Resonanzkasten Bühne
Was Nestroy ihm entlockt. Von der Lokal‑Posse Das Mädl aus der Vorstadt zum Zeit‑Stück Heimliches Geld, heimliche Liebe
p. 81-94
Texte intégral
1Was hat Nestroy zu tun mit Kleist, Büchner, Grabbe – den großen unerkannten und unverstandenen Dramatikern im frühen neunzehnten Jahrhundert? Wenig bis garnichts, so möchte man meinen. Er war kein Literat wie sie, sondern Theaterpraktiker. Und während sie, bühnenfern, vor sich hinschrieben und früh verstarben, ohne Aussicht auf postume Entdeckung, spielte und produzierte Nestroy jahrzehntelang erfolgreich, in lebendigem Austausch mit einem breiten Publikum. Trotzdem trifft sich dieser glücklichere Possenreißer mit jenen unglücklichen Dichtern überwiegend tragischer Bühnenstücke: in der Radikalität, die elementare Eigenart von Theater zu bedenken und zu entfesseln. Wie Kleist, Büchner, Grabbe ist Nestroy ein Erz‑Szeniker. Wie jene nimmt er Grundelemente des Theaters mehr als nur selbstverständlich hin und auf: das Widerspiel von Sprache und Schau, von Reden und Gehörtwerden, von Gebärden und Gegengebärden, von Erscheinen und Verschwinden. Emphatisch spielt er sie aus, befreit er sie vom Zwang einer überkommenen klassizistischen Dramaturgie, die jenen Grundelementen fast nur rhetorische Dienstleistungen abverlangt.
2Was Nestroy da befreit, kann ein Beispiel veranschaulichen aus Schillers Kabale und Liebe. Es ist der schwungvolle Schluß des II. Akts, wo Ferdinand die gefährdete Luise dem Zugriff seines Vaters mit knapper Not entziehen kann. Sein Mittel ist Gegenerpressung wider die staatsgewaltige Erpressung des Präsidenten.
FERDINAND (läßt Luisen fahren und blickt fürchterlich zum Himmel). Du, Allmächtiger, bist Zeuge! Kein m e n s c h 1 i c h e s Mittel ließ ich unversucht – ich muß nun zu einem t e u f 1 i s c h e n schreiten – Ihr führt sie zum Pranger fort, unterdessen (zum Präsidenten, ins Ohr rufend) erzähl ich der Residenz eine Geschichte, wie man Präsident wird. (Ab.)
PRÄSIDENT (wie vom Blitz gerührt). Was ist das? – Ferdinand – Laßt sie ledig! (Er eilt dem Major nach.)
3Wie Schiller die szenischen Grundelemente in rhetorische Dienste nimmt, wie er sie mithin verengt, ja enteignet, ist unverkennbar. Schon die markierten Überbetonungen (menschlich, teuflisch) richten ihr ‘Merke!’ mehr ans Publikum als an irgendwen im Bühnengeschehen. Sprachliche und gestische Auseinandersetzung zwischen möglichen wie auch wirklichen Partnern schrumpft hier durchweg zur einseitigen, also rhetorischen Äußerung: wenn Ferdinand mit “fürchterlichem” Blick himmelwärts den Allmächtigen anruft, der weder sichtbar noch hörbar reagiert; und wenn er, nunmehr horizontal, dem anwesenden Präsidenten seine Drohung ins “Ohr ruft”, letztlich also, gleichsam telephonisch, abermals aufs Publikum zielt. Woraufhin der solchermaßen Beschallte nicht wie auf seinesgleichen anspricht, sondern ebenfalls vertikal von droben getroffen scheint, “wie vom Blitz”. Derart wird der hiesige, eigentliche Schauplatz entkräftet, weil gestisch verpflichtet auf ein metaphorisches Oberhalb.
4Aber auch das handfeste Außerhalb bleibt aus dem Blickfeld verbannt, jetzt und später, obwohl es doch entscheidend mitwirkt am dramatischen Konflikt. Für Luise droht, zu Unrecht, der Pranger, wo Gesetzesbrecher schmachvoll dem Schimpf der Öffentlichkeit ausgesetzt werden. Diese Gefahr kann Ferdinand abwehren durchs angedrohte gleiche Gegengift, nämlich die Schandtaten des Präsidenten eben jener Öffentlichkeit kund zu tun. Geradezu pointiert wird hier heraufbeschworen, was auch Theater grundsätzlich betreibt: eine öffentliche Vorführung zugleich visuell (wie der stumme Pranger) und akustisch (wie die laute Ausschellerei). Doch diesen sinnfälligen Hergang vor aller Augen und Ohren unterbindet Schillers rhetorische Dramaturgie. Sie spricht die öffentlichen Gelegenheiten nur an, sie zeigt sie nicht in Aktion. So scheint es denn ebenso folgerichtig wie bezeichnend, wenn am Ende der Szene die beiden Gegner, einer dem andern hinterher, von der Szene verschwinden ins Außerhalb. Dort will der Präsident den Sohn davon abbringen, seine Drohung wahrzumachen. Erfolgreich, so stellt sich im nachhinein heraus. Und damit stellt sich zugleich heraus, daß selbst die Drohung nur rhetorisch war.
