Kulturtransfer und Übersetzung. Kulturkritik im Essay Friedrichs II. De la littérature allemande
Transfert culturel et traduction. La critique de la culture dans l’essai de Frédéric II. De la littérature allemande
p. 27-48
Résumés
Cet écrit du roi de Prusse Frédéric II, publié en 1780, fut généralement considéré par ses contemporains ainsi que par l’historiographie culturelle comme une preuve de son incompréhension de toute la production allemande de son temps en littérature, art, philosophie, sciences et culture. Le sujet de cette contribution est non pas la situation, souvent commentée, du roi francophile « étranger » en son propre pays, mais le projet de Frédéric II en matière de politique culturelle. Ce projet est formé d’un transfert culturel double : la réception de l’Antiquité grecque et romaine servirait à rendre la propre culture plus raffinée ; cette réception se serait principalement produite en France à l’« âge classique » principalement sous forme de traduction d’auteurs classiques ; les Allemands devraient eux aussi désormais s’orienter sur ce modèle français pour passer d’une barbarie culturelle dont ils sont responsables au stade de nation culturelle ayant une position avancée en Europe. Mais les traductions comme « exercices de style » sont plus qu’une tentative pour imiter un processus réussi de formation culturelle. Ils renvoient aussi à un « classicisme imaginaire » qui, construction anachronique et historisante, fragmentée et limitée, détermine la conception que Frédéric II se fait de l’art et de la culture.
Die vom preußischen König Friedrich II im Jahre 1780 veröffentlichte Schrift wurde von seinen Zeitgenossen wie auch von der Kulturgeschichtsschreibung meist als Beleg für sein Unverständnis gewertet gegenüber dem, was in Deutschland an Literatur und Kunst, Philosophie, Wissenschaften und Kultur insgesamt zu seiner Zeit produziert wurde. Thema dieses Beitrags ist nicht diese oft zitierte „Fremdheit“ eines frankophilen Königs im eigenen Land, sondern das kulturpolitische Konzept Friedrichs. Dieses Konzept besteht aus einem doppelten KulturKulturtransfer: Durch die Rezeption der griechischen und römischen Antike werde die heimische Kultur verfeinert. Diese Rezeption sei im „âge classique“ Frankreichs vor allem in Form der Übersetzung klassischer Autoren erfolgt. An diesem französischen Modell sollten sich nun auch die Deutschen orientieren, um sich aus ihrer selbstverschuldeten kulturellen Barbarei zu einer europäisch führenden Kulturnation zu entwickeln. Übersetzungen als „exercices de style“ sind aber mehr als nur der Versuch, einen erfolgreichen Prozess der kulturellen Formation zu imitieren. Sie verweisen zugleich auf einen „classicisme imaginaire“, der als ein unzeitgemäßes und historisierendes, fragmentiertes und eingeschränktes Konstrukt das Kunst-und Kulturverständnis Friedrichs bestimmt.
Texte intégral
Einleitung
1Die Schrift De la littérature allemande; des défauts qu’on peut lui reprocher; quelles en sont les causes; et par quels moyens on peut les corriger des preußischen Königs Friedrich II. erschien auf französisch und deutsch 1780 bei Decker in Berlin. Sie wird gemeinhin als Ausdruck der Ferne des preußischen Königs zur deutschen Kultur und Sprache im allgemeinen und zur deutschen Literatur der Aufklärung im besonderen gedeutet.
2Friedrich, der sich zugleich als Monarch, Philosoph und Repräsentant der république des lettres verstand, zeichnet darin ein düsteres Bild der zeitgenössischen deutschen Sprache, Literatur und Wissenschaft, die alles andere als vollkommen seien. Er tadelt die mangelnde Klarheit der Ideen und des Stils in den literarischen Werken, die Pedanterie deutscher Schriftsteller und ihren Mangel an gutem Geschmack. Es fehlten die vorbildlichen Autoren. Deshalb sei die deutsche Sprache noch nicht ausgebildet und verfeinert, une „langue à demi-barbare“1, schwer zu handhaben, von wenig Wohllaut und arm an Metaphern. Es fehle zwar den Deutschen nicht an Genie und Geist, und es seien auch schon Fortschritte erkennbar, aber die Vervollkommnung müsse noch weiter fortschreiten, wenn deutsche Sprache und Kultur jemals Geltung im Konzert der Kulturen Europas haben sollen.
3Die Ursachen sieht er zuallererst in den deutschen politischen Verhältnissen, die durch die permanente Verwicklung in Kriege, konfessionelle Spaltung, politische Zersplitterung keine Stabilität und damit nicht die Rahmenbedingungen boten, damit sich Künste und Wissenschaften hätten entfalten können. Das Fehlen eines Zentrums mit kultureller Strahlkraft behindere das Entstehen einer Hoch-und Standardsprache. Stattdessen gliedere sich das Deutsche in eine Vielzahl von Regionalsprachen und Dialekten, deren kleinräumige Verbreitung keine überregionale Verständigung erlaube. Zudem seien das mangelhafte Schul-und Universitätswesen und fehlerhafte Methoden der Lehrer für den beklagenswerten Zustand verantwortlich.
4Das Echo auf die Schrift, eine wahre Flut von Rezensionen, Beifalls-, vor allem aber Gegenschriften, Einwendungen, Widerlegungsversuchen und Nachdrucken2, zeigt nicht nur an, daß hier eine aktuelle Debatte im Gange war (man denke nur an die Preisfrage der Berliner Akademie 1783 nach der Universalität der französischen Sprache), sondern auch, daß die bürgerlich geprägte deutsche Aufklärung mit einigem Selbstbewußtsein dem exponiertesten deutschen König das Recht absprach, über die deutschen kulturellen Verhältnisse zu richten. Die barsche Reaktion des deutschen gelehrten Publikums erklärt sich also aus dem zutreffenden Eindruck, Friedrich habe den Anspruch auf die kulturelle Hegemonie des literarisierten Bürgertums bestritten. Friedrich dagegen, dessen literarische Bildung und Interessen einzig auf die Klassiker griechischer, lateinischer, aber eben auch französischer Provenienz ausgerichtet waren, dürfte einigermaßen erstaunt gewesen sein über soviel Gegenwehr, hatte er doch nichts anderes behauptet als das, was wohlgemerkt bis zu den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts unter den gens de lettres als ausgemacht galt: daß klassische und französische Kultur und Sprache selbstverständlich unübertrefflich und daher universal seien. Daß bis zum Zeitpunkt der Niederschrift des Essays allerdings 30 Jahre verflossen und wesentliche Veränderungen in der deutschen Kulturlandschaft vor sich gegangen waren, blendet Friedrich kurzerhand aus.
5Die Schrift, so das bis heute notorisch wiederkehrende Urteil, bezeuge Friedrichs Unkenntnis deutscher Schriftsteller und Literatur. Den Fortschritt, den die deutsche Literatur vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts genommen habe, nehme er gar nicht wahr – wie sonst ließe sich erklären, daß ihm die herausragendsten Schriftsteller jener Zeit wie beispielsweise Lessing, Herder, Wieland nicht mal eine Erwähnung wert sind?
