sinne an der Liebe zugrunde, indem er im Wald seinen Speer gerade an eine Linde lehnt und unbewaffnet seinen Durst an der Quelle löscht. Da das Wasser ein weibliches Element ist, kann dieser verhängnisvolle Akt als bedingungslose Hingabe an die Liebe gedeutet werden. Das Nibelungenlied ist überhaupt eine Liebestragödie14. In der vorletzten Strophe stellt der Verfasser beklagend fest, dass Liebe stets zu Leid führt (NL 2378).
16In Deutschland ist ein solcher „Minneroman“ erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts denkbar. Deshalb muss das Lindenblattmotiv sehr jung sein. Obwohl ganze Bibliotheken mit der unübersichtlichen Sekundärliteratur zu den verlorenen Quellen des Nibelungenlieds gefüllt werden könnten, ist die Herkunft des Unverwundbarkeitsmotivs nicht ausreichend erörtert worden. Zweifellos wurde es erst vom Kleriker des Passauer Bistums eingeführt15.
17Er kann das Motiv nur aus der Achillsage geholt haben. Problematisch ist auf den ersten Blick die vielfältige antike Überlieferung. Homer erzählt nichts von der heute so berühmten Ferse. Aus dem Mund von Achills Mutter Thetis (Ilias I, 413ff) und sogar aus dem Maul seines Pferdes Xanthos (Ilias XIV, 404ff) erfahren wir nur, dass dem homerischen Helden ein kurzes Leben geweissagt ist. Bei Homer ist Achill so verwundbar, dass seine Mutter Hephaistos aufsucht, damit der hinkende Gott ihrem Sohn eine Rüstung schmiedet (Ilias XVIII). Der Tod des Helden wird aber erstaunlicherweise nicht geschildert. In der Odyssee unterhält sich Odysseus in der Unterwelt mit dem toten Griechen (Odyssee XI, 465ff), und im letzten Gesang beschreibt Agamemnon die Leichenbestattung des Kriegers (Odyssee XXIV, 24ff). Das homerische Schweigen über die Geburts-und Todesumstände des griechischen Helden ließ seinen Nachfolgern großen Spielraum für Ergänzungen.
18Aus dem ersten Jahrhundert nach Christus stammt die Mythensammlung, die fälschlicherweise Apollodor von Athen, einem Grammatiker aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts vor Christus, zugeschrieben wird. Erst hier (Pseudo-Apollodor III, 13,6) und in einigen anderen nachhomerischen Texten16 können wir lesen, was bei der Geburt geschah. Die Meergöttin Thetis war von dem tödlichen Peleos vergewaltigt worden. Um ihren Sohn göttlich zu machen, hielt sie ihn nachts ins Feuer, um die weiche Stelle, die er von seinem Vater erhalten hatte, zu erhärten. Sie wurde dabei überrascht und musste das Kind seinem Vater überlassen. Nach einer jüngeren, aber bekannteren Variante dieser Kindheitssage tauchte die Mutter ihren Sohn in den Styx, wodurch er, ausgenommen an der Ferse, woran sie ihn hielt, unverwundbar wurde. Auf diese Fassung der Unverwundbarkeitssage spielt Statius (um 45-96) dreimal an (Achilleis I, 133ff; I, 269ff; I, 480), allerdings ohne die Ferse zu erwähnen. Aus dem unvollendeten Epos des römischen Dichters geht jedoch deutlich hervor, dass die Mutter ihren Sohn in das nasse Element tauchte und ihn dadurch teilweise unverwundbar machte:
progenitum Stygos amne seuero
armaui – totumque utinam (Achilleis I, 133-134).17
Stygios tulerit secreta per amnes
Nereis et pulchros ferro praestruxerit artus? (Achilleis I, 480-481).18
19Wenn man die nachhomerischen Texte mit der Ilias vergleicht, gewinnt man den Eindruck, als wäre Hephaistos’ Rüstung auf die Haut übertragen worden. Die antike Lokalisierung der wunden Stelle könnte übrigens mit dem bekannten Epitheton „der Leichtfüßige“ in Verbindung gebracht werden.
20Der Passauer Nibelungendichter hatte weder Kenntnis von Homer noch von Pseudo-Apollodor, da fast alle griechischen Texte im Mittelalter unbekannt waren. Die Anspielungen des Deutschen auf den Waltharius aus dem 9. oder 10. Jahrhundert zeigen dagegen eindeutig, dass er Latein verstand (vgl. NL 1756, 2344). Der belesene Dichter hatte deshalb ohne jeden Zweifel eine genaue Kenntnis von Statius’ Achilleis. Der antike Autor wurde überall in den mittelalterlichen Schulen studiert und z.B. von Konrad von Würzburg für dessen Trojanerkrieg (um 1281) ausgewertet. Mit 95 Handschriften19 ist die Überlieferung des antiken Epos ungefähr dreimal so reich wie die des Nibelungenlieds. Alles spricht dafür, dass der Nibelungendichter das Unverwundbarkeitsmotiv aus einer Statius-Handschrift entlehnte. Die Siegfriedsage weist auch in anderer Hinsicht erstaunliche Ähnlichkeiten mit der Achillsage auf. Die Verschmelzung des Unverwundbarkeitsmotivs mit dem Liebesmotiv, so wie sie im Nibelungenlied besonders stark herausgearbeitet wird, ist schon bei Statius, der von der Liebe des Helden zur Königstochter Deidamia berichtet, vorgebildet.
21Als lateinische Nebenquelle käme der im 12. Jahrhundert sehr beliebte Ovid in Frage, der allerdings nur vom Tod des griechischen Helden berichtet. Der römische Liebesdichter beschreibt, wie Achill vom Pfeil des Trojaners Paris getötet wird (Metamorphosen XII, 580-628). Bei Ovid wird das Opfer zwar nicht als unverwundbar dargestellt, aber in demselben Gesang ist von zwei anderen unverwundbaren Kriegern die Rede. Achill kämpft mit Cycnus, Neptuns Sohn, an dessen undurchdringlichem Körper die Pfeile abprellen. Achill kann seinen Gegner nur dadurch überwinden, dass er ihn erwürgt. Auf ähnliche Weise erstickt der unverwundbare Caenus unter einem Haufen von Eichenstämmen. Ovid weiß von zwei weiteren Liebesbeziehungen des griechischen Casanova. Achill stürzt sowohl die Trojanerin Briseis (Heroide III) als auch Polyxena, Priams Tochter (Metamorphosen XIII, 429-480), ins Unglück.
22Im Nibelungenlied verschmelzen die soeben besprochenen Motive mit einem dritten Mythem, das in der antiken Achillsage nicht vorkommt. Das Drachenblut taucht erst im Mittelalter auf. Die erhärtende Wirkung eines solchen Bluts kommt in einem mittelhochdeutschen Text vor, der dem Nibelungendichter wohl nicht unbekannt war. In Lamprechts Alexanderlied (12. Jh.) kämpft der Mazedonier vor Tyr mit einer Brünne, die im Drachenblut gebeizt ist. Sie ist davon so hart geworden wie Horn20. Die Nibelungenforschung hat sich schon gefragt, ob Siegfrieds Brünne nicht auf seine Haut übertragen worden sei21, aber ohne einen zusätzlichen Einfluss der Achillsage zu erwägen. In einem Kunststofflaboratorium hat man sogar versucht, einen Hornpanzer herzustellen, um die Schutzfestigkeit eines solchen Harnischs experimentell zu erproben22.
23Man hat sich auch vorgestellt, dass der Drache im Nibelungenlied nur dazu dient, die Unverwundbarkeit des Helden zu begründen23. Der eigentliche Drachenkampf wird nämlich stillschweigend übergangen und überhaupt nicht mit der Horterwerbung in Verbindung gebracht. Es handelt sich im Nibelungenlied ganz eindeutig um zwei verschiedene Kämpfe24, von denen nur der erstere ausgeführt wird25.
24Da die vorliegende sagengeschichtliche Untersuchung auf postulierten Grundprinzipien beruht, lässt sich der Einfluss der Achillsage auf das Unverwundbarkeitsmotiv des Nibelungenlieds nicht ein für allemal beweisen. Die vorläufige Darlegung zeigt außerdem, wie schwierig es ist, die Überlieferungsstränge zu entwirren und die Verwandtschaftsverhältnisse der Sagen zu entschlüsseln. Es besteht immer die Möglichkeit, dass zwei verwandte Sagenmotive auf eine gemeinsame, verlorene Quelle zurückgehen. Auch im Falle des Unverwundbarkeitsmotivs kann eine solche natürlich nicht ausgeschlossen werden. Wenn man bereit ist, die unerfassbare mündliche Überlieferung zu bemühen, kann aus Pandoras Büchse sogar eine Vielfalt von raffinierten Erklärungsmodellen entnommen werden. Die Behauptung, die Wanderung des Unverwundbarkeitsmotivs sei gradlinig, direkt und durch Handschriften erfolgt, bildet bloß das einzige Erklärungsmodell, das keine hypothetische Dichtung in Anspruch nimmt.