5In die Gegenrichtung wirft sich der Erz‑Szeniker Nestroy, ähnlich und anders wie schon Kleist, Büchner, Grabbe. Er befreit die Szene von jener rhetorischen Fremdherrschaft, indem er ihre Grundelemente freilegt und sie heftig mobilisiert. Die Bühne begreift und nutzt er als öffentlichen Resonanzkasten, in einem doppelten Sinn. Einerseits physikalisch: als einen Raum, der alle Äußerungen der handelnden Personen auffängt, bündelt, verstärkt; mit dem Ziel, sie als vielfältiges Ereignis – eben nicht bloß als rhetorische Behauptung – dem Auditorium zukommen zu lassen. Andrerseits sozial: als einen Raum, in dem jede individuelle Regung der handelnden Personen rechnen muß mit der Resonanz einer durchweg beteiligten Öffentlichkeit; im Stück wie auf der Bühne. Nestroy also verwirft jenen wortgewaltigen szenischen Kleinmut à la Kabale und Liebe. Er denkt nicht daran, die sinnfällige Sensation von Pranger und Ausschellerei nur sprachlich zu umschreiben – etwa so wie den Namen des Teufels, um ihn ja nicht herbeizurufen. Im Gegenteil. Mit Vorbedacht und Kunstverstand entfacht er sie vor den Augen und Ohren des Publikums. Wohl wissend, daß Theater und Drama von jeher verwandt sind mit Pranger und Ausschellerei.
6Deshalb nutzt Nestroy den Resonanzkasten Bühne nicht einfach nur nolens volens. Er formt seine Possen eigens darauf hin. Selbst dort, wo es auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so aussieht. Ich denke da vor allem ans eigenartige Stereotyp der wortwütigen räsonierenden Figur, die der Autor Nestroy dem Mimen Nestroy auf den Leib schrieb. Mal als Hauptrolle, mal als scheinbar abseitige Randrolle: vom Seilergesellen Strick bis zum Gewürzkrämer Weinberl, vom Winkeladvokaten Schnoferl bis zum rothaarigen Barbiergesellen Titus und so fort. Fast immer erfolgt ihr erster Auftritt, der sie nachhaltig als unverwechselbare Figur umreißt, mit einem gesungenen Couplet, begleitet vom Orchester. Nicht der Umwelt auf der Bühne stellen diese Figuren sich vor, denn die ist leer, sondern dem Publikum. So prägen sie sich ein als schiere Solisten ohne Partner und Chor, was dem Prinzip des Resonanzkastens zunächst zu widersprechen scheint. Genau besehen jedoch, bekräftigen sie es. Und zwar dadurch, daß sie den Resonanzkasten nicht vorfinden, sondern ihn selber leibhaftig herstellen durch ihren Auftritt. Diese räsonierenden Figuren nämlich sind zugleich resonierende Figuren. Sie verkörpern, vollführen und erzeugen öffentlichen Widerhall. Akustisch wird ihr visuelles Erscheinen regelmäßig herbeigerufen durchs Orchesterspiel. Es intoniert, ebenso regelmäßig, ein Ritornell, also eine wiederkehrende melodische Brücke zwischen den gesungenen Strophen des Lieds. So entsteht der Eindruck, dieser Weinberl oder jener Schnoferl folge als körperliches Echo dem körperlosen Ruf des Orchesters. Mehr noch, er habe Strophen anderswo bereits gesungen, noch eh er die erste Strophe jetzt und hier auf der Bühne singt. Denn das Ritornell – wie es erklingt und wie schon sein Name sagt – musiziert kein Vorspiel, sondern ein Zwischenspiel. Somit wirkt, wer hier singt, als Widerhall aufs schon Gesungene. Sein Räsonnement ist Resonanz und umgekehrt.