6Unseres Wissens haben bislang nur wenige der zahlreichen Kommentatoren den Versuch unternommen, die Kultur-und Sprachkritik Friedrichs als Baustein eines kulturellen Transfers zu deuten3. In dessen Verlauf installierte der junge Kronprinz bzw. preußische König die in Europa hegemoniale französische Kultur und Sprache dauerhaft in seinen Residenzen und machte Berlin bzw. Potsdam zu einem Zentrum deutscher Aufklärung à la française. Die so im Märkischen implantierte französische Kultur prägte nicht nur Friedrichs sprachliche und intellektuelle Orientierung und seine literarischen Vorlieben, sondern auch seine Selbstwahrnehmung als Regent und Philosoph, seine Hofhaltung und nicht zuletzt sein Verständnis von Sprache und Sprachpolitik.
7Wir wollen hier versuchen, den Fokus einmal nicht auf das zu legen, was Friedrich an deutscher Sprache, Literatur und Kunst vermeintlich nicht zur Kenntnis nimmt, sondern darauf, wie sich sein Urteil aus seiner Begegnung mit kulturellen, literarästhetischen, sprachlichen und politischen Vorbildern französischer Provenienz fast zwangsläufig ergab. Die in diesem Band zentralen Fragen nach Übersetzung und Migration sind, wie man sehen wird, elementare Bestandteile dieser Konstellation. Denn die Mediatoren, die die hier angesprochene kulturelle Übersetzungsarbeit leisteten, gehörten als frankophone Migranten mit unterschiedlichsten Hintergründen zu Friedrichs Entourage. In der Begegnung und Auseinandersetzung mit diesen Frankophonen war es an Friedrich, französische Modelle auf preußische Verhältnisse zu übertragen.
8Im folgenden werden wir in einem ersten Teil den Zusammenhang zwischen der Niederschrift des Essays und einer Debatte über gelungene Übersetzungen zwischen dem König und seinem Staatskanzler erläutern. Im zweiten Teil wird von Friedrichs Konzept von Übersetzungen als einer Art exercices de style die Rede sein und im Anschluß werden jene Personen im Mittelpunkt stehen, die maßgeblich an der Formierung von Friedrichs Literatur-und Sprachauffassungen mitgewirkt haben, deren theoretische Filiationen wiederum wir im abschließenden vierten Teil verfolgen. Der Titel dieses letzten Teils, „Classicisme imaginaire“ oder unzeitgemäße Betrachtungen eines königlichen „Remarqueurs“?, verweist auf unsere Deutung dieses Kulturtransfers.
Welche Sprache taugt für Übersetzungen?
9Am Anfang der Niederschrift von De la littérature allemande stand eine Übersetzung. Genaugenommen war es eine Debatte zwischen Friedrich und seinem Staatsminister und Kanzler Hertzberg im Jahre 1779 über die Frage, ob Tacitus’ Germania annähernd so gut ins Deutsche zu bringen sei wie ins Französische. Der König zeigte sich angesichts der Hertzbergschen Argumentation, die deutsche Sprache sei zu genausoviel Präzision und Reinheit fähig wie die französische, ziemlich uneinsichtig, so daß sich Hertzberg gezwungen sah, den praktischen Beweis anzutreten, indem er dem König am nächsten Morgen mehrere Kapitel des Tacitus in deutscher und französischer Fassung zum Vergleich lieferte4. Der König gestand zu, beide Übersetzungen seien gleich gut gelungen. Er blieb jedoch bei seiner Meinung, daß es unmöglich sei, im Deutschen den kraftvollen und pointierten Stil des Tacitus nachzuahmen und sich dabei zugleich ebenso knapp wie bildhaft auszudrücken5. Nebst devoten Entschuldigungen für seine Aufdringlichkeit und sein Beharren übergab Hertzberg dem König eine ins Deutsche gebrachte, noch schwierigere Passage aus den Annales des Tacitus, eine ganze Reihe von Beobachtungen zur deutschen Sprache aus seiner Feder und den Essay Vom Schönen des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai. Die Tacitus-Übersetzung sollte beweisen, daß es möglich sei, analog dem Original eine reine und knappe deutsche Übersetzung zu liefern6. Nicolais Text dagegen war gedacht als Argument dafür, daß das Deutsche nicht nur als Nachahmung des Stils in einer anderen Sprache tauge, sondern daß es deutsche Schriftsteller gebe, die es verstehen, einen eigenen Stil in ihrer Muttersprache auszubilden, der in Kraft, Eleganz und Präzision in nichts den Klassikern nachstünde7. Friedrichs Argumentation lief statt dessen darauf hinaus, Qualität und Vermögen einer Sprache daran zu messen, ob eine Sprache fähig sei, sprachliche Formen klassischer Literatur in der Übersetzung wiederzugeben. Friedrich II. und Hertzberg befinden sich mit diesem Austausch im übrigen mitten in einer brisanten Debatte, die im 18. Jahrhundert die gesamte république des lettres beschäftigte und um den sogenannten génie de langue kreiste. Die diskutierte Frage war: Taugen bestimmte Sprachen für bestimmte Zwecke? Und wenn ja, gibt es prädestinierte Sprachen für Poesie, Philosophie, Wissenschaft8?
10Ein Jahr nach dieser Kontroverse, 1780, machte sich Friedrich an die Niederschrift seines Essays, dessen argumentative Versatzstücke schon immer, wenn er sich über Sprache und Literatur geäußert hatte, zu Tage traten und die sich im übrigen bis in seine Zeit als Kronprinz zurückverfolgen lassen. Es ist dokumentiert, daß Hertzberg versuchte, während der Entstehung des Essays auf die Ideen und Urteile Friedrichs über die deutsche Sprache Einfluß zu nehmen. Der kritische Blick des Königs auf die deutsche Sprache und ihre Schriftsteller war ihm hinreichend bekannt. Hertzberg, von Friedrich sonst hochgeschätzter Kenner der klassischen Sprachen und Werke und zugleich aufmerksamer Beobachter9 der deutschsprachigen Literatur, versuchte, dessen Urteil zu mildern.