25Nach romantischer Auffassung ist die echte Sage ausschließlich mündlich. Dank unzähliger Generationen von unsichtbaren Sagenträgern soll die Sage von Mund zu Ohr zu uns gelangt sein, bis sie eines schönen Tages aufgezeichnet wurde. Die Erörterung des Unverwundbarkeitsmotivs macht deutlich, dass man auch die entgegengesetzte Möglichkeit ins Auge fassen kann. Wenn man den mühsameren Weg geht und sich mit den erhaltenen Textzeugen begnügt, kann in Bezug auf dieses Motiv die gesamte mündliche Überlieferung ausgeschaltet werden. Wenn es gelingt, eine Quellenfrage ohne hypothetische mündliche Vor-und Zwischenstufen zu lösen, hört die Sage auf, Sage im herkömmlichen Sinne zu sein. Die Franzosen verwenden ein passenderes Wort für diesen Begriff, wenn sie von „légende“ sprechen. Die Sage muss als eine wandelbare, aber in aller Stille geschriebene und gelesene Geschichte verstanden werden. Sie wird hauptsächlich durch Schrift, aber manchmal auch durch Bild vermittelt, niemals von Mund zu Ohr, immer von Buchstabe zu Auge.
Die nordische Sigurdsage
26Zeitlich und räumlich ging diese Untersuchung vom Nibelungenlied aus, dem ältesten Zeugnis der Nibelungensage. Vor 1200 ist die Sage auf deutschem Boden nicht belegt. Der Waltharius erzählt eine ganz andere Geschichte, obwohl die Rollenbesetzung teilweise mit der des Nibelungenlieds zusammenfällt. Das lateinische Gedicht enthält die handlungsarme Vorgeschichte, das deutsche Lied die dramatische Fortsetzung.
27In Eskilstuna, westlich von Stockholm, befindet sich eine Felsenritzung, die aus dem 11. Jahrhundert stammt und deshalb älter ist als das Nibelungenlied. Auf dem breiten Felsen sind als Comic-Strip vier Szenen aus der nordischen Sigurdsage dargestellt:
28Die Runeninschrift bezieht sich offensichtlich nicht auf die Sage, obwohl ein Namensbruder des Drachentöters erwähnt wird. Der Name „sukruþar“ steht für einen anderen Sigurd26. Die Felsenritzung stimmt mit Snorris Prosaedda (Skáldskaparmál 47), der Fáfnismál und der Völsungsasaga (VS 18-20) überein. Das sind Texte, die erst im 13. Jahrhundert verfasst27 wurden, also nach dem Nibelungenlied. In diesen norrönen Texten ist nirgends von einem Bad im Drachenblut die Rede. Folglich ist Sigurd nicht unverwundbar. Die Texte berichten alle, wie der Held ganz unkompliziert in seinem Bett getötet wird (Skáldskaparmál 48, Brot af Sigurðarkviðu 4, Sigurðarkviða in skamma 21-23, VS 32).
29Dieselben Motive wie auf der Felsenritzung sind in die Portale mehrerer norwegischer Holzkirchen geschnitzt und zeugen von der Beliebtheit der Sigurdsage, in welcher die Drachentötung wohl ursprünglich nicht mit der Horterwerbung verbunden war28. Erst Snorri, der die Nibelungensage nach Skandinavien importierte29, kam auf die Idee, die beiden Motive miteinander zu verbinden30. Bei näherer Betrachtung spricht absolut nichts dafür, dass Hagens kurzer Bericht über Siegfrieds Drachenkampf von der nordischen Sigurdsage abhängig ist. Der Drache und das erhärtende Bad können dagegen problemlos aus dem Alexanderlied und der Achilleis abgeleitet werden.
Die Sagenverschmelzungen
30Zu Beginn des 13. Jahrhunderts dichtete Snorri aufgrund der Nibelungenlieds eine nordatlantische Sagenvariante. Durch Richard Wagner gelangte diese theatralische Version später zu weltweitem Ruhm, während das ursprüngliche Gedicht auf den deutschen Sprachraum beschränkt verblieb, allerdings seit 200 Jahren mit dem Status als Nationalepos. Lange lebten beide Sagenausformungen unabhängig voneinander fort und kamen vor Wagner nur gelegentlich miteinander in Berührung.
31Im 13. Jahrhundert fand die erste Sagenverschmelzung statt. Das geschah in der norrönen Thidrekssaga (TS)31, die nach allgemeiner Meinung in Bergen unter Hakon dem Alten (1217-1263) entstand. Die moderne Forschung stimmt heute noch mehrheitlich Heuslers bald hundertjähriger These von einer verlorenen gemeinsamen Quelle zu32, aber immer öfter wird die heikle Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis einfach für unlösbar oder sogar für unrelevant erklärt33. Zu den wichtigsten Befürwortern der Theorie von einer gemeinsamen Quelle gehören heute Wisniewski34 und Andersson35, die zwar neue Argumente in die Debatte gebracht haben, ohne jedoch die dünne Grundlage von Heuslers theoretischem Gerüst wesentlich in Frage zu stellen. In dem letzten halben Jahrhundert hat eigentlich nur Panzer – ohne nachhaltigen Erfolg – versucht, am alten Kartenhaus zu rütteln36. Heuslers berühmter Stammbaum37 findet zwar kaum Anhänger mehr, aber der alte Glaube an eine gemeinsame Quelle hat sich heute wieder gefestigt und gilt allmählich als unanfechtbare Tatsache.
32Was erzählt die Thidrekssaga vom Drachenkampf? Abgesehen davon, dass der Sagaschreiber den Namen des Schmieds auf den Drachen überträgt (er nennt ihn Regin), fällt der Anfang des Berichts mit der nordischen Sigurdsage zusammen. Sigurd tötet den Drachen, brät das Fleisch, verbrennt sich den Finger und hört die Warnungen der beiden Vögel (TS 166). An dieser Stelle taucht unvermittelt ein südlicher Zug auf. Sigurd zieht sich aus und bestreicht sich mit dem Drachenblut. Von der Zaubersalbe bekommt er eine Hornhaut, bis auf eine Stelle zwischen den Schultern, nicht etwa weil ein symbolbeladenes Lindenblatt herunterfällt, sondern weil die Arme des ungestalten Helden zu kurz sind. Das Minnemotiv spielt in der Thidrekssaga keine handlungstragende Rolle. Danach tötet der unverwundbare Held gemäß der Sigurdsage den Schmied und sucht Brynhild auf, nicht etwa um die schlafende Jungfrau nach einem gefährlichen Ritt durch einen Flammenwall zu wecken, sondern nur um sein Pferd Grani zu holen. Brynhild ist in der Thidrekssaga weder Walküre noch isländische Königin. Sie besitzt lediglich ein schwäbisches Gestüt. Nach dieser prosaischen Vorgeschichte geht der Held später ohne Vergessenstrank eine völlig unromantische Ehe mit Grimhild ein.
33Bis auf die Ausschaltung des Minnemotivs folgt die Handlung im Großen und Ganzen dem Nibelungenlied (vgl. TS 226-230, 342-348, 356-394). Sigurds Hornhaut wird zwar später noch einmal erwähnt (TS 342), aber bei der Tötung im Wald spielt die Unverwundbarkeit überhaupt keine Rolle. Högni, Hagens norröner Doppelgänger, weiß offensichtlich von vornherein, wo der wunde Punkt seines Gegners sich befindet, und braucht deshalb nicht vorerst der Ehefrau durch List ein Geheimnis abzuzwingen.
34Wenn das Unverwundbarkeitsmotiv im Nibelungenlied aus der Antike stammt, so kann der in der Thidrekssaga überlieferte Bericht vom Drachenkampf und dessen Folgen nur als Verschmelzung der südlichen Nibelungensage mit der nördlichen Sigurdsage erklärt werden. Diese Erneuerung geht nicht unbedingt auf den anonymen Sagaschreiber zurück. Die ganze Jugendgeschichte kann auch eine Interpolation sein. Von den zwei Redaktionen Mb2 und Mb3, die in der ältesten Handschrift enthalten sind, wird der Drachenkampf nur in der letzteren geschildert38.
35Ob die neue Drachengeschichte auf den Dichter des Originals oder nur auf den Mb3-Redaktor zurückgeht, fest steht, dass der Norweger nicht nur Kenntnis vom Nibelungenlied hatte, sondern auch von der einheimischen Sigurdsage, die er aus schriftlichen Quellen39 kannte und an bildlichen Darstellungen bestätigt fand. Er beschloss, beide Sagen in Einklang zu bringen. Deshalb muss sich der Held der Thidrekssaga zugleich den Finger verbrennen und den Körper mit Drachenblut beschmieren. Die vermutete gemeinsame Quelle kann endgültig als Kuriosum in das reich ausgestattete Museum der überholten Nibelungenphantastereien verwiesen werden.