7Den gleichen Eindruck verstärkt noch der Text des Lieds samt der anschließenden Prosagrübelei, aber auch die Haltung, wie Weinberl oder Schnoferl sie dem Publikum kredenzen. Dabei durchschreiten sie und überschreiten zugleich ihren je besonderen Gesichtskreis des Gewürzkrämers oder des Winkeladvokaten. Dieser berufsspezifische Blickwinkel setzt sie instand, sich einen eigenen Reim zu machen auf den unübersichtlichen Lauf der Welt. Wenn sie so die Welt als riesigen Gewürzladen oder als riesige Winkelagentur lauthals begutachten, verallgemeinern sie nicht nur das Besondere, sie verbesondern auch das Allgemeine. Ihre Schlüsse, wie schräg auch immer, sind in jedem Fall Antwort auf das, was das Leben ihnen aufdrängt. Sie sind Antwort auf das, was diese Räsonierer als chronische Erfahrungen längst schon mitbringen in den akuten Augenblick ihres ersten Auftritts. Und indem sie solche Schlüsse, gereimte und ungereimte, beifallzündelnd über die Rampe feuern, entlocken sie dem Publikum weitere Resonanz auf jene Resonanz, die sie selber verlautbaren.
8Auch auf der Bühne verhallt nicht folgenlos, was sie singen und sagen. Prompt, wie schon vorm allerersten Auftritt der räsonierenden Figur, rumort die Szene ringsum. Hurtig bevölkert sie sich und gemeindet den Solisten ein. Hierfür sorgt Nestroys Possendramaturgie nicht minder regelmäßig. Mit immer weiteren Akteuren bringt sie nun erst recht den Resonanzkasten zum Schwingen. Akt für Akt, gipfelnd jeweils im Finale, das möglichst viele Beteiligte zusammenschließt zum kollektiven Resonanzkörper. Dem Auge bietet er sich als Gruppentableau, dem Ohr als Chor einer empörten oder begeisterten, entsetzten oder auch nur neugierigen Öffentlichkeit. Summiert und zugleich summierend äußert sie den Widerhall auf das, was sie immer schon wie auch weiterhin belauert. Eine vieläugige und vielmündige Macht. Beinah allmächtig, doch keineswegs allwissend, wenn sie, oft schwer von Begriff, doch leichtfertig das Wort ergreift zu Ereignissen, die sie mit schiefem Blick nur halbwegs erfaßt. Obwohl sie jedem Akteur unerbittlich im Nacken sitzt, kann und mag er sie doch nicht abschütteln. Denn ohne diese allzeit lauernde öffentliche Resonanz, die er zugleich scheut und sucht, fühlt er sich wie Schlemihl ohne Schatten.
9Ein aufschlußreiches Beispiel liefert das ohnmachtsträchtige Finale zum ersten Akt des Mädls aus der Vorstadt. Während draußen im Vorraum die geballte Gästeschar schon begierig harrt, platzt drinnen die Hochzeit zwischen der energischen Frau von Erbsenstein und dem dümmlich seelenvollen Herrn von Gigl. Mit vorletzten Kräften hat er seine heimliche Liebe zu Thekla, dem Mädl aus der Vorstadt, ihr zugehaucht und sich unverzüglich davongemacht – in eine Ohnmacht. Die empörte Braut folgt ihm alsbald ebendorthin. Das geschieht auf Anraten Schnoferls, der hier als eine Mischung aus lakonischem Reporter, szenischem Ironiker und praktischem Hausfreund posiert. Mehr oder minder besinnungslos, sind somit die beiden Hauptbetroffenen zugleich an‑ und abwesend, zugleich sichtbar und stumm, wenn die Gästeschar hereinbricht. Deren öffentliche Resonanz – „Nur schnell Hilfe her!” – ist freilich weniger menschenfreundlich gemeint als sensationsgeil. Hilfe scheint ihr deshalb geboten, weil erst aus den Wiedererweckten der volle Umfang des ahnbaren Skandals sich wird herausquetschen lassen.
GIGL: ... Mir wird kurios – mich wandelt was an – ich lös’ mich auf – ich fall’ um – (Sinkt in einen Stuhl links.)
SCHNOFERL: Da liegt er!
KAUZ (auf Frau von Erbsenstein deutend): Da steht sie wie versteinert –
SCHNOFERL (hat nach der Mitteltür rechts gesehen): Und da kommt Notarius und Gesellschaft.
FRAU VON ERBSENSTEIN: Nein, die Schand’! Ich sink’ in die Erd!
SCHNOFERL: Das is nur in ein’ Zauberstück möglich, hier is keine Red’ davon.
FRAU VON ERBSENSTEIN: Eine Braut hat das Recht, in Ohnmacht z’fallen, aber ein Bräutigam –
KAUZ: ‘s infam!