11Anfang November 1780 übergab Friedrich seinem Kanzler den fertigen Essay, damit dieser ihn kritisch durchsähe und eine Übersetzung ins Deutsche veranlasste. Friedrich fügte im Anschreiben hinzu, daß er nur allzu bereit wäre, eine Lobrede auf die deutschen Schriftsteller zu halten, wenn sie ihm dazu nur genügend Anlaß gäben10. Nach zwei Tagen schickte Hertzberg dem König vorsichtig formulierte Korrekturvorschläge zu, die sich vor allem auf von Friedrich völlig falsch einsortierte Namen und Werke der deutschen Literatur und Geschichte bezogen. Diplomatisch und eindringlich zugleich erwähnt er die Schnitzer seines Königs:
Ensuite, quand on propose aux Allemands pour modele d’un bon historien, Thomasius, je crois qu’il convient de mettre le nom de Mascov qui est effectivement un de nos meilleurs historiens, au lieu que Thomasius n’a pas écrit en allemand & ne s’est pas distingué dans l’histoire, mais dans le droit & la philosophie […].11
12Abgesehen von den formalen Korrekturvorschlägen wagte es Hertzberg jedoch nicht, grundsätzliche Kritik zu üben. Die verständigeren der deutschen Gelehrten, so Hertzberg, werden sich glücklich schätzen, daß ein König, der mit Schwert und Feder ihrem Vaterland den Ruhm erkämpft habe und bislang nicht durch übermäßiges Interesse an der deutschen Sprache aufgefallen sei, nun sowohl deren Stärken und Schwächen erkannt als auch Regeln entworfen habe, wie man sie verbessern könne12.
13Doch Friedrich weigerte sich, offensichtliche sachliche Fehler wie den zu Thomasius zuzugeben und zu korrigieren und fügte warnend hinzu:
[…] au reste, vous pouvez être content de ma modération, je n’ai fouetté vos Allemands qu’avec des verges de roses, & j’ai modéré en bien des endroits la sévérité de la critique ainsi ayez-moi obligation de ma retenue & ne me poussez pas à bout.13
14Hertzberg jedoch insistierte, doch auch diese neuerlichen Versuche beantwortete Friedrich lediglich mit einem Satz auf einem Billet: „Je ne peux plus rien changer à ces bagatelles.“14
15Die Fehler blieben also wegen königlichen Starrsinns im Text, der von Friedrich Dohm übersetzt wurde. Friedrichs Vorleser und Korrektor, Dieudonné Thiébault, erhielt das Original zur Besorgung des französischen Drucks, der samt deutscher Übersetzung zeitgleich Ende November 1780 beim Hofdrucker Decker in Berlin erschien.
Übersetzungen als exercices de style
16Leide eine Nation an einer noch unkultivierten Sprache und Literatur, so argumentiert Friedrich, so solle sie sich an den großen Modellen der Antike orientieren. Man könne in den Sprachen der Alten die Anmut, Feinheit und Würde des Stils, die Energie und Kraft des Ausdrucks und die Klarheit der Ideen finden. „Les progrès sont lents“15, schreibt Friedrich, aber alle großen Nationen Europas, also Italien, Frankreich, England, seien diesen Weg der langsamen Vervollkommnung durch die Schulung am antiken Vorbild gegangen, und so müsse auch Deutschland diese Art von Kulturbildung absolvieren. Die Übersetzung antiker Autoren sei dabei der erste und wichtigste Schritt.
Pour acquérir de l’énergie traduisons les auteurs anciens qui se sont exprimés avec le plus de force et de grace.16
17Um ihrer Übersetzung die Kraft und Präzision des Originals zu verleihen, seien die Übersetzer beispielsweise von Demosthenes, Xenophon, Aristoteles, Marc Aurel, Tacitus, Horaz, Rochefoucauld und Montesquieu gezwungen, ihre Ideen zu verdichten. Die Antikerezeption sollte also auf doppelte Weise wirken, nämlich einmal als reine Übersetzungsarbeit und zum anderen, im Sinne eines exercice de style, als Verbesserungsarbeit, indem sie die Muster für gutes Reden und Schreiben in deutscher Sprache bereitstellt. Und was Friedrich den deutschen Schriftstellern hier verordnet, verankerte er auch in den Schulen. In einer Order an Minister von Zedlitz aus dem Jahre 1779 befiehlt Friedrich, in den höheren Schulen fortan Logik und Rhetorik zu lehren und den Schwerpunkt auf die Übersetzungsarbeit klassischer Werke zu legen:
Die Autores classici, müssen auch alle ins teutsche übersetzet werden, damit die jungen Leute eine idee davon kriegen was es eigentlich ist: sonst lernen sie die Worte wohl, aber die Sache nicht. […] Im Französischen sind auch excellente Sachen, die müssen ebenfalls übersetzet werden […].17
18In der Übersetzungsarbeit selbst, in der Textarbeit und der Verbesserung, wie es in der Order heißt, „unrechter“ Wörter, sieht Friedrich nicht nur ein Potential für Sprachkultivierung, sondern auch zur Ausübung der Urteilskraft und somit eigenständigen Denkens18.
19Lägen irgendwann die Klassiker samt und sonders in guten Übersetzungen, vorgenommen durch die besten Gelehrten des Landes, vor, käme es darauf an, daß die Nation diese dann auch läse und aufnähme. Friedrich erstellt dafür ein umfangreiches Lektüreprogramm, dessen Kanon von der Beredsamkeit über die Historie bis zur Philosophie und Theologie reicht19.
20Es ist aufschlußreich zu sehen, welche übersetzten Autoren Friedrich anführt. Er nennt Homer, Vergil, Horaz, Anakreon, Demosthenes, Cicero, Titus Livius, Sallust, Tacitus, Bayle, Bossuet, Fléchier, Vertot, Robertson. Vergleicht man den Kanon im Essay mit Friedrichs eigenen Lektüregewohnheiten, dann wird erkennbar, daß beides fast identisch ist. Friedrich fixiert als nationalen Literaturkanon also seine persönlichen Vorlieben20.
21Immerhin sieht der König in der Lektüre nicht nur ein Mittel zur geistigen und sittlichen Verfeinerung der Menschen und ihrer Sprache, sondern auch ein emanzipatorisches Moment: Übersetzungen erlaubten es erst, daß die wichtigsten Werke den Menschen in ihrer Muttersprache zugänglich würden, die bisher von der Teilhabe an diesen Kenntnissen mangels Sprachkenntnissen ausgeschlossen waren:
Or voilà [les] ames exclües de toutes connoissances, parce que’elles ne sauroient les acquérir dans la langue vulgaire. Quel changement plus avantageux pourroit donc nous arriver que celui de rendre les lumières plus communes en les répandant partout.21
22Den Gebrauch von Latein (und nicht Deutsch) als lingua franca in der Wissenschaft macht Friedrich im Rückblick dafür mitverantwortlich, daß Deutschland die verspätete Kulturnation Europas sei. Freilich ohne einzugestehen, daß er selbst zu jeder Gelegenheit dem Französischen als lingua franca der république des lettres den Vorzug vor der deutschen Sprache gab.