36Zwei Jahrhunderte später wurden beide Sagenstränge noch enger miteinander verknüpft, denn um 1450 wurde die norröne Thidrekssaga ins Schwedische übertragen. Diese Bearbeitung wird von der Forschung als Didrikskrönikan (DK)40 bezeichnet. Der Schwede hatte wie sein Vorgänger Kenntnis vom deutschen Lied. Er glich einige Namensformen an seine deutsche Vorlage an und fügte das berühmte Baumblatt an der richtigen Stelle wieder ein, allerdings nur als sinnloses Versatzstück. Die Liebessymbolik ging dabei verloren, denn der Schwede veränderte das Lindenblatt in ein Ahornblatt (DK 158: lönnalöff). Das war die zweite skandinavische Sagenverschmelzung.
37Auf deutschem Boden flossen die beiden Sagenvarianten zum dritten Mal zusammen, aber noch nicht im Rosengarten zu Worms. Dieses Lied, das im 13. Jahrhundert entstand, setzte beim Publikum die Kenntnis des Nibelungenlieds voraus. Diese parodistisch anmutende Ausmalung des einjährigen Aufenthalts, den der verliebte Siegfried als Junggeselle in Worms verbringt (NL Av. 3-5), spielt mehrmals auf die Hornhaut an, aber ohne das Bad im Drachenblut explizit zu erwähnen. Erst gegen 1530 zogen sich beide Gestaltungen der Nibelungensage wie Magneten wieder an.
38Das Lied vom Hürnen Seyfrid (HS)41, das in zahlreichen Drucken aus dem 16. Jahrhundert überliefert ist, setzt schon wegen der Namensform des Titelhelden die Kenntnis des Nibelungenlieds voraus. Der älteste Textzeuge ist Kunegund Hergotins undatierter, kurz nach 1528 erschienener Nürnberger Druck. Im Allgemeinen wird damit gerechnet, dass ein mündliches Lied schon im 13. Jahrhundert existierte und parallel zum schriftlich fixierten Nibelungenlied die folgenden drei Jahrhunderte mehr oder weniger unverändert überlebte42.
39Als die neue deutsche, auf den Drachentöter zentrierte Ausformung der Sage im Druck erschien, versank das weitschweifige Minnegedicht rasch in Vergessenheit. Das unzeitgemäße Nibelungenlied wurde von der schön illustrierten Kurzform der Sage verdrängt.
40Wenn die Forschung in Bezug auf das Lied vom Hürnen Seyfrid eine lange mündliche Überlieferung behauptet, so werden die Übereinstimmungen mit der nordischen Sage auf allzu bequeme Weise erklärt und die eigentliche Quellenfrage nicht ernsthaft in Angriffgenommen. Der Anfang des kurzen Lieds stimmt viel besser mit der Thidrekssaga und der Didrikskrönikan überein als mit dem Nibelungenlied. Seyfrid kommt zu einem Schmied, zerspaltet den Amboss, schlägt um sich herum, wird in den Wald geschickt, um Holz zu holen, tötet einen Drachen, macht ein großes Feuer, verbrennt sich den Finger, beschmiert sich den Körper mit geschmolzener Drachenhaut und bekommt auf diese Weise seine Hornhaut (HS 4-10). Alle Züge finden wir in beiden skandinavischen Texten wieder (TS 57, 164-166; DK 55, 155-158), bis auf die geschmolzene Drachenhaut, die eine Weiterentwicklung des Unverwundbarkeitsmotivs darstellt.
41Als Quelle für diese Erneuerung kommt der Jüngere Titurel aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert in Betracht. Hier wird das nur im Nibelungenlied belegte Bad im Drachenblut kritisiert (Str. 3364):
So singent die blinden, daz Sifrit [Berliner Hs. X: Seifrid] hurnin were, Durch daz er uber winden kund ouch einen tracken vreisebære, Von des bluo te wurd sin vel verwandelt
In horne stark fur wapen. die habent sich der warheit missehandelt.43
42Die Drachenmenschen, die in den folgenden Strophen erwähnt werden, erwerben sich eine Hornhaut auf eine ganz andere Weise. Ihre Härte stammt von einem grünen Zauberkraut, das sie einnehmen. Doch durch Hitze lässt sich ihre Hornhaut weich machen (Str. 4173) wie im Lied vom Hürnen Seyfrid.
43Als terminus ante quem für das Lied vom Hürnen Seyfrid wird im Allgemeinen das sog. Darmstädter Aventiurenverzeichnis von ca. 1400 angesehen. Es belegt allerdings nur, dass Kriemhild in einem bestimmten Überlieferungszweig des Nibelungenlieds durch einen Drachen entführt wurde. Diese durch das Aventiurenverzeichnis belegte Interpolation ist kein sicherer Beweis für die Existenz des Lieds vom Hürnen Seyfrid. Der Abschnitt von der Drachenentführung kann im Gegenteil gerade dem Dichter des Lieds vom Hürnen Seyfrid als Vorlage gedient haben. Der Entführungssage (Str. 17-166) ist im Lied vom Hürnen Seyfrid die recht unabhängige Vorgeschichte (Str. 1-16) vorangestellt, die mit der Thidrekssaga und der Didrikskrönikan zusammenpasst.
44Die postulierte mündliche Überlieferung, die einer ratlosen Forschung als Notbehelf dient, kann nicht widerlegt werden. Einleuchtender erscheint aber die Annahme, dass ein Deutscher die vom Nibelungenlied abweichende kontinentalnordische Sage in Erfahrung brachte und dass er sie zumindest für die Anfangsstrophen auswertete. Eine Sagenwanderung in südlicher Richtung kommt in diesem Fall absolut in Betracht. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts bestanden zwischen Deutschland und Skandinavien in literarischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht rege Beziehungen, die einen solchen Einfluss durchaus plausibel machen. Vor allem wurden die nordischen Länder durch die Reformationsbewegung sehr stark an die lutherischen Städte Deutschlands gebunden44. Endlich ist ein halbes Jahrhundert später eine Handschrift der Didrikskrönikan in Nordschleswig, wo Vedel ab 1581 wohnte, indirekt belegt.
45Sonderbar ist der Umstand, dass gerade der Anfangsteil des Lieds vom Hürnen Seyfrid in einer Handschrift enthalten ist, die erst 1996 in Stockholm entdeckt wurde. Sie ist zwischen 1530 und 1560 entstanden und geht allem Anschein nach auf eine handschriftliche Vorlage zurück45. Eine livländische Provenienz der Stockholmer Handschrift ist wahrscheinlich, aber nicht gesichert46. Die erschlossene handschriftliche Vorlage, die älter sein muss als Hergotins Nürnberger Druck, könnte also aus Stockholm stammen, wo sich seit 1450 eine Handschrift der Thidrekssaga befand und wo auch die Didrikskrönikan entstand. Der skandinavische Einfluss auf die Anfangsstrophen des Lieds vom Hürnen Seyfrid lässt sich problemlos mit einer schriftlichen Vorlage erklären, die so aussah wie die erhaltene Stockholmer Handschrift. Wenn das Lied vom Hürnen Seyfrid von der Thidrekssaga oder deren schwedischer Variante beeinflusst ist, so handelt es sich wohl um das einzige historisch belegte Motiv, das in älterer Zeit von Skandinavien ausgewandert ist, allerdings nicht auf eigenen Beinen.
46Melusine musste sich bis 1603 mit Geduld wappnen, bevor sie in der Nibelungensage Aufnahme fand. Vorher verschmolz die kontinentalskandinavische Mischsage ein viertes Mal mit ihrer südlichen Schwester, während die nordatlantische Spielart auf Island und in Norwegen eine ziemlich isolierte Existenz führte. Von der Vulkaninsel ist die Nibelungensage nur einmal ausgewandert oder eher verschifft worden. Zwischen dem 13. und dem frühen 19. Jahrhundert ist irgendwann (wohl eher gegen Ende dieses langen Zeitabschnitts) eine Dünung zu den Färöern gespült, wo das lange färöische Sigurdlied im Winter 18181819 aufgezeichnet wurde. Dieses Lied geht auf die Völsungasaga zurück, enthält aber auch in seinem dritten Teil verschiedene aus der kontinentalen Thidrekssaga stammende Motive und ist sogar vom ersten, damals nagelneuen Druck der Hvenischen Chronik (1818) beeinflusst47. Auf der windumsausten Inselgruppe vereinten sich zum fünften und letzten Mal die verschiedenen Stränge der Nibelungensage, wenn man von modernen Bearbeitungen wie Wagners Ring des Nibelungen absieht.