SCHNOFEL (zu Frau von Erbsenstein): ‘s bleibt nichts übrig, als Sie fall’n in der Geschwindigkeit auch um! (Führt sie zum Stuhl rechts.)
FRAU VON ERBSENSTEIN: Sie hab’n recht, Schnoferl, mir wird ohnedem –(Sie sinkt in den Stuhl.)
SCHNOFERL: Jetzt kann man den Leuten doch sag’n –
FRAU VON ERBSENSTEIN (aufspringend): Daß ich zuerst umg’falln bin!
SCHNOFERL: Freilich! Freilich! Legen S’ Ihnen nur nieder, sie sind schon da!
(Frau von Erbsenstein sinkt schnell wieder in den Stuhl.)
CHOR DER GESELLSCHAFT:
Das Brautpaar nicht zu sehn,
Was ist denn da geschehn?
SCHNOFERL:
Die Braut is in Ohnmacht g’falln, d’Nerven sind schwach!
Über das trifft den Bräutigam völlig der Schlag
CHOR DER GESELLSCHAFT:
Ah, das is ein Malheur,
Nur schnelle Hilfe her!
Ein Teil der Gesellschaft drängt sich um den Stuhl, in welchem Frau von Erbsenstein in Ohnmacht liegt, ein anderer um den Stuhl, in welchem sich Gigl zu erholen anfängt; unter allgemeiner Verwirrung fällt der Vorhang.) ( S. 541 f.)
10Als ebenso scharfsichtiger Zeitgenosse wie Szeniker, als ebenso hellhöriger Sprachspieler wie Schauspieler ist Nestroy unermüdlich dabei, dem Resonanzkasten Bühne entgegenzukommen. Sinnfällig, im Unterschied zu Schillers rhetorischer Dramaturgie. Sprechende Gesten spürt er auf und sprechende Zungenschläge des zeitgenössischen Lebens, die mit potenzieller szenischer Energie geladen sind. Nestroy entfacht sie in prägnanten Gegenwartsstoffen; in prägnanten dramatischen Zwisten; in prägnanten räumlichen Gelegenheiten; im Widerspiel prägnanter Charaktertypen in prägnanten psycho-sozialen und psycho‑somatischen Spannungen. ‘Prägnant’ soll heißen, daß all diese Eigenschaften besagte Verwandtschaft auffrischen zwischen vergnüglicher Schaubühne und den Bedrohlichkeiten von Pranger plus Ausschreierei. Hierbei entstehen szenische Feste lustvoller Angst und angstvoller Lust. Immer wieder umkreisen sie einen ganz bestimmten – strikt zwieträchtigen – bürgerlichen Übereifer, der sich und die Umwelt zum Äußersten treibt: nur ja nichts rauskommen zu lassen ans Licht der Öffentlichkeit und, konträr, nur ja nichts unerschnüffelt zu lassen im Dunkel des Privatlebens. Unterm Druck dieser Explosivkraft setzen Nestroys handelnde Personen alle Hände und Füße, alle Augen, Ohren und Münder in Bewegung. Womit sie unentwegt auch die Grundelemente des Theaters mobilisieren. So sehr, wie es, andersartig, die handelnden Personen bei Kleist und Büchner und Grabbe tun.
11Wie sich das ausnimmt, ist zu bedenken an einem verhältnismäßig späten Stück, Heimliches Geld, heimliche Liebe (1853). Und wie sich das wandelt im Lauf der Entwicklung von Nestroys Possen-Dramaturgie, ist zu ersehen aus einem Vergleich dieses unpopulären Stücks mit einem populären frühen, mit dem schon zitierten Mädl aus der Vorstadt (1841).
II
12Gemessen an dem, was man füglich von Nestroy glaubt erwarten zu dürfen – so war und blieb die Meinung –, ist Heimliches Geld, heimliche Liebe ein rundum unerquickliches Stück, das beinah nur aus Mängeln besteht. Mangelhaft erscheint die Konstruktion der kriminalistischen Handlung, die sich von früher Vorgeschichte her über drei Akte hinzieht, wo doch das Publikum im ersten Akt schon ahnt, und auch die geschädigten Personen auf der Bühne im zweiten Akt längst schon gemerkt haben müßten: wer da was im Verborgenen verbrochen hat. Leidtragende sind die Kupferschmiedegesellen Franz und Kasimir, die beide um ihr Erbe betrogen wurden. Dem ersteren stünde von Vaterseite ein hoher Lotteriegewinn zu, den einst der inzwischen verstorbene Herr Lärminger unrechtmäßig einsackte, um damit den Kupferschmiedebetrieb zu erwerben. Dem letzteren stünde von Mutterseite eine gleichfalls beträchtliche Summe zu, die jedoch sein Stiefvater und zugleich der Onkel von Franz, Herr Dickkopf, veruntreut hat, um sie mit hohen Zinsen für sich arbeiten zu lassen. Die beiden Gesellen wohnen schon lang bei diesem üblen Verwandten, der sie auch gegenwärtig noch ausnimmt, ohne daß sie ihm auf die Schliche gekommen wären. Soviel, vorerst, zum heimlichen Geld.