23Seine Argumentation läuft auf eine imitierende Übersetzung hinaus, die in eine gleichsam habituelle Aneignung des klassischen Ideals in deutscher Form mündet. Nach Aussage seiner Biographen war Friedrich ganz versessen darauf, Voltaire, Maupertuis und Rollin, aber auch antike Klassiker in der eigenen Schreibart zu imitieren22. Das ging so weit, daß er unter Beibehaltung ihrer Form Verse klassischer oder klassizistischer Autoren umdichtete – oder sogar meinte, verbessern zu können, wie im Falle von Rousseau23. Gefangen von seiner tiefen Verehrung für Racine, aber auch der eigenen Eitelkeit, las er eines Tages seinem Vorleser Le Catt eigene Dichtungen vor und fragte ihn anschließend:
Mais dites moi, naturellement, ne trouvez-vous pas dans mes vers que je vous ai lus, un peu de coulant de Racine ?24
24Im vorliegenden Essay klagt er, die deutschen Gelehrten könnten die lateinischen und griechischen Autoren schon gar nicht mehr flüssig und ohne Wörterbuch lesen, da ihnen die Kenntnisse dieser Sprachen abhanden gekommen seien. Von daher sollte man vermuten, daß Friedrich die von ihm notorisch zitierten Klassiker im Original zu sich nahm. Jedoch scheint er zuallererst an seine eigene Sprachbiographie gedacht zu haben, wenn er die Übersetzung als Mittel der Vervollkommnung anpreist. Sein Vorleser, Dieudonné Thiébault, notiert in seinen Mémoiren: „Frédéric savait peu de latin et pas un mot de grec“25.
25Keinesfalls reichten seine Kenntnisse aus, um die Klassiker zu lesen; allenfalls verfügte er über einen übersichtlichen Schatz an klassischen Aphorismen, mit denen er seine Schriften und Briefe dekorierte. Alle lateinischen und griechischen Klassiker las er in französischer Übersetzung. Insofern bleibt zweifelhaft, auf welcher Grundlage Friedrich die Tacitus-Übersetzung Hertzbergs, die ja der äußere Anlaß zur Niederschrift war, als „gelungen“ apostrophieren konnte.
26In Friedrichs Umgebung fanden sich jedoch stets frankophone und in den alten Sprachen instruierte Personen, die ihm die klassischen Texte übersetzten und die von ihm verfaßten französischen Texte redigierten.
Kulturtransfer als Übersetzung
27Friedrich II. schrieb und sprach so gut wie ausnahmslos Französisch. Von seiner Hand verfaßte deutschsprachige Zeugnisse sind rar. Aussagen von Zeitgenossen, etwa Friedrich Nicolai, bezeugen, daß das Deutsche „ihm ein beschwerliches Werkzeug“ gewesen sei, „dessen er sich nicht recht zu bedienen wußte“26. Äußerungen von Friedrich selbst belegen zugleich, daß er sich deutlich bewußt war, aus sprachlich-kultureller Sicht „Fremder im eigenen Land“ zu sein. Sein Französisch neigte, übrigens ähnlich wie das der Berliner Hugenottennachkommen, zu Germanismen und Anachronismen27. Deshalb ließ er seine offiziösen und offiziellen Texte von französischen Muttersprachlern zurichten.
28Aber nicht nur um diese formalen Dinge kümmerten sich die hochgebildeten, oftmals welterfahrenen Frankophonen, die als seine Präzeptoren, Sekretäre, Vorleser oder Gesellschafter angestellt waren. Vor allem in den zahlreichen Konversationen und Debatten waren es interessanterweise meist Migranten, die an der Formung seiner Sprach- und Literaturauffassungen teilhatten28.
29Prägend für Friedrichs Spracherwerb und Sprachbiographie waren zwei aus Frankreich geflohene Hugenotten, Mme de Roucoule und Jacques Duhan. Mit seiner Gouvernante Mme de Roucoule verbrachte er die ersten sieben Lebensjahre; von ihr lernte er in nahezu muttersprachlichem Kontext Französisch. Als Kronprinz befand er sich in einer Art asymmetrisch diglossischen Sprachsituation. Denn auf das Deutsche, genauer das Plattdeutsche, war er nämlich verwiesen, sobald er mit der Hofhaltung, dem Kasernenton seines Vaters oder aber seiner früh einsetzenden soldatischen Ausbildung konfrontiert war. Wie sich diese plattdeutsche Sprachumgebung zusammen mit der synchron vollzogenen französischen Fremd- und Eigeninstruktion auf Friedrichs Verständnis von Dialekten auswirkte, wird im vierten Teil ausgeführt.
30Während seiner Adoleszenz wird Friedrich auf Geheiß seines Vaters fast ausnahmslos von Offizieren ausgebildet. Unter ihnen war Jacques Egide Duhan allerdings eine Ausnahme. Er unterrichtete ihn in Arithmetik, Geographie, aber eben ohne Wissen des Vaters auch in französischer und antiker Literatur29. Die deutlichste Spur dieses Einflusses findet sich in der Bibliothek, die der Präzeptor für Friedrich einrichtete. Unter mehreren tausend Bänden findet sich kein einziges Buch in deutscher Sprache30. 1736 erlangte er erstmals eine gewisse Unabhängigkeit vom Vater und stellte den in Berlin geborenen Hugenottennachfahren Charles Etienne Jordan als Sekretär und Gesellschafter auf Schloß Rheinsberg ein. Jordan war nicht nur literarisch hochgebildet, sondern in der république des lettres auch bestens vernetzt, so daß er für Friedrich eine Art commissaire littéraire wurde. Vor allem aber war er Korrektor von dessen französischen Korrespondenzen bzw. Schriften und übersetzte lateinische und griechische Schriften. Jordan versuchte überdies, Friedrich die französische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts schmackhaft zu machen31. Am wichtigsten für den Kronprinzen war jedoch, daß Jordan exzellente Verbindungen nach Frankreich, Holland, England und in die Schweiz unterhielt. Daraus hatte sich unter anderem eine Korrespondenz mit Voltaire entwickelt, die wiederum Friedrich den Einstieg in die république des lettres ermöglichen sollte.
31Der von Friedrich als „Patriarche de la littérature“ betitelte Voltaire kam im Sommer 1750 als gleichsam „philosophischer Migrant“ nach Potsdam, wie im übrigen auch de la Mettrie oder der Abbé de Prades. Er war nicht nur derjenige, der die Verse des Königs immer und immer wieder korrigierte, bis sie seinen, Voltaires, Ansprüchen genügten32, sondern er redigierte auch die erste staatsphilosophische Schrift Friedrichs, den Antimachiavel. Friedrichs literarischer Geschmack fand in Voltaires Postklassiszismus seine Bestätigung.
32Der durch die Auflösung des Jesuitenordens geistlich heimatlos gewordene Grammatiker Dieudonné Thiébault war einer der letzten Franzosen, die Aufnahme im engsten Kreis um Friedrich fanden. 1765 erhielt Thiébault von Friedrich auf Vermittlung von d’Alembert eine Stellung als Lehrer für Stil und philosophische Grammatik (grammaire raisonnée) an der Berliner Militärschule. Sein vor allem in Aussprache und Stil hervorragendes Französisch wurde von Friedrich hoch geschätzt. Das brachte ihm nicht nur die Funktion des königlichen Vorlesers, sondern auch die des Korrektors der Alterswerke ein. Voltaire betitelte seine Aufgabe maliziös als „blanchir le linge sale“.