47In Bezug auf den furchtlosen Helden hält sich der Meister aus Bayreuth übrigens bis auf die Namensform Siegfried recht treu an Snorris Nibelungensage, denn er weigerte sich, den Welterlöser zu einem hässlichen hornhautüberzogenen Monster zu machen. Deshalb verwandelte er Brünnhilde in eine Zauberin, die mit ihrem „Zauberspiel“ ihren Liebhaber unverwundbar macht. Der zu brennender Liebe gewordene Flammenwall hat den furchtlosen Helden überall durch metaphorische Liebesverbrennung erhärtet. Nur der Rücken ist noch weich, denn da wurde Siegfried beim Flammenritt nicht versengt48.
Sigfrids Unverwundbarkeit in der Hvenischen Chronik
48Die vierte und komplizierteste Sagenverschmelzung erfolgte auf dänischem Boden. Anlass dazu war ein Tischgespräch auf der Insel Hven, wo Vedel im Juni 1586 seinen Freund Tycho Brahe besuchte. Der berühmte Astronom hatte die Insel als Lehn erhalten, und hier beobachtete er 21 Jahre lang (1576-1597) den dänischen Sternhimmel. Am Tisch befand sich auch Königin Sophie, die sich für Balladen interessierte, wie damals viele Adlige. Tycho Brahe erzählte der Königin von den Liedersammlungen seines Freunds, und Vedel versprach ihr eine Reinschrift von den Liedern, die er nach eigener Aussage „zu Hause“ hatte liegen lassen49.
49Drei Liederhandschriften dienten dem dänischen Historiker fünf Jahre später als Vorlage für sein Hundertballadenbuch. Vermutlich wurden viele Lieder erst nach dem Hvener Besuch gedichtet und eingetragen, womöglich ausgerechnet, um das voreilige Versprechen einzulösen. Nach der communis opinio gelten die meisten dänischen Balladen allerdings als echte „Volkslieder“. Im Falle der Grimildballade stellt die rationelle Philologie dieses Postulat in Frage, obwohl eine derartige Skepsis von der orthodoxen skandinavischen Balladenforschung als Ketzerei betrachtet wird50.
50Die Grimildballade thematisiert nur den zweiten Teil der Nibelungensage und setzt also erst nach dem Tod des unverwundbaren Helden ein. In seiner Einleitung zu der Ballade verwies Vedel allerdings seinen Leser auf ein „Heldenbuch“, in welchem man sich über Sigfred Horn, Grimilds ersten Mann, informieren könne51. 1603 diente die Grimildballade als Hauptvorlage für Venusins Hvenische Chronik. Der Humanist zog aber zusätzliche Quellen hinzu, um die Sage mit dem fehlenden ersten Teil zu ergänzen. Als Venusin vom Wormser Turnier berichtete, hielt er sich an den Rosengarten zu Worms, der durch die zahlreichen Drucke des Straßburger Heldenbuchs verbreitet wurde. Zwei Exemplare davon befinden sich heute noch in Kopenhagen. Wie gesehen spielt diese Quelle nur auf die Hornhaut an, ohne deren Ursprung zu erklären.
51In Bezug auf die Unverwundbarkeit besaß Venusin zwei zum großen Teil übereinstimmende Quellen. Er kannte das deutsche Lied vom Hürnen Seyfrid und die schwedische Didrikskrönikan. Beide Texte wurden für andere Einzelmotive ausgewertet, aber die Szene mit dem erhärtenden Drachenblut fand keine Aufnahme. Venusin schaltete in seiner eigenständigen Prosaerzählung viele Gestalten aus, vor allem Brünhild und Gunther, aber auch der Drache fiel seiner kritischen Feder zum Opfer. Es ging ihm nämlich nicht darum, den alten Helden zu verherrlichen. Er wollte seinen Sigfrid Horn zu einem lüsternen dummen Riesen verwandeln. Es war vielleicht seine Absicht, auf diese Weise Tycho Brahe anzuprangern, der jahrelang zusammen mit einer unadligen „Beischläferin in böser Lebensführung“, d.h. ohne kirchliche Trauung, gewohnt hatte, wie ein Gerichtsprotokoll vom 22. September 1597 vermerkt52. Als Vorbild für Sigfrid Horn kommt auch König Friedrich II. in Frage.
52In der Hvenischen Chronik ist Sigfrid Horn in jeder Hinsicht ein sinnlicher Schwächling, der an seinem unkontrollierten Sexualtrieb untergeht53. Um eine symbolische Entsprechung zum Quellentod zu schaffen, führte Venusin Melusine in die Nibelungensage ein, die sonst nie mit der französischen Fee in Berührung gekommen ist. Innerhalb der Nibelungensage sind Verschmelzungen zwischen den beiden Überlieferungssträngen wie erörtert häufig, und schon die ursprüngliche Sage, so wie wir sie im Nibelungenlied erfassen können, ist eine beliebige, aber wohlüberlegte Vermischung unterschiedlicher Gestalten und Begebenheiten. Doch grundsätzlich werden geographisch und chronologisch getrennte Stoffkreise normalerweise streng auseinandergehalten. Alexander, Eneas, Tristan, Roland und Reinhart Fuchs haben in keinem mittelalterlichen Text die Gelegenheit, sich kennen zu lernen.
53Der launische Possenreißer Venusin spielt mit der Publikumserwartung. Seine Sagenverschmelzung ist nicht nur beabsichtigt, sondern bewusst provokatorisch. Sein nie veröffentlichtes Büchlein war für einen sehr engen Kreis von Freunden, ja sogar für den König bestimmt. Die Forschung war bisher zu seriös, um die humoristische Absicht des Verfassers zu durchschauen. Das kleine kultivierte Publikum, das mit dem gewöhnlichen Bad im Drachenblut vertraut war, hat sich an der Melusinestelle ohne jeden Zweifel amüsiert.
Das Buch der Liebe als Vorlage für die Hvenische Chronik
54Die extreme Kürze der besprochenen Stelle macht eine genaue Identifizierung der Quelle schwierig. Verschiedene Fassungen der Melusinesage kommen in Frage. Da der dänische Text den Namen angibt, kann die Quelle nicht älter sein als der französische Roman von Jehan d’Arras. Dessen Buch von 1393 erzählt von der Fee Melusine, die als Urahnin des Lusignan-Geschlechts dargestellt wird. Die Stammburg aus dem 10. Jahrhundert (25 km südwestlich von Poitiers) wurde 1575, nach zwei Belagerungen im Laufe der Religionskriege, endgültig von Heinrich III. niedergerissen. Da der französische Dichter seinen Roman dem Herzog von Berry Jean, Graf von Poitou, widmet, ist der Text wohl auch in einer der zahlreichen Burgen dieses Kunstliebhabers entstanden, obwohl der Verfasser gegen 1400 als Pariser Buchhändler urkundlich belegt ist. Die vorher englische und erst 1374 zurückeroberte Festung Lusignan ist als Entstehungsort durchaus denkbar.
55Der dänische Humanist kann den französischen Prosaroman gekannt haben, der zwischen 1478 und 1597 zweiundzwanzig Auflagen erlebte und auch in zehn Handschriften überliefert ist. Er beherrschte die französische Sprache gut genug, um 1600 ein (nicht erhaltenes) Huldigungsgedicht mit dem Titel Vive le Roy zu dichten. Er hatte auch die Möglichkeit, die Fabel von Jehan d’Arras in einer anderen Sprache zu lesen. Der französische Roman wurde mehrmals übersetzt (1489 in Spanien, 1499 in den Niederlanden, um 1500 in England). Das kurz nach 1401 von Coudrette verfasste französische Versepos kommt kaum in Betracht, da es nur handschriftlich überliefert ist. Als Entstehungsort für diese Fassung erscheint neben Paris vor allem Parthenay als wahrscheinlich, da der Roman vom Herrn von Parthenay Guillaume Larchevêque († 1401), einem Angehörigen des Lusignan-Geschlechts, in Auftrag gegeben wurde. Roach hat 20 Handschriften aufgelistet, die sich alle in Frankreich, Großbritannien oder in den USA befinden54.
56Coudrettes Versroman diente als Vorlage für den deutschsprachigen Prosaroman, der 1456 vom Berner Thüring von Ringoltingen verfasst wurde. Die Überlieferung dieser Bearbeitung ist außerordentlich reich: sechzehn Handschriften, zehn bis zwölf Inkunabeln vor 1500, sechzehn Drucke zwischen 1506 und 1587, also insgesamt mindestens 42 handschriftliche oder gedruckte Auflagen in fast unveränderter Gestalt55.
57Eine bevorzugte Stellung nimmt die letzte Druckfassung ein. 1587 erschien die Erzählung zusammen mit zwölf anderen Liebesgeschichten in dem Buch der Liebe des Frankfurter Verlegers Sigmund Feyerabend. In diesem Druck erscheint, wie im dänischen Text, die latinisierte Namensform Melusina, während die erste handschriftliche Fassung noch an der ursprünglichen französischen Form Melusine festhält.