13Als mangelhaft gilt ferner, wie hier die heimliche Liebe um sich greift. Kasimir liebt, mit spitzfindigem Bedacht, ein garantiert dummes Mädchen: Leni, die Tochter des noch dümmeren Kupferschmieds Pemperer. Kasimir selber dagegen wird heftig begehrt von der Prinzipalin des Betriebs, der Witwe Lärminger. Sie steckt sogar ihrem Erbschafts‑Feind Dickkopf eine stattliche Summe zu, damit er den Stiefsohn hinterrücks in den Hafen ihrer Schlafkammer und Geschäftsleitung lotst. Ebenfalls heimlich verliebt ist der schüchterne Franz in Marie, die Stieftochter der Lärminger. Mit Hindernissen. Denn Marie ahnt zunächst nicht, was den zartfühlenden Jüngling hemmt: ihr Lotterievermögen, das eigentlich ja ihm zustünde. Außerdem soll sie als gute Partie den Sohn des Herrn Makler heiraten, welcher die Schmutzmoneten des Dickkopf heimlich wuchern läßt. Und selbst dieser raffgierige Kerl liebt nicht nur das heimliche Geld. Er liebt auch, heimlich, die verwitwete Kräutlerin Körbl, die ihm gegen materielle Zuwendung mehr noch zur Verfügung stellt als nur ihre Gemächer für seine lichtscheuen Geschäfte.
14Den ärgsten Anstoß jedoch erregen die Charaktere der beiden Hauptfiguren. Und vollends ihr dramatisches Widerspiel. Da bleibt für jeden, der eine ordentliche Posse schätzt, viel zu wünschen übrig. Einen schlimmeren Bösewicht als den Dickkopf hat Nestroy wohl nie auf die Bühne gebracht. Dieser vormalige Krämer, der sich gesundbankrottiert hat, betrügt nicht nur im großen Stil, wenn er eine Erbschaft und auch später noch gewaltige Gelder an sich rafft. Er bringt zudem, als heimlicher Briefsteller, arme analphabetische Köchinnen um ihre letzten Groschen. Er fälscht Briefe, um Liebschaften zu zerstören, die seine Interessen behindern. Er heuchelt den hilfsbedürftigen Greis, um seine Verwandten durch Mitleid zu erpressen. Er schwelgt geradezu in seinem Haß gegen die Familie Lärminger, die unrechtmäßig den Lotteriegewinn vereinnahmt hat, bevor er selber ihn seinen heimlichen Unrechtsgeldern hat zuschlagen können. Und diesem Ausbund umtriebiger Schurkerei soll nun einer als Widerpart entgegentreten, der kaum mit seinen persönlichen Liebesquerelen fertig wird. Er kann nicht, aber er muß, weil die Possendramaturgie darauf besteht: ausgerechnet Nestroys eigene Bühnenrolle, der Kasimir, dem vor lauter leerlaufender Schwadroniererei und rhetorischer Selbst‑Sucht der geistige Atem ausgeht, dem Schlamassel ringsum mehr als nur spröde, zahnlose Couplets entgegenzuraunzen. Wo bleibt da der bewährte Zug und Druck zwischen dramatischem Spiel und Gegenspiel? Wo bleibt da eine aktiv ausgleichende Gerechtigkeit, die das Publikum schon vorm endgültigen Schluß so gern in berufenen, zupackenden Händen wüßte? Sie bleiben, so scheint es, auf der Strecke.