33In der von frankophonen Migranten und Diglossie geprägten Sprachbiographie gibt es nun mit dem gerade genannten Dieudonné Thiébault in der Tat einen professionellen Stilisten und Rhetoriker, der in der Académie des Nobles die Funktion eines „puriste“ einnahm, der den Zöglingen den richtigen rhetorischen und stilistischen Schliffgeben sollte33. Seine Ansichten über Stil- und Geschmacksbildung hat er in einem weitschweifig angelegten Essai sur le style niedergeschrieben, der 1774 beim Hofdrucker Decker in Berlin erschien.
34Auffällig ist darin, daß zwar zahlreiche Topoi der französischen Sprachdebatte auftauchen, aber weder auf Vaugelas noch andere „remarqueurs“ explizit Bezug genommen wird. Um so häufiger werden die klassischen und postklassischen vorbildhaften französischen Autoren (von Racine und Bossuet bis Rousseau und Voltaire) und die griechisch-lateinischen Bezugsgrößen von Homer bis Cicero, insbesondere aber auch Quintilian, genannt.
35Während bei Thiébault die Nennung von Autoren und thematischen Kategorien wie Geschmack, Stil etc. immerhin noch argumentative oder didaktische Funktion hat, erscheinen sie in Friedrichs Schrift nurmehr als Versatzstücke. Läßt sich daraus noch keine wirkliche Nähe der beiden Texte und damit ein gemeinsames Thema Friedrichs und seines Vorlesers konstruieren, so sieht es für die Schlußkapitel des Thiébaultschen Essai anders aus: Hier geht es um die Bedeutung von Stil für den Fortschritt in Künsten und Wissenschaften34 und für die Verbesserung und Verfeinerung der Sitten. Beide sind – bei einem entsprechenden Stilbegriff – auch die Themen Friedrichs. Die Trias „style“, „connaissances“ und „goût“ wird bei Friedrich zum aufsteigenden Dreischritt auf dem Weg der Kulturbildung: Durch imitierende Übersetzung der klassischen Autoren35 werde, wie schon im Teil II erwähnt, mangelhafter Stil (und Sprache insgesamt) verbessert36, das allgemeine Wissen vermehrt und guter Geschmack verbreitet37.
36Wie Friedrich warnt auch Thiébault vor allzugroßer Hast. Der Dreischritt „style“, „connaissances“, „goût“ vollziehe sich nacheinander. Der Leser solle nicht erwarten, daß dieser Prozeß in kurzer Zeit vollendet wäre38. Das Resultat dieses langen und langsamen Kulturbildungsgangs sei die kulturelle Vorbildfunktion:
[Le style] enrichit, perfectionne, & fixe la langue ; il rend la nation celèbre, & la fait regarder comme le modele des autres nations […].39
37Dieses Ziel hatte auch Friedrich im Auge und setzt es an das Ende seines Essays, durchaus mit einem Unterton, der den Machtanspruch Brandenburg-Preußens nicht überhören läßt:
Nous aurons nos auteurs classiques ; chacun, pour en profiter, voudra les lire ; nos voisins apprendront l’allemand ; les cours le parleront avec délice ; et il pourra arriver que notre langue polie et perfectionnée s’étende, en faveur de nos bons écrivains, d’un bout de l’Europe à l’autre. Ces beaux jours de notre littérature ne sont pas encore venus ; mais ils s’approchent. Je vous les annonce, ils vont paraître ; je ne les verrai pas, mon âge m’en interdit l’espérance.40
38Welche Rolle schreibt sich nun Friedrich in diesem Prozeß zu – zumal die Frage seit Jahrzehnten Thema des literarisierten Bürgertums war? Als preußischer Louis XIV kann er nicht durchgehen, denn in seiner Akademie, über die er persönlich wachte, sollte Deutsch keinen Platz haben41. Wenn er schon nicht als Förderer und Beschützer der deutschen Sprache auftreten konnte, dann als „remarqueur“?
„Classicisme imaginaire“ oder unzeitgemässe Betrachtungen eines königlichen „Remarqueurs“?
39In Deutschland war die questione della lingua seit Mitte des 17. Jahrhunderts, nach Ende des verheerenden Dreißigjährigen Kriegs, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein Dauerthema. Wenn auch mit unterschiedlichen Konjunkturen, waren die zentralen Fragen zeitgleich und durchaus ähnlich wie in Frankreich gestellt: Was macht eine Nationalsprache aus? Welche Geltung sollte sie im europäischen Konzert haben? Sollte der Sprachgebrauch als Gebrauchsnorm festgeschrieben oder durch präskriptive Normen kodifiziert werden? Was machte eine gute, schöne und reiche Sprache aus und wie könnte man das Deutsche so verbessern, daß es diese Attribute verdiente? Und vor allem: Welche Instanz sollte dies ins Werk setzen?
40So unterschiedlich die Antworten waren, wie sie von Sprachgesellschaften, Literaten und Grammatikern auch gegeben wurden – in zwei Aspekten war man sich weitgehend einig: Deutschland fehlten ein politisches und kulturelles Zentrum und die klassischen Schriftsteller, auf die man als Muster für gutes Deutsch hätte verweisen können. Deshalb machte man sich selbst an die Spracharbeit und hatte dann auch – allerdings erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts – seine Klassiker. Nochmals auf den Punkt gebracht: Das literarisierte Bürgertum installierte sich selbst als kulturell hegemoniale Instanz.
41Friedrich stellt sich mit seiner Schrift in die französische Variante der questione della lingua, die deutsche erwähnt er mit keinem Wort. Seine späte, wenn nicht unzeitgemäße Antwort auf die inzwischen praktisch schon beantwortete Frage, wie denn das Deutsche zu einer europäischen Kultursprache zu machen sei und wer dies in die Hand nehmen solle, besteht im Vorschlag einer Reprise der Entwicklung in Frankreich – allerdings mit einer signifikant anderen Rollenverteilung.
42Seine Diagnose der Sprachverhältnisse in Deutschland ähnelt auf den ersten Blick jener, wie sie etwa Vaugelas für Frankreich beschrieben hatte: Das Deutsche sei barbarisch, unausgebildet, roh, uneinheitlich etc.; es mangle vor allem an „goût“, „connaissances“ und „style“. Doch in Deutschland fehlten die für die französische Entwicklung entscheidenden Instanzen: „la cour“, „la ville “ und die „klassischen Autoren“ vom Rang eines Racine oder Corneille. „La cour“ und „la ville“ waren nicht Potsdam und Berlin, sondern eher das sächsische Weimar. Friedrich und seine Umgebung - „la plus saine partie de la cour“– sprach und schrieb kein gutes oder gar vorbildhaftes Deutsch, sondern Französisch – und nicht immer ein gutes42. Vaugelas hatte Quintilians Kategorien „ratio“, „auctoritas“, „vetustas“ und vor allem die „consuetudo“ betont und sich als Kommentator des aktuellen guten Sprachgebrauchs dargestellt43. Doch den guten Gebrauch des Deutschen kann oder will Friedrich, im Gegensatz zu dem von ihm durchaus geschätzten Grammatiker und Lexikographen Adelung, nirgendwo entdecken. „Usage“ kommt in Friedrichs Essay nur als Verweis auf die französischen Klassiker und die „remarqueurs“ vor, „bon usage“ überhaupt nicht.