58Im Gegensatz zur Nibelungensage hatte sich der Melusineroman seit Jehan d’Arras’ Originalfassung erstaunlich wenig verändert. Schon die beiden französischen Urfassungen sind inhaltlich ziemlich ähnlich. Wir können uns deshalb damit begnügen, stellvertretend für den ganzen Textkomplex den letzten illustrierten deutschen Druck unter die Lupe zu nehmen. Er wird im Folgenden als Melusina bezeichnet56.
59In der Nähe von Poitiers (bei Jehan d’Arras im Wald von Colombiers, 20 km nördlich von Poitiers) begegnet der junge Grafensohn Reymund drei schönen, edlen Jungfrauen, die an einem kühlen Brunnen stehen, dem „Durstbrunnen“. Der junge Mann hat soeben aus Versehen seinen Onkel getötet, und vor lauter Traurigkeit vergisst er die Frauen zu grüßen. Melusina, das schönste der drei Mädchen, wirft ihm seine Ungezogenheit vor. Beide versöhnen sich allerdings nach einer langen Unterhaltung, und Reymund reitet fort, ohne sich im Brunnen zu baden (Melusina, Kap. 6). Er wird später die Fee heiraten. Die fruchtbare Gattin schenkt ihrem Mann eine zehnköpfige, aber missförmige Nachkommenschaft. Dadurch werden neue Geschlechter begründet. Es scheint also eine eher glückliche Ehe zu sein. Nur samstags zieht sich Melusina in ihre Kammer zurück und verbietet Reymund zu fragen, was sie dort macht. Er wird eines Tages von seinem Bruder misstrauisch und eifersüchtig gemacht und übertritt das Verbot. Mit seinem Schwert macht Reymund ein Loch in die Tür und beguckt seine Frau, während sie nackt im Bad sitzt. Er entdeckt, dass sie sich vom Nabel hinab in eine Schlange verwandelt hat (Melusina, Kap. 37). Etwas später erfährt sie den Betrug und muss ihren Mann verlassen (Melusina, Kap. 45). Wie wir es erst am Ende des Romans erfahren werden, lastet ein Fluch auf der Titelheldin und ihren beiden Schwestern Palestina und Meliora. Die drei haben nämlich ihren Vater Helmas, König von Albanie, getötet (Melusina, Kap. 50).
60Die Beguckungsszene wird durch eine interessante Illustration veranschaulicht, die zweimal benutzt wird und am Anfang des Romans als bildhafte Verschmelzung getrennter Szenen dient. Auf der Illustration badet sich Melusina draußen in einem Brunnen neben einem feuerspeienden Drachen. In der Begegnungsszene, die auch von einer Illustration begleitet wird, ist Melusina schön gekleidet und steht ausdrücklich bey demselbigen Brunnen (Melusina, Kap. 6).
61In keiner der beiden Episoden ist von einem Drachen die Rede. Der Drache scheint von einer späteren Episode zu stammen, in der Palestina von ihrer Mutter zur Strafe zusammen mit einem Schatz in einen Berg eingesperrt worden ist. Hier wird sie von einem Drachen bewacht. Das entsetzliche Tier wird im Kampf mit einem englischen Ritter dargestellt (Melusina, Kap. 62).
62Wenn man bedenkt, dass in der Melusinesage auch Riesen auftreten, die im Druck von 1587 sogar auf drei Illustrationen dargestellt werden57, wird klar, dass in diesem illustrierten Druck alle Voraussetzungen für eine Einfügung der jungen französischen Dame in die alte deutsche Fabel vereint waren. Auf bildhafter Grundlage verdrängte Melusina den Drachen der Nibelungensage.
63Als Vorlage für den Sigfridteil der Hvenischen Chronik diente ein Druck des Lieds vom Hürnen Seyfrid. Wenn man den Holzschnitt betrachtet, auf dem der Drachentöter sich mit Blut beschmiert58, kann es kaum verwundern, dass das alte Unverwundbarkeitsmotiv aussortiert wurde. Der nackte, knabenhafte Held sieht geradezu lächerlich aus und hat wenig mit einem Riesen zu tun!
64Venusin war kein akribischer Literaturwissenschaftler, sondern ein wahrheitsliebender Historiker, der sowohl Nibelungen- wie Melusinesage von ganzem Herzen verabscheute. Seine grenzenlose Abneigung gegen solche nutzlosen Fabeln bringt er in einer theoretischen, aber humoristischen lateinischen Abhandlung zum Ausdruck59. Am 26. und 27. März 1603 schrieb er die Hvenische Chronik ins Reine, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er mit diesem Geniestreich das erste Meisterwerk der dänischen Literatur schuf. Der Historiker gab sich nicht die Mühe, den Frankfurter Druck sorgfältig zu lesen. Er hat ihn nur oberflächlich durchblättert, um die Illustrationen und zur Not die Kapitelüberschriften zur Kenntnis zu nehmen. Mehr brauchte er nicht, um auf die glückliche Idee zu kommen, das Drachenblut durch Melusinas Brunnenwasser zu ersetzen.
65Der englische Ritter, der gegen Palestinas Drachen kämpft, kann den Dänen an seinen Sigfrid erinnert haben. Die mit sexueller Metaphorik schwer beladene Szene, wo Reymund die Tür durchsticht und unbemerkt seine nackte Frau beguckt, liefert auch einen Schlüssel zum Verständnis der originellen Erneuerung der Nibelungensage. Reymund, der schmachtende Voyeur, kann mit Sigfrid, dem unersättlichen Schürzenjäger, gleichgesetzt werden. Letztendlich ist die sinnliche Melusine rein körperlich mit einem Drachen verwandt!
66Den Schlussstein bildet der auch sexuell konnotierte Durstbrunnen, wo die künftigen Eheleute sich zum ersten Mal treffen. Im Buch der Liebe können wir lesen, dass Reymund zu einem külen brunnen kommt (Melusina, Kap. 6). Im Lied vom Hürnen Seyfrid stirbt der Held an eynem prunnen kalt (HS 177). Indem der geniale Sagenbearbeiter das Brunnenbad zur Ursache der Unverwundbarkeit machte, arbeitete er den Parallelismus zwischen dem erhärtenden Bad und dem Waldtod heraus. In beiden Fällen hat der lüsterne dänische Held Durst nach Sex und geht im zweiten Fall an seiner Wollust zugrunde. Die Wiedereinführung des Wassermotivs ist schließlich auch als Reminiszenz an die Achillsage zu erklären. Der dänische Humanist hatte eine hervorragende klassische Bildung und kannte sowohl Statius als auch die griechischen Quellen zur Achillsage. Boer hatte völlig Recht, als er die Melusinestelle als „jung und gelehrt“ bezeichnete. Als Statius 1603 zum zweiten Mal benutzt wurde, war der Zirkel nach 1508 Jahren geschlossen.
Andere Fassungen der Melusinesage
67In Bezug auf die Verschmelzung der Melusinesage mit der Nibelungensage müssen drei zusätzliche Überlieferungsstränge kurz erörtert werden.
68Martin Luther erzählt in einer seiner Tischreden, er habe vom Kurfürsten von Sachsen eine Geschichte gehört: Ein Edelmann hatte eine schöne Frau. Sie starb, weil er die schlechte Gewohnheit hatte, zu fluchen. Nachts besuchte die Verstorbene ihren Mann mehrmals. Nachdem er versprochen hatte, nicht mehr zu fluchen, blieb sie auch tagsüber und bekam Kinder mit ihm. Eines Tages konnte er sein Versprechen nicht halten, und die Frau verschwand für immer60. Der abergläubige Reformator erklärt, dass er diese Frau für den Teufel und ihre Kinder für Teufelsbrut hält, und er vergleicht sie mit Melusina zu Lucelberg, die er als Succubus bezeichnet und auch bei einer anderen Gelegenheit erwähnt61. Vielleicht denkt Luther an eine Örtlichkeit in Schlesien, aber da keine schlesische Melusinesage überliefert ist, kann ebenfalls erwogen werden, ob nicht Luther eine oberflächliche Kenntnis von Thüring von Ringoltingens deutscher Übersetzung hatte und das dort mehrmals als Lutzelburg bezeichnete Luxemburg als die Heimat der Fee missverstand.
69Drei Jahre nach Luthers Tod wurde die Erzählung gegen ihn benutzt. In seiner Biographie stellte Johannes Cochlaeus seinen verhassten Gegner als Satans literarischen Nachkommen dar62. Der deutsche Humanist behauptete, der Teufel habe Margrethe Luther begattet. Viele Jahre später habe die Mutter des Reformators es angeblich bereut, dass sie das wilde und merkwürdige Kind nicht sofort in der Wiege erwürgt habe63. Cochlaeus prangerte also Luther als Teufelskind an. Da der Reformator die Teufelskinder selbst mit Melusines Nachkommenschaft gleichgesetzt hatte, kann er im übertragenen Sinne als der elfte Sohn der Fee betrachtet werden!