15Nun werden all die enttäuschten Liebhaber des Johann Nepomuk Nestroy, die dieses späte Stück mißbilligen, zugeben müssen, daß vieles, was sie hier bemängeln, in seinen früheren Stücken durchaus ihren Beifall findet. Nirgends so deutlich wie in der vielgeliebten Posse vom Mädl aus der Vorstadt. Die Parallelen sind bemerkenswert. Auch dort wird ein finanzieller Kriminalfall, den das Publikum rasch durchschaut, nur sehr zäh und betulich aufgedeckt. Auch dort stoßen zwei dramatische Gegenspieler aufeinander, die ähnliche Charaktere haben wie Dickkopf und Kasimir: der betrügerisch geldgierige, aber auch lüstern umtriebige ältliche Spekulant Kauz, den der Winkelagent Schnoferl mehr durch Zufall als durch Scharfsinn am Ende unschädlich macht. Desgleichen gibts da die begüterte Witwe Erbsenstein, die den jüngeren Mann sich erheiraten will. Und das Liebesverhältnis zwischen diesem schüchternen Gigl und Thekla, der Tochter des leumundgeschädigten Buchhalters Stimmer, verläuft ebenso scheu und ehrempfindlich wie das zwischen dem Kupferschmiedgesellen Franz und der Marie Lärminger. Sogar die Art der zwangsharmonisierenden Schlußlösung ist die gleiche. Öffentlich vor allen Beteiligten wird der Bösewicht – dort Kauz, hier Dickkopf – vom bislang begriffsstutzigen Gutewicht – dort Schnoferl, hier Kasimir – zu finanzieller Wiedergutmachung erpreßt. Der endlich Ertappte muß, um schlimmeres zu vermeiden, auch noch gute Miene machen zum guten Spiel. Die erzwungene Heilung der Wunden, die er den andern schlug, die er nun, als vergewaltigter Samariter, seinerseits vornehmen muß, verwundet ihn selbst an seiner schmerzlichsten Stelle. An der Liebe zum heimlichen Geld, das ihm, unter anderm, auch heimliche Liebe verschaffen sollte.
16Erstaunlich, daß diese auffälligen Parallelen kaum auffallen. Läge es doch nah, daß sie das Publikum dazu ermuntern, Heimliches Geld, heimliche Liebe als Variation oder auch als Parodie vom Mädl aus der Vorstadt aufzufassen und dementsprechend zu genießen. Das kann jedoch nicht gelingen. Denn die Variation sprengt allzu heftig die vertraute Possenform, die beiden Stücken zugrunde liegt, als daß sie noch als Variation zu begreifen wäre. Auch die mögliche Parodie leistet hier nicht, was ihr Name verheißt: einen Gegengesang anzustimmen wider das vorgegebene Werk, das sie komisch entstellt. Der Gegengesang ertönt zu disharmonisch und eigen‑artig, als daß der originale Klang des Vorbilds unter den Verzerrungen noch vernehmlich wäre. Das Original wird also nicht bloß verzerrt. Es wird getilgt in einem andersartigen Original. Heimliches Geld treibt sie ab, die wehmütige Erinnerung und die gute Hoffnung aufs Mädl aus der Vorstadt. Denn hier hat sich, zwischen 1841 und 1853, etwas anderes getan. Hier ist mehr geschehen, als daß nur jener Geldlump und Lebenslüstling Kauz in diesem erbarmungslosen Dickkopf seinen wurmstichigen Charme verliert; sowie jener Schnoferl in diesem Kasimir seinen bockigen Witz verliert, der ohnmächtiges Handeln immerhin durch pfiffige Geistesblitze illuminierte. Hier haben sich vielmehr Vorkommnisse erweitert und verallgemeinert, die das Publikum, wenn ihm daran gelegen ist, im Mädl aus der Vorstadt gerade noch zu Sonderfällen persönlicher Abartigkeit herunterspielen kann. Die heimlichen Geld‑ und Liebestransaktionen sind mittlerweile epidemisch geworden. Die Bühne bevölkert sich geradezu mit Leuten, armen und reichen, deren erotische Triebe befallen sind von pekuniären Interessen; und deren pekuniäre Interessen alle Symptome einer erotischen Triebhaftigkeit zu erkennen geben.