43Was das „Klassische“ anlangt, bezog sich Friedrich auf eine virtualisierte Kulturform, die wir „classicisme imaginaire“ nennen. Dieser „classicisme imaginaire“ besteht aus einer Liste kanonisierter antiker Autoren und der besonderen Form ihrer Aneignung durch Übersetzung in die Muttersprache: Klassizismus ist also nicht einfach ein Referenzpunkt, sondern eine Form des kulturellen Transfers. Sprachform und Redeform der griechisch-lateinischen Muster sollten sich dem Deutschen im Prozeß des Übersetzens aufprägen. Die zentrale Kategorie goût verweist auf die französische Provenienz der klassischen Muster. Friedrichs Vorstellung von „klassisch“ ist ein Amalgam aus Antike und französischer Antikerezeption, wie sie vor allem bei Racine zu finden ist, gefiltert durch die Rezeption in der nachklassischen Periode, vor allem durch Voltaire.
44Die Rezeptur, die Friedrich seinem Publikum anbietet, verkürzt diese komplexe Genese seiner literarästhetischen und sprachlich-stilistischen Standards auf den schon beschriebenen Prozeß der unmittelbaren Übersetzung aus den griechischen und lateinischen Quellen. Diese Rezeptur sollte zugleich die Sprachverhältnisse verbessern helfen, deren Hauptdefekte Friedrich in der dialektalen Vielfalt des gesprochenen Deutschen, in der daraus resultierenden Differenz zwischen geschriebener und gesprochener Sprache, im Fehlen grammatischer Ordnung und vor allem des angemessenen, stilistisch hinreichend verfeinerten Gebrauchs des Deutschen in Wort und Schrift sah.
45Auch wenn sein Verdikt gegen regionale Varianz und gegen den „jargon du peuple“ an die Uniformitätspostulate erinnert, wie sie in Frankreich vor allem in der normativen Debatte im Anschluß an die remarqueurs vorgebracht wurden44, so handelt es sich hier um einen deutlich anderen Kontext, der – wie wir gesehen haben – auch biographisch untersetzt ist. Die Diglossie zwischen gesprochenem Plattdeutsch und geschriebenem Hochdeutsch und die Auffassung, daß eine gute mündliche Rede Grundlage für eine gute Schriftlichkeit sei, lassen ihn den Akzent auf Prosodie setzen45.
46So ist Friedrichs Vorschlag zur Verlängerung schwachtoniger Endsilben (geben – gebena) nicht morphologisch, sondern prosodisch motiviert. Sie erlaubt eine aus Daktylen bestehende Rhythmisierung der Sprache46 und ist vortrefflich geeignet, deutsche Hexameter zu bauen. Die Referenz für diese Form gebundener Rede ist – wie nicht anders zu erwarten – die griechische Dichtung, in der dieses Versmaß bevorzugt wurde. So wird aus dem vielfach belächelten und linguistisch abenteuerlichen Vorschlag ein Beleg für den Versuch, das Formgefühl antiker Texte auf das Deutsche zu übertragen.
47Ein zentraler Streitpunkt in der deutschen wie französischen Debatte war das Verhältnis von Norm und Gebrauch. Allerdings erreichte sie in Deutschland ihren Höhepunkt gut ein Jahrhundert später.
48Wie Vaugelas den als „gut“ apostrophierten Gebrauch als Norm zu kodifizieren, kam für Friedrich, wie schon erwähnt, nicht in Frage, weil das Deutsche seiner Meinung nach den Grad an Vollkommenheit überhaupt nicht erreicht hatte. Ein Blick in die Regierungszeit des für Friedrich paradigmatischen Louis XIV macht die Alternativen klar: Entweder das als maßgeblich ausgegebene Sprachideal der politisch und kulturell hegemonialen Klasse als „präskriptive Normen“ festzuschreiben oder dieses Ideal mit Verweis auf eine sprachimmanente Rationalität zu legitimieren. Beides konnte in Deutschland nicht funktionieren: Die literarisierte Bourgeoisie in den deutschen Territorien organisierte ihre kulturelle Hegemonie „am Hof vorbei“ und beklagte ihre politische Machtlosigkeit; die Repräsentanten der herrschenden politischen Regime beklagten ihre marginale Rolle im kulturellen Diskurs. Und eine mit der „grammaire raisonnée“ (Arnauld/Lancelot) vergleichbare ausgearbeitete Grammatikschreibung, auf die man sich hätte berufen können, gab es für das Deutsche bis dahin nicht.
49Für das absolutistische Frankreich ruhte die Denkfigur der Standardsprache auf drei Pfeilern: Es gibt nur eine legitime Sprachvarietät, alles andere ist per definitionem inkorrekt. Die Überlegenheit dieser zum Standard erklärten Varietät wird aus ihrer vermeintlich größeren Klarheit, Logik, Genauigkeit etc. hergeleitet. Und letztlich: Mit der Imitation von exemplarischen Texten erhält die Schriftsprache gegenüber der gesprochenen Sprache mehr Gewicht47.
50Die Sprachverhältnisse in Deutschland, wie sie sich für Friedrich darstellten, gaben für eine derart bestimmte Denkfigur nichts her. Seine Leitvarietät mit all den genannten Attributen findet sich „extra muros“, als die in seinem „classicisme imaginaire“ versammelte französische Latinität. Und statt Imitation der nicht vorhandenen deutschsprachigen Klassiker empfiehlt er die imitierende Übersetzung der antiken Muster oder zumindest ihre Lektüre in deutscher Übersetzung.
51Was Friedrich also bleibt, ist der Rekurs auf „Regeln“, genauer, auf heteronome Regeln, wie sie ihm aus der klassischen Rhetorik eines Quintilian und der klassischen Poetik eines Horaz – in französische Poesie und Prosa übersetzt – zugänglich waren. Mit anderen Worten, es geht nicht in erster Linie um Grammatik oder Orthographie, sondern um den Transfer klassischer Rhetorik-und Poesie-Modelle, wie sie sich ihm in der französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts darboten.
52So hilft nach Quintilian die puritas der Sprachform Barbarismen vermeiden, und claritas im Bau der Sätze bewahrt vor obskurer und diffuser Rede. Auch für Vaugelas gehören „pureté“ und „netteté“ zu den Grundvoraussetzungen für Eloquenz48.
53Die „pureté“ sieht Friedrich durch die dialektale Vielfalt verletzt.