70Es ist nicht unmöglich, dass der belesene Venusin als junger Wittenberger Student oder später als protestantischer Pfarrer auf Luthers sonderbare Anspielungen auf die Melusinesage stieß. Luthers sinnliche und teuflische Melusina mit der latinisierten Namensform passte als Folie besonders gut zur Hvenischen Chronik, wo Sigfrid sich nach dem Brunnenbad zu einem dämonischen Sexualverbrecher mit Hornhärte „an allen Gliedern“ verwandelt.
71In Luxemburg ist eine völlig abweichende Fassung belegt. Die luxemburgische Gestalt der Melusinesage verdient insofern unsere Aufmerksamkeit, als ein gewisser Siegfried, wie im dänischen Text, Reymunds herkömmliche Rolle übernimmt. Sie ist allerdings unter allen Umständen so jung, dass ein Einfluss auf die Hvenische Chronik in keinem Fall in Frage kommt.
72Wie in der ursprünglichen Sage handelt es sich in Luxemburg um einen Gründungsmythos. Es geht nicht mehr um das Lusignan-Geschlecht, sondern um die Begründung Luxemburgs. Graf Siegfried darf Melusina nur auf die Bedingung hin heiraten, dass er sie einmal im Monat allein lässt. Am Tage nach der Hochzeit zaubert sie auf dem Bockfelsen der Stadt Luxemburg eine Burg hervor. Am ersten Mittwoch in jedem Monat zieht sie sich in die Kasematten der Burg zurück, aber eines Tages beguckt der neugierige Ehemann durch das Schlüsselloch seine Frau und sieht, dass sie in einer Badewanne sitzt und einen Fischschwanz hat. Vor Überraschung stößt er einen Schrei aus. Sie hört ihn, springt zum Fenster hinaus und verschwindet in der Alzette, dem kleinen Fluss, der die Hauptstadt des Großherzogtums durchfließt. Die Badewanne verwandelt sich zu Stein. Alle sieben Jahre kehrt sie mit einem kleinen goldenen Schlüssel im Mund zurück. Wer den Schlüssel erhascht, wird sie vom Fluch befreien und darf um ihre Hand anhalten.
73Es liegt offenbar64 keine wissenschaftliche Arbeit zur kurzen luxemburgischen Melusineversion vor, in welcher die ursprüngliche Fabel zu einer anspruchslosen Lokalsage herabgesunken ist. Ein luxemburgischer Romantiker, der wohl auf die benachbarte Loreleysage neidisch war, hat allem Anschein nach die französische Fee zu einer einheimischen Meerfrau verwandelt und die Sage an die örtlichen Sehenswürdigkeiten gebunden. Es sei denn, dass die kleine Erzählung von einem schlauen Tourismusagenten erfunden wurde.
74Als historisches Vorbild für den Siegfried der Lokalsage dient Sigefroid (922-998), Graf der Ardennen. 963 erhielt er vom St.-Maximin-Kloster in Trier den kleinen Bockfelsen im Alzettetal. Er baute auf den Ruinen einer römischen Festungslage Lucilinburhuc, wörtlich die „kleine Burg“. Er ist der Begründer des Hauses Luxemburg, das 1437 erlosch.
75Anlass zur Sagenerneuerung ist zweifellos die nicht unbeträchtliche Rolle, die Luxemburg im Melusineroman spielt. Im Frankfurter Druck eilen Melusinas Söhne Reinhart und Anthonius nach Luxemburg, um der verwaisten luxemburgischen Herzogstochter Christina, der einzigen Erbin der Stadt Luxemburg, zu Hilfe zu kommen. Nachdem die Brüder die schöne Jungfrau vom elsässischen König befreit haben, heiratet Anthonius sie (Melusina, Kap. 21-25).
76Das Haus Lusignan war mehrfach mit dem Haus Luxemburg verschwägert. 1240 heiratete Margarete von Bar (um 1220-1275) den Grafen Heinrich von Luxemburg (um 1220-1281). Margaretes Tante war mit einem Lusignan verheiratet gewesen, und ihr Onkel Robert von Dreux (1185-1233) war der Urgroßvater des Urgroßvaters von jenem Jean von Mathefelon aus dem Parthenay-Zweig des Lusignan-Geschlechts, in dessen Dienste Coudrette seinen Versroman vollendete. Jean von Mathefelon war der Sohn von Coudrettes ursprünglichem Auftraggeber, der während der Abfassung starb. Da Graf Robert von Dreux seinerseits Urenkelsohn Ludwigs VI. (1081-1131), genannt der Dicke, war, floss in den Adern des Franzosen Jean von Mathefelon das gleiche königliche Blut wie in den Adern der Vertreter des Hauses Luxemburg ab 124065.
77Nach Skandinavien wanderte die Melusinesage mit dem Buch der Liebe oder einem anderen deutschen Druck ein. Das geschah aber erst nach der Abfassung der Hvenischen Chronik, die als die erste nordische Bearbeitung der Sage anzusehen ist. Nur eine sehr abgekürzte Fassung wurde 1613 in Dänemark bekannt, als der Adelsmann Claus Pors († 1617) von der Insel Lolland eine Art Hauspostille herausgab, die auch eine dänische Übersetzung von Thüring von Ringoltingens Roman enthielt. Obwohl für diesen Text eine handschriftliche Vorlage erwogen worden ist66, erscheint ein deutscher Druck plausibler. Die dänische Kurzfassung der Sage, welche die Heldentaten der Söhne ausmerzt, wurde Ausgangspunkt für 21 weitere dänische Drucke, sowie für schwedische (ab 1736) und isländische Bearbeitungen67.
Bilanz
78Es lohnt sich abschließend, eine Bilanz über die mutmaßlichen Wanderungswege der beiden besprochenen Sagen zu ziehen. Da Homer das Unverwundbarkeitsmotiv noch unbekannt war, beginnt die Reise mit Statius in Neapel (um 95 n. Chr.). Im Passauer Bistum (1200) wurde das Unverwundbarkeitsmotiv in die Nibelungendichtung aufgenommen. Über Bergen (um 1250) und Stockholm (um 1450) erreichte die wandelbare Nibelungensage Dänemark (um 1580) in der Form einer Ballade, in welcher das Unverwundbarkeitsmotiv verloren gegangen war. Die Ballade wurde in Nordschleswig (1591) gedruckt.
79Das Motiv der Hauterhärtung schlug im Mittelalter einen teilweise unabhängigen Weg ein. Von Neapel aus erreichte es über Passau Bergen, wo es zuerst mit der Sigurdsage zusammenstieß. In Stockholm wurde die kontinentalskandinavische Mischfassung dank einer Entlehnung aus dem Nibelungenlied mit dem Baumblattmotiv angereichert. In Nürnberg (um 1530) floss dieser skandinavische Überlieferungsstrang wieder mit der deutschen Nibelungensage zusammen.
80Der Weg der Melusinesage nach Kopenhagen ist einfacher, aber mit größerer Unsicherheit behaftet. Vermutlich entstand die Sage in Lusignan (1393) und gelangte über Parthenay (1401) in den deutschen Sprachraum. Mit Bern als Ausgangspunkt (1456) breitete sich die handschriftliche Überlieferung nach Augsburg (1474) aus. Die komplizierte Druckgeschichte führte die Sage in fast unveränderter Gestalt nach Frankfurt (1587), wo sie im Buch der Liebe Aufnahme fand.
81Die drei Druckquellen wurden 1603 in der Hvenischen Chronik vereint, deren Verfasser auch auf eine Handschrift der Didrikskrönikan zurückgriff. Unter seiner Feder fand eine ganz außergewöhnliche Sagenverschmelzung statt.
82Nach der Entwirrung der komplexen Wanderungswege hat ein altes Rätsel endlich seine Lösung gefunden. Schon Wilhelm Grimm hielt den dänischen Prosatext für eine „seltsame vermischung“ von Sagenbestandteilen68. Bis heute hat sich in Frankreich nur ein Forscher mit der dänischen Erzählung befasst. Er tat es mit unleugbarem Widerwillen „pour mieux faire voir comment les traditions s’altèrent en passant d’un pays à l’autre, ou en se transmettant oralement de génération en génération“69. Kurz bevor die Hvenische Chronik für ein Jahrhundert in fast völlige Vergessenheit versank, drückte ein verzweifelter deutscher Forscher die Hoffnung aus:
[…] mit der Zeit auf Grund genauer Vergleichung die vielverschlungenen Fäden zu entwirren, die noch in der Geschichte der alten deutschen Nibelungensage im Norden irreleiten, und eine der wichtigsten Fragen über unsere größte nationale Sage der Lösung näher zu führen, worüber trotz dem fast unübersehbar Vielen, das darüber geschrieben ward, noch tiefes Dunkel herrscht.70
83Wie ein Geschwür schwoll seither der Buckel der Sekundärliteratur ins Maßlose an, ohne dass die Forschung dem Ziel im geringsten näher kam, ganz im Gegenteil. Hoffentlich wird die Nibelungenforschung in Zukunft die gespenstische Mündlichkeit etwas weniger bemühen und dem Licht der Wahrheit stattdessen entgegenstreben auf dem engen, aber sicheren Pfad der Schriftlichkeit.