17Gerade darin liegt der neuartige, abstoßende Reiz – und die hohe Qualität dieses verkannten Stücks. Die Zeitgenossen mußten es wohl verkennen. Sie selber waren zu eng, zu neu, zu ratlos eingekeilt in das, was das Stück auf unerhörte Weise laut und sichtbar werden läßt. Wir Späteren hingegen können diese Un‑Posse von heute her anders einschätzen, wenn wir sie so ernst nehmen, wie sie es meint. Wir können sehen, daß ihre Mängel keine Kunstfehler sind. Es sind Mängel der geldzerfressenen Außen‑ und Innenwelt, auf die Nestroy sich unerbittlich eingelassen hat. Waghalsig wie nie zuvor und wie kein anderer Bühnenautor seiner Zeit. Dabei zeigt sich, wie die soziale Wirklichkeit das überkommene Possenschema unweigerlich entkräften muß. Deshalb – statt eine wohlgeformte, aber überholte Posse zu verfertigen – hat Nestroy es vorgezogen, jener Wirklichkeit eine strikt gegenwärtige Bühnenantwort zu geben. Mit notwendigen Mißproportionen. Selbst der betrübliche Umstand, daß dem Autor hier die sonst so triftigen Couplets weithin daneben gehen, spricht ex negativo für seine Treffsicherheit. Die Welt, wie sie hier erscheint, ist kollektiv mißraten. Ein witziger individueller Einzelkopf, heiße er Kasimir oder wie immer, ist nicht Manns genug, um sich einen individuellen Vers darauf zu machen. Geschweige denn ein ganzes Couplet oder gar mehrere. Daß Heimliches Geld, heimliche Liebe der heutigen Nachwelt nicht nur ästhetisch mehr bedeuten kann als den Zeitgenossen, darüber muß sich niemand wundern. Grundsätzlich leben wir, wenn auch unter andern Umständen, immer noch in den gleichen Verhältnissen, die das Stück szenisch aufrührt. Äußerlich und innerlich: Wie wir wirtschaften und verwirtchaftet werden. Wie wir miteinander umgehen und umgangen werden. Wie wir uns und einander ängstigen und unterjochen. Wie wir uns bewußt oder unbewußt, selbst in der Liebe, einander anpreisen, erwerben und vergüten.
18Die vermißte handfeste Spannung der Posse weicht in Heimliches Geld, heimliche Liebe einer vielfältigeren und weitergreifenden Spannung. Das besondere Thema des Stücks – just im Theater durchgeführt und nicht etwa im Roman – ist spannungsvoll auf sehr vertrackte Art. Schon der Titel zeigt es an. Zwei Machtfaktoren verkoppelt er, die der bürgerliche Lebenswandel ideell als unvereinbar erklärt, tatsächlich aber meist zusammenzwingt. Noch dazu unterm Vorzeichen von Heimlichkeit; von lichtscheuem, inoffiziellem Treiben. Die Spannung steigert sich vollends durch den dritten Machtfaktor, der abermals unvereinbar erscheint mit den andern: durch die Bühne. Sie macht, wozu sie schon immer da ist, öffentlich sichtbar, was bei heimlichem Geld‑ und Liebestreiben doch gerade verborgen bleiben soll. Und sie wirkt, wie gesagt, gerade bei Nestroy als besonders drastischer Resonanzkasten. Aus der kunstvollen Mesalliance dieser drei Faktoren also lebt die abartige Spannung des Stücks. Unbarmherzig reißt sie uns die Augen und Ohren auf, wo wir sie sanft sonst verschließen.
19Liebe, so möchte man glauben, ist eine sinnliche, aber unmaterielle Macht. Erfüllen kann sie sich nur in und mit einem persönlichen, unersetzbaren Partner. Geld, andrerseits, ist eine unsinnliche, aber materielle Macht. Dem, der es hat, kann ein durchaus unpersönlicher, ersetzbarer Geschäftspartner allenfalls beispringen, um es zu vermehren. Liebe, weil Gefühl, gilt prinzipiell als unberechenbar. Deshalb macht man sie, um sicher zu gehen, im bürgerlichen Leben nur zu gern berechenbar, indem man im Partner zugleich Geld erheiratet. Solcher Umgang mit der Liebe erweist sich indes als ebenso riskant wie der Umgang mit dem Geld. Es gilt, weil gefühllos, prinzipiell als berechenbar. Doch wenn es nicht als gehorteter Schatz in der Kassette bleibt – wo Molieres frühbürgerlicher Geiziger es noch einzusperren suchte –, dann geht es eigene, unvorhersehbare Wege, die der einzelne Besitzer oft nicht mehr zu steuern vermag. Das alles kann sich, anständigerweise, eigentlich so nicht sehen lassen. Es muß sich aber, unanständigerweise, durch Nestroy besichtigen lassen.
20Grell rückt sein Stück zweierlei Formen von heimlicher Liebe, doch nur einerlei Form von heimlichem Geld ins Rampenlicht. Die erste Form von heimlicher Liebe ist eine deformierte Liebe. Es ist jene, welche Dickkopf durch finanzielle Zuwendungen der begehrten Kräutlerin entlockt; oder auch jene, welche die Witwe Lärminger gleichfalls pekuniär in Dickkopf investiert, auf daß er ihr den Kasimir gefügig mache. Endziel solcher klingenden Liebesregungen kann und soll sogar sein: die Entheimlichung der Erotik im Akt der öffentlichen Hochzeit. Insofern ist die erste Form von heimlicher Liebe nichts weiter als eine Vorform der offiziell anerkannten, der Ehe. Dieses allgemein verfügte und zumeist erstrebte Endziel läßt sich freilich auch anders beurteilen. Als öffentlich geförderte Prostitution und Exhibition dessen, was von Natur aus intim ist. Genauso sieht es der wütende Geselle Franz, wenn er erfährt, daß die geliebte Marie mit dem Sohn des Herrn Makler gepaart werden soll.