Il n’existe point encore de recueil muni de la sanction nationale où l’on trouve un choix de mots et de phrases qui constitue la pureté du langage.49
54Die Bearbeitung der deutschen Sprache – Friedrich verwendet hier Vokabeln wie „limer“ (feilen) und „raboter“ (abhobeln) – soll mangels nationaler Institutionen, die mit der Académie Française vergleichbar wären, in den Schulen erfolgen. Hier hatte Friedrich ein (wenn auch begrenztes) Handlungsfeld: Kultur- und Sprachbildung hieß für ihn Ausbildung. Insofern sieht er sich weniger als „remarqueur“ denn als „praeceptor germaniae“50.
55Die inzwischen zum Mythos des Französischen als Universalsprache gehörende „clarté“ wird von Friedrich zum Grundprinzip von Sprechen und Schreiben erhoben.
La clarté est la première règle que doivent se prescrire ceux qui parlent et qui écrivent, parce qu’il s’agit de peindre sa pensée ou d’exprimer ses idées par des paroles.51
56Sprachform, Denkform und kultureller Habitus sind im Konzept Friedrichs miteinander verschränkt. Es geht in seiner Schrift um weit mehr als um Literatur oder Literatursprache. Wer De la littérature allemande als Literaturkritik liest und beklagt, der König nehme weder Lessing, noch Wieland, Goethe oder Schiller zur Kenntnis, hat den Titel und seinen Autor mißverstanden. Es geht ihm nicht um Literatur als Gegenstand, sondern um „Littérature“ als ein Konzept zur Kulturbildung, als Form der Aneignung, wie sie Voltaire in einem Fragment gebliebenen Artikel zum Dictionnaire philosophique beschreibt:
La littérature […] désigne dans toute l’Europe une connaissance des ouvrages de goût, une teinture d’histoire, de poésie, d’éloquence, de critique. Un homme qui possède les auteurs anciens, qui a comparé leurs traductions et leurs commentaires, a une plus grande littérature que celui qui, avec plus de goût, s’est borné aux bons auteurs de son pays, et qui n’a eu pour précepteur qu’un plaisir facile.52
Notes de bas de page
1 De la littérature allemande; des défauts qu’on peut lui reprocher; quelles en sont les causes; et par quels moyens on peut les corriger (im folgenden: DLA), zitiert nach: Friedrich der Große, De la littérature allemande, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968, S. 64.
2 Zu den wichtigsten Gegenschriften gehören Justus Möser, Über die deutsche Sprache und Literatur (1781), Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Über die deutsche Sprache und Literatur (1781), Johann Karl Wetzel, Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen (1781), Anonym [Kornelius von Ayrenhoff], Schreiben eines aufrichtigen Mannes an seinen Freund über das berühmte Werk „De la littérature allemande“ (1781), Ludwig Balthasar Tralles, Schreiben von der deutschen Sprache und Litteratur […] (1781).
3 So in dem vor kurzem erschienenen Beitrag von Eberhard Lämmert, „Friedrich der Große und die deutsche Literatur“, in: Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte. Hrsg. von Brunhilde Wehinger. Berlin, Akademie Verlag, 2005, S. 13-21.
4 Vgl. Anonym [Hertzberg], Histoire de la dissertation sur la littérature allemande, Neuchâtel, Imprimé de la Société Typographique, 1787, S. 3-4.
5 Ibid., S. 11.
6 Ibid., S. 13.
7 Ibid., S. 19.
8 Vgl. Jürgen Trabant, Der gallische Herkules. Über Sprache und Politik in Frankreich und Deutschland, Tübingen-Basel, Francke, 2002, hier Abteilung 2, Deutsch-französische Sprach-Reflexionen.
9 Der mutmaßliche Autor einer Biographie Friedrichs, de Laveaux, bezeichnet Hertzberg als „ministre patriote“. Vgl. Anonym [Jean Charles Thibaut de Laveaux], Vie de Frédéric II Roi de Prusse. Accompagnée de Remarques, Pièces justificatives et d’un grand nombre d’Anecdotes dans la plupars n’ont point encore été publiées, Strasbourg, Treuttel, 1788, 4 Bände, hier Bd. 4, S. 93.
10 Vgl. [Hertzberg], Histoire de la dissertation (wie Anm. 4), S. 20.
11 Ibid., S. 21.
12 Ibid., S. 22.
13 Ibid., S. 23.
14 Ibid., S. 24.
15 DLA (wie Anm. 1), S. 64.
16 DLA (wie Anm. 1), S. 78.
17 Zit. nach Friedrich Nicolai, Anekdoten von König Friedrich II. von Preußen, und von einigen Personen, die um ihn waren. Nebst Berichtigung einiger schon gedrukten Anekdoten. 6 Hefte. Berlin und Stettin [ohne Verlag], 1788-1792, hier Heft 5, S. 37.
18 Eben jenes Argument, daß Übersetzen das Selbstdenken befördere, äußerte er in seinem Gespräch mit dem Literaten und Philosophen Garve, den er 1779 in Breslau traf und den er mit einer Neuübersetzung der Officien von Cicero beauftragte. Vgl. [Hertzberg], Histoire de la dissertation (wie Anm. 4), S. 12.
19 Vgl. DLA (wie Anm. 1), S. 81-82.
20 Sämtliche der von Friedrich genannten Autoren finden sich nach Angaben seines Vorlesers Thiébault in den mit gleichem Bestand ausgestatteten Bibliotheken. Vgl. Dieudonné Thiébault, Mes souvenirs de vingt ans de séjour à Berlin ou Frédéric le Grand, sa famille, sa cour, son gouvernement, son académie, ses écoles, et ses amis littérateurs et philosophes, 5 Bde, Paris, Buisson, 1804, hier Band 1, S. 148.
21 DLA (wie Anm. 1), S. 93.
22 Vgl. [Laveaux] Vie de Frédéric II (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 21 und Bd. 4, S. 5.
23 Heinrich de Catt, Unterhaltungen mit Friedrich dem Großen. Memoiren und Tagebücher, Hrsg. von Reinhold Koser. Leipzig, Hirzel, 1884, S. 157-158.
24 Ibid., S. 55.
25 Thiébault, Mes souvenirs (wie Anm. 20), hier Bd. 1, S. 149.
26 Nicolai, Anekdoten (wie Anm. 17), Heft V, S. 35.
27 Vgl. Manuela Böhm, „Berliner Sprach-Querelen. Ein Ausschnitt aus der Debatte um den style réfugié im 18. Jahrhundert“, in: Ein gross und narhafft haffen. Festschrift für Joachim Gessinger, Hrsg. von Elisabeth Berner, Manuela Böhm und Anja Voeste, Potsdam, Potsdamer Universitätsverlag, 2004, S. 103-115.