Notes de bas de page
1 Peter Hvilshøj Andersen, Die Nibelungen zogen nach Dänemark, Frankfurt/Main, 2007 [mit Neuübertragung und vollständiger Bibliographie]. Ders: „Die Abweichungen der Hvenischen Chronik von der Nibelungensage: Willkürliche Entstellungen oder zielgerichtete Veränderungen?“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 16 (2007).
2 In einem noch ungedruckten Aufsatz befürworte ich die These, dass das Nibelungenlied und die Klage eine einheitliche Dichtung bilden, die dem geheimnisvollen „Meister Konrad“ zugesprochen werden kann. Sein geniales Werk ist m.E. keine Heldendichtung, keine höfische Verschriftlichung uralter mündlicher Sagen, sondern eine noch missverstandene Gegenwartsfabel geistlicher Prägung.
3 „Nun traf es sich ganz nach Wunsch, dass zu Worms ein Riese namens Sigfrid Horn war, so genannt, weil niemand eine Wunde auf ihn hauen konnte, außer an einer Stelle auf seinem Rücken, denn solch eine Hornhärte war an all seinen Gliedern. Das war ihm von einem Brunnen widerfahren, worin er einmal badete. Den Brunnen hatte ihm die Waldfrau Melusina gezeigt.“ Originaltext nach Otto Luitpol Jiriczek (Hg.), Die Hvenische Chronik in diplomatischem Abdruck nach der Stockholmer Handschrift nebst den Zeugnissen Vedels und Stephanius und den Hvenischen Volksüberlieferungen, Berlin, 1892, S. 2 (= Acta Germanica 2,2). Übersetzung nach Andersen (Anm. 1), S. 120.
4 Diese Prinzipien bilden die Grundlage einer neulich definierten Wissenschaft, die ich die „rationelle Philologie“ genannt habe. Dieses Analysewerkzeug, das die mündliche Überlieferung nicht leugnet, sondern nur außer Acht lässt, macht deutlich, dass die dänische Lombardensage durch lückenlose Schriftlichkeit entstanden sein kann und dass die dänische Lombardenballade keine mittelalterliche „Volksballade“ (folkevise) ist, sondern eine politische Renaissancedichtung. Vgl. Peter Hvilshøj Andersen: Fra viniler til Vedels „Gullandske Krønike“, en tusindårig vandring. In: Renæssanceforum 3 (2007) [http://www.renaessanceforum.dk/]. Wenn die Entstehung und Entwicklung einer Sage anhand der rationellen Philologie erklärt werden kann, dann kommt es den Befürwortern des Mündlichkeitspostulats zu, ihre mutmaßlichen Vor- und Zwischenstufen unter Beweis zu stellen. Einfache Stammbäume, die nur überlieferte Quellen berücksichtigen, sind immer vorzuziehen. Der tausendjährige Stammbaum über die Quellen zur dänischen Lombardensage ist absolut gradlinig und zweiglos.
5 Richard Constant Boer, Attilas Tod in deutscher Überlieferung und die Hvenische Chronik. In: PBB 34 (1909). S. 230.
6 Jan de Vries, Altnordische Literaturgeschichte. 2 Bde, Berlin, 1941-1942 (= Grundriss der germanischen Philologie 15-16). Zweite, völlig neubearbeitete Auflage Berlin, 1964-1967, Bd. 2, S. 130.
7 Zur Entstehung der Grimildballade, vgl. Andersen (Anm. 1). S. 159-211.
8 „Die Sage ist eine eigentümliche Form der deutschen Sagengruppe der Nibelungensagen und ist im Mittelalter eingewandert“. Axel Olrik: Hvenske Krønike. In: Salmonsens store illustrerede Konversationsleksikon. 19 Bde. København, 1893-1911, Bd. 9, S. 176 [=21915-1930. Bd. 12, S. 2-3].
9 Carl S. Petersen & Wilhelm Andersen, Illustreret dansk litteraturhistorie. Første Bind: Fra Folkevandringstiden indtil Holber,. København, 1939, S. 407.
10 Erik Dal, Nordisk folkeviseforskning siden 1800. Omrids af tekst-og melodistudiets historie og problemer især i Danmark, København, 1956 (= Universitets-Jubilæets danske Samfund 376), S. 231-232, 421-423.
11 „Viele Umwege sind möglich. Es handelt sich um sehr komplizierte Wanderungen“. Pil Dahlerup, Dansk Middelalder. 2 Bde, København, 1998, Bd. 2, S. 167.
12 Joachim Heinzle et al., Die Nibelungen. Sage - Epos - Mythos, Wiesbaden, 2003, S. 81.
13 „Ich weiß noch mehr von ihm, was mir zu Ohren gekommen ist. Einen Drachen hat der Held erschlagen. Er badete sich in dem Blute, und daraufhin hat er eine Hornhaut bekommen. Deshalb verwundet ihn keine Waffe, wie sich schon oft gezeigt hat“. Zitiert nach: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Durchgesehene und verbesserte Ausgabe, Stuttgart, 2002 (= RUB 644). In Bezug auf das Unverwundbarkeitsmotiv ist die Klage ohne Belang.
14 Strukturell ist das Lied mit der Kanzone, der bevorzugten Strophenform des Minnesangs, verwandt. Vgl. Jean Fourquet: Zum Aufbau des Nibelungenliedes und des Kudrunliedes. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 2 (1954), S. 137-149. Der Verfasser der A-Fassung hat sich bemüht, diese innere Struktur herauszuarbeiten. Vgl. ders.: La composition numérique dans le ms. A du Nibelungenlied. In: Danielle Buschinger & Jean-François Candoni (Hg.), Les Nibelungen, Amiens, 2001 (= Medievales 12). S. 54-60 [zuerst erschienen in: études Germaniques 39 (1984)].
15 Obwohl die Existenz einer älteren Dichtung niemals bewiesen worden ist, bezeichnen viele Forscher den Verfasser des Nibelungenlieds merkwürdigerweise als den „letzten Dichter“.
16 Vgl. Jean Méheust (Hg.), Stace: Achilléide. Texte établi et traduit par Jean Méheust, Paris, 1971 (= Collection des Universités de France). S. 79.
17 „In dem strengen Wasser des Styx gab ich meinem Sohn eine Rüstung, wäre sie nur vollständig gewesen“.
18 „[den] eine Nereide heimlich in die Fluten des Styx tauchte et [dessen] schöne Glieder gegen das Eisen beschützte“.
19 Méheust (Anm. 16). S. xxxviii-xxix.
20 Vorauer Hs.: 934ff, Straßburger Hs.: 1300ff. Vgl. Karl Kinzel, Lamprechts Alexander, nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen, Halle/Saale, 1884 (= Germanistische Hand-Bibliothek 6).
21 Oskar Hartung: Die Waffen im Nibelungenliede und der Kudrun. Ein Beitrag zur Frage nach der Abfassungszeit der beiden Gedichte. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 89 (1892), S. 370.
22 Emil Ploss, Siegfried-Sigurd, der Drachenkämpfer. Untersuchungen zur germanischdeutschen Heldensage. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des alteuropäischen Erzählgutes, Köln/Graz, 1966, S. 8-9.
23 Alois Wolf, Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen, 1995, S. 295.
24 Friedrich Panzer, Das Nibelungenlied. Entstehung und Gestalt, Stuttgart/Köln, 1955, S. 297.
25 Günther Eifler, Siegfried zwischen Xanthen und Worms. In: Albrecht Greule & Uwe Ruberg (Hgg.), Sprache, Literatur, Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. Wolfgang Kleiber zu seinem 60. Geburtstag gewidmet, Stuttgart, 1989, S. 281.
26 Eine Frau erzählt, dass sie zu Ehren ihres verstorbenen Schwiegervaters eine Brücke bauen ließ. Sie war mit einem Sigurd verheiratet, der höchstwahrscheinlich keinen Drachen erlegt hatte.
27 Da Snorri wie die Felsenritzung nur zwei Vögel zwitschern lässt, stellt sein Prosaabschnitt zweifellos die älteste schriftliche Fassung des Nordens dar. Die übrigen fünf Vögel, die in der Fáfnismál auftauchen, bilden eine freie Zudichtung. Einer davon ist in der Völsungasaga entfallen.
28 Als ein isländischer Mönch um 1150 den Drachenkampf lokalisierte, erwähnte er keinen Schatz: „ Ok þar er Gnita-heidr, er Sigurdr va ath Fabni“(Und da ist die Gnitaheide, wo Sigurd Fafnir erschlug). Vgl. Kristian Kålund, Alfræði íslenzk. Islandsk encyklopædisk Litteratur, København, 1905, S. 13.