FRANZ: Diese an einen Liebesbund geknüpfte Öffentlichkeit, dieser Anschlagzettel der süßesten Geheimnisse, diese unstatthafte Schaustellung einer Blume, welcher die Grabinschrift angeheftet, verletzt das Gefühl, ich finde etwas Beschimpfendes in dieser mit dem Namen “Hochzeit” bekleideten offiziellen Orgie der Liebe. […] Solche Leute haben Geld und suchen und finden wieder Geld, da muß es Einklang geben.
KASIMIR: Der Klang wenigstens is nicht abzuleugnen, wenn Geld zu Geld geworfen wird. (S. 90)
21Die zweite Form von heimlicher Liebe dagegen ist jene, die solchen Klang vermissen läßt. Öffentlich kann sie nicht erklingen, wo beiden Seiten oder auch nur der einen die Mittel fehlen, die den erwünschten Klang hervorbringen. So bei Franz. Er schmäht zwar die bürgerliche Hochzeit, hat aber ihre Voraussetzungen verinnerlicht. Denn er wagt nicht, als Habenichts sich der vermögenden Marie zu nähern. Zu heimlichen Umwegen sind auch die vielen armen Köchinnen gezwungen, deren Liebhaber nicht ins Haus kommen dürfen. Sie opfern ihr Gespartes dem Briefsteller Dickkopf, damit er wenigstens auf dem Papier ihrer unbeholfenen Inbrunst Ausdruck verschafft.
22Sogar der redelustige Kasimir ist zeitweilig auf solcherlei mittelbaren Liebesverkehr mit seiner Leni angewiesen. Heiraten kann er sie nicht, bevor ihm unverhofft sein veruntreutes Erbe zufällt, von dem er keine Ahnung hatte. Daß ihm wie dem Franz, obwohl sie beide am Ende davon ereilt werden, die bürgerliche Ehe auch subjektiv anrüchig ist, zeigt zumal die aparte Wahl seiner Geliebten. Entzückt ist er von Lenis Dummheit – als Zeichen einer vorbourgeoisen Unschuld. So scheint sie ihm gefeit gegen die künstlich anerzogene Dummheit der Töchter aus gutem Hause, die abgerichtet werden zu stumpfsinnigem Klavierspiel und Französisch. Nur, der fragwürdige Liebreiz von Lenis reiner Torheit ist aus der Armut ihres Vaters erwachsen, der nicht mal das Geld zur simpelsten Alphabetisierung hat aufbringen können. Ein ernüchternder Umstand, welcher der ebenso fragwürdigen Intelligenz ihres Liebhabers entgeht.
23Soweit es nicht an der heimlichen Liebe mitwirkt, kommt heimliches Geld, wie gesagt, nur in einerlei Form zum Zug. Aber: allenthalben. Jede Figur in diesem Stück ist davon betroffen, in ihrem äußeren und inneren Befinden. Sei’s als Täter oder als Opfer. Sei’s direkt oder indirekt. Nestroy offenbart das heimliche Geld als primitive Rohform des anerkannten, scheinbar unabdingbaren kapitalistischen Gesamtgetriebes. Als krummes Mittel für diejenigen, die noch nicht souverän genug die Spielregeln beherrschen, um legal durchzuführen, was sie vorerst nur illegal zusammenstümpern. Dickkopf ist die hervorragende Beispielfigur für derlei unzulängliches Gebaren. Seine raffgierige Tätigkeit verhält sich zum zeitgenössischen Geschäftsleben wie Kleinstmanufaktur zur technisierten Fabrik. Grobschlächtig betrügt, erpreßt und beraubt er seine allernächsten Opfer, gleichsam in handwerklicher Heimarbeit, um die Erträge dann erst in angemessen anonyme Bahnen zu schleusen: beim Spekulanten Makler, der sehr wohl weiß, aber nicht lang fragt, wo das Geld herkommt, das er profitabel “arbeiten läßt”.
24Wäre der Autor Nestroy nur darauf aus, moralische Kritik an widerlichen Charakteren zu üben, so wäre dieser