28 Dies erklärt die von der Forschung ermittelten „frühen“ Hinweise auf die von Friedrich in der Schrift von 1780 vertretenen kulturpolitischen Positionen, vgl. dazu die Beiträge von Uwe Steiner „Die Sprache der Gefühle. Der LiteraturbegriffFriedrichs des Großen im historischen Kontext“ und Corina Petersilka „Zur Zweisprachigkeit Friedrichs II“, in: Wehinger, Geist und Macht (wie Anm. 3), S. 23-49; 51-59.
29 Vgl. Jens Häseler, Ein Wanderer zwischen den Welten, Charles Etienne Jordan (1700-1745), Sigmaringen, Thorbecke, 1993, S. 95-96.
30 Vgl. Ernst Bratuschek, Die Erziehung Friedrichs des Großen, Berlin [ohne Verlag], 1885, 39-51. Zu Duhan allgemein vgl. Ernest Lavisse, Die Jugend Friedrichs des Großen. Berechtigte Verdeutschung von Friedrich v. Oppeln-Bronikowski, Berlin, Hobbing, 1919.
31 Beide verband auch eine Neigung zur „Métromanie“, vgl. Häseler, Ein Wanderer (wie Anm. 29), S. 122. Jordan vermittelte Friedrich zudem eine eher „verstaubte Gelehrsamkeit“, vgl. Häseler, Ein Wanderer (wie Anm. 29), S. 133.
32 Vgl. Catt, Unterhaltungen (wie Anm. 23), S. 55.
33 Friedrich II., Instruction pour l’Académie des Nobles, Berlin, Decker, 1765, S. 78: „[…] il tomberont dans la main du puriste […].“ Dazu ausführlicher im folgenden Teil.
34 Dieudonné Thiébault, Essai sur le style, Berlin, Decker, 1774. Die Schlußkapitel sind überschrieben als „Avancement des Arts & des Sciences“ und „Perfection & la Politesse des Mœurs“.
35 „Ce sont les modèles qu’il doit suivre.“ (DLA (wie Anm. 1), S. 67)
36 „Il résulte, en général, de tout ce que je viens de vous exposer, que l’on devrait s’appliquer avec zèle et empressement à traduire dans notre langue tous les auteurs classiques des langues anciennes et modernes; ce qui nous procurerait le double avantage de former notre idiome et de rendre les connaissances plus universelles. En naturalisant tous les bons auteurs, ils nous apporteraient des idées neuves, et nous enrichiraient de leur diction, de leurs grâces et de leurs agréments. Et combien de connaissances le public n’y gagnera-t-il pas!“ (DLA (wie Anm. 1), S. 68)
37 „De ce frottement des esprits résulterait ce tact fin, le bon goût qui, par un discernement prompt, saisit le beau, rejette le médiocre, et dédaigne le mauvais. Le public, devenu ainsi juge éclairé, obligera les auteurs nouveaux à travailler leurs ouvrages avec plus d’assiduité et de soin, et à ne les donner au jour qu’après les avoir bien limés et repolis. La marche que j’indique n’est point née de mon imagination; c’est celle de tous les peuples qui se sont policés; il n’y en a pas d’autre.“ (DLA (wie Anm. 1), S. 70)
38 „Voyez dans quelle progression le Goût s’est formé chez les nations où il a produit les plus heureux effets! On a commencé par y poser une base solide: on n’y a avancé que lentement & peu à peu [das ist auch Friedrichs Argument, d. V.]: chaque principe nouveau a eu le temps de s’y établir avant qu’on découvrît un second. […] C’est qu’il est un ordre analogue au système de la Nature; […] C’est donc en vain que vous espérez de faire en vingt ans ce que les autres ont fait en plusieurs siècles […].“ (Thiébault, Essai (wie Anm. 34), S. 353 f.)
39 Thiébault, Essai (wie Anm. 34), S. 343.
40 DLA (wie Anm. 1), S. 80.
41 Als brandenburgischer „Augustus“ hat er sich ins Spiel zu bringen versucht, ausgerechnet bei Gellert in Sachsen, der die Anspielung prompt mißverstand und auf die sächsischen Könige bezog.
42 Ausgeblendet blieb bei Friedrich folglich die Kritik Vaugelas’an der Hofsprache (vgl. Nouvelle histoire de la langue française. Hrsg. von Jacques Chaurand u. a., Paris, Éditions du Seuil, 1999, S. 238).
43 Zur Differenz zwischen Programmatik und tatsächlicher Praxis Vaugelas’ vgl. Wendy Ayres-Bennett, Vaugelas and the Development of the French Language, London, Modern Humanities Research Assoc., 1987.
44 Vgl. Antony Lodge, Le Français. Histoire d’un dialecte devenu langue, Paris, Fayard 1997.
45 Seine Kritik am zu obstruentenreichen Deutschen ist notorisch und im Übrigen ein Gemeinplatz, wann immer die Lautstrukturen von Französisch, Italienisch und Deutsch verglichen wurden.
46 So weist „gebena“ die Struktur‘ x x auf.
47 Vgl. Lodge, Français (wie Anm. 44), S. 236.
48 „Il est certain que la pureté & la netteté […] sont les premier fondemens de l’Eloquence, & que les plus grands hommes de l’Antiquité se sont excercez sur ce sujet.“ (Vaugelas, Remarques. Dédicace, zit. nach Ayres-Bennett, Vaugelas (wie Anm. 43), S. 45) Für Vaugelas‘ Nachfolger treten „Logik“ und „Präzision“ hinzu.
49 DLA (wie Anm. 1), S. 8.
50 Das Konzept für eine derartige Sprachausbildung hatte er zuvor in seiner „Instruction pour la direction de l’Académie des Nobles“ (1765) in Berlin verfaßt – eben jener Militärschule, an der auch Thiébault unterrichtete. Die Schüler sollten dort mit Latein-und Französischunterricht beginnen.
„[…] au sortir de cette première classe, ils tomberont entre les mains du puriste, qui dégrossira leur jargon barbare, et corrigera les fautes de style et de diction.“ (Friedrich II, Instruction (wie Anm. 33), 77 F.) Daran sollte sich Unterricht in Rhetorik und Logik anschließen, Redeübungen sollten sich an Cicero, Demosthenes, Fléchier und Bossuet orientieren - all dies durchweg anhand französischsprachiger Texte. Zur Geschmacksbildung sollte der für Friedrich übliche Kanon von Homer bis Voltaire abgearbeitet werden. Im vorliegenden Essay geht der Blick weiter: Vor allem wird die Ausbildung an den Universitäten kritisch gewürdigt: Für jedes Fach hält Friedrich einen Kanon an maßgeblichen Autoren bereit, für jeden Lehrer solle gelten: „Il emploiera tous ses soins à mettre de la justesse, de la clarté et de la précision dans ses leçons.“(DLA (wie Anm. 1), S. 61).
51 DLA (wie Anm. 1), S. 19 f.
52 Voltaire, „Art“, „Littérature“, Œuvres Complètes, Bd. 19. Dictionnaire Philosophique III, Paris, Garnier Frères, 1879, S. 591.
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