29 In diesem Rahmen kann auf die grundsätzliche Frage nach Snorris Abhängigkeit vom Nibelungenlied nicht eingegangen werden.
30 Die Idee, den Drachenkampf mit einer Horterwerbung zu verbinden, stammt wohl nicht aus dem nur in einer einzigen Handschrift überlieferten Beowulf (V. 875ff). Das altenglische Heldenepos war dem Isländer kaum bekannt. Dagegen hatte Snorri eine ausgezeichnete Kenntnis vom dänischen Fabulierer Saxo, der um 1210 beide Motive verknüpft hatte (Gesta Danorum II, 1). Im Beowulf heißt der Drachentöter und Hortbesitzer Sigemunde, bei Saxo Frothus. Zahlreiche andere Texte können Snorri zu dieser Verbindung angeregt haben.
31 C. R. Unger, Saga Þiðreks konungs af Bern, Christiania, 1853.
32 Andreas Heusler, Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos dargestellt, Dortmund, 1921. Zitiert nach Darmstadt6 1973. Über die Gestalt der gemeinsamen Quelle herrscht natürlich die größtmögliche Uneinigkeit.
33 Joachim Heinzle, Das Nibelungenlied. Eine Einführung, München/Zürich, 1987. Neuausg. Frankfurt/Main 21994. S. 33.
34 Roswitha Wisniewski, Die Darstellung des Niflungenunterganges in der Thidrekssaga. Eine quellenkritische Untersuchung, Tübingen, 1961 (= Hermaea, Germanische Forschungen, Neue Folge 9).
35 Theodore M. Andersson: The Epic Source of Niflunga Saga and the Nibelungenlied. In: Arkiv för nordisk filologi 88 (1973), S. 1-54. Ders.: The politics of Dietrich von Bern. In: NOWELE 31-32 (1997), S. 13-27.
36 Friedrich Panzer, Studien zum Nibelungen, Frankfurt/Main, 1945. Ders., Das Nibelungenlied (Anm. 24).
37 Heusler (Anm. 32), S. 49.
38 Peter Hvilshøj Andersen, La Saga des Niflungs. Traduction et Commentaires, Amiens, 2002 (= Medievales 25). S. 9.
39 Allem Anschein nach kannte der Verfasser der Thidrekssaga nur Snorris Prosafassung. Ein Indiz dafür ist der Umstand, dass er wie der Isländer gerade zwei Vögel erwähnt (TS 166). Die Erniedrigung der isländischen Königin, die Snorri zu einer Walküre erhoben hatte, spricht dafür, dass die Fassung des norwegischen Verfassers als antiisländisch zu verstehen ist.
40 Gunnar Olof Hyltén-Cavallius, Sagan om Didrik af Bern, Stockholm, 1850-1854 (= Samlingar utgivna af svenska fornskrift-sällskapet 10).
41 Kenneth C. King, Das Lied vom Hürnen Seyfrid. Edition with Introduction and Notes, Manchester, 1958.
42 Otfrid Ehrismann, Nibelungenlied. Epoche - Werk - Wirkung. Zweite, neu bearbeitete Auflage, München 22002. S. 22.
43 „So singen die Blinden, Siegfried sei hürnen, weil er auch einen furchtbaren Drachen habe besiegen können, von dessen Blute seine Haut als Rüstung in starkes Horn verwandelt worden sei. Diese haben sich selbst um die Wahrheit betrogen“. Zitiert nach Werner Wolf (Hg.), Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, 4 Bde, Berlin, 1955-1995 (= Deutsche Texte des Mittelalters 45, 59, 61, 73, 79). Bd. II/2, S. 354.
44 Der erste Druck erschien in einer Stadt, die sich gerade für die Reformation erklärt hatte (1529). Vielleicht war Dichter des Lieds vom Hürnen Seyfrid ganz einfach mit dem berühmten Nürnberger Schuster identisch, der 1557 die Nibelungensage auf die Bühne brachte.
45 Jürgen Beyer & John L. Flood, Siegfried in Livland? Ein handschriftliches Fragment des Liedes vom Hürnen Seyfrid aus dem Baltikum. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 45 (2000), S. 64-65.
46 Beyer & Flood (Anm. 45). S. 45.
47 Vgl. Andersen (Anm. 1), S. 84-86, 214-239. Ein Teil des Lieds wurde schon im Sommer 1817 aufgezeichnet oder gedichtet, aber diese Aufzeichnung ist nicht erhalten.
48 Götterdämmerung, 2. Aufzug, 2. Auftritt.
49 Karen Thuesen (Hg.), Anders Sørensen Vedels Hundredvisebog, Faksimileudgave med indledning og noter, København, 1993 (= Universitets-Jubilæets Danske Samfunds skriftserie 515), S. 27.
50 Vgl. Andersen (Anm. 1), S. 129-158. Es handelt sich um einen ausführlichen Forschungsbericht.
51 Thuesen (Anm. 49), S. 69.
52 „Tyge Brahe paa Huen som i 18 aar icke haffuer veret till sacramentet, men med en bisloperske ligget i itt ondt levnet“ (Tyge Brahe auf Hven, der 18 Jahre lang nicht zum Abendmahl gegangen ist und mit einer Beischläferin in böser Lebensführung gestanden hat). Zitiert nach Johan Ludvig Emil Dreyer (Hg.), Tychonis Brahe Dani opera omnia. 15 Bde., Hauniæ, 1913-1929. Photographischer Nachdruck Amsterdam 21972. Bd. 14, S. 105.
53 Sigfrid wird zu einer Allegorie der luxuria hochstilisiert. Vgl. Andersen (Anm. 1), S. 256-258.
54 Eleanor Roach, La tradition manuscrite du Roman de Mélusine par Coudrette. In: Revue d’Histoire des Textes 7 (1977). S. 185-233.
55 Hans-Gert Roloff(Hg.), Thüring von Ringoltingen. Melusine. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart, 2000 (= RUB 1488). S. 175.
56 Der Roman wird nach Roloff(Anm. 55) zitiert.
57 Roloff(Anm. 55). S. 77, 102, 109.
58 Siegfried Holzbauer (Hg.), Das Lied vom Hürnen Seyfrid, neu illustriert, Klagenfurt/Wien, 2001, Tafel VI.
59 Jonas Jacobus Venusinus, Theses de fabula qvæ pro historia qvam sæpissime venditatur, Hafniæ, 1605.
60 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 2. Tischreden, 6 Bde., Weimar, 1912-1921. Zitiert nach 21967, Bd. 3, S. 515-518.
61 D. Martin Luthers Werke (Anm. 60), Bd. 5, S. 9.
62 Commentaria Ioannis Cochlaei, Prope Moguntiam, 1549. Farnborough 21969.
63 Otto J. Eckert, Luther and the Reformation [1955], S. 1. Nur online: http://www.wls.wels.net/library/essays/Authors/e/EckertReformation/EckertReformation.pdf
64 Nach telefonischer Anfrage bei der Universität von Luxemburg.
65 Coudrette, Le roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan. Édition avec introduction, notes et glossaire établie par Eleanor Roach, Paris, 1982 (= Bibliothèque française et romane. Série B, 18). Vgl. die Stammtafel im Anhang.
66 Anne-Hélène Delavigne, L’adaptation danoise de la Mélusine de Thüring de Ringoltingen. In: Mélusines continentales et insulaires. Textes réunis par Jeanne-Marie Boivin et Proinsias MacCana. Actes du colloque international tenu les 27 et 28 mars 1997 à l’Université Paris XII et au Collège des Irlandais, Paris, 1999 (= Nouvelle bibliothèque du Moyen âge 49), S. 27.
67 Delavigne (Anm. 66), S. 27.
68 Wilhelm Carl Grimm, Die deutsche Heldensage, Göttingen, 1829, S. 305.
69 Eugène Beauvois, Histoire Légendaire des Francs et des Burgondes aux IIIe et IVe siècles, Paris/Copenhagen, 1867, S. 397.
70 Wolfgang Golther, Die nordischen Lieder von Sigurd. In: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, Neue Folge 2 (1889), S. 297.
Auteur
Université Marc-Bloch, Strasbourg
Le texte seul est utilisable sous licence Licence OpenEdition Books. Les autres éléments (illustrations, fichiers annexes importés) sont « Tous droits réservés », sauf mention contraire.
Migration, exil et traduction
Bernard Banoun, Michaela Enderle-Ristori et Sylvie Le Moël (dir.)
2011
Traduction littéraire et création poétique
Yves Bonnefoy et Paul Celan traduisent Shakespeare
Matthias Zach
2013
L’appel de l’étranger
Traduire en langue française en 1886
Lucile Arnoux-Farnoux, Yves Chevrel et Sylvie Humbert-Mougin (dir.)
2015
Le théâtre antique entre France et Allemagne (XIXe-XXe siècles)
De la traduction à la mise en scène
Sylvie Humbert-Mougin et Claire Lechevalier (dir.)
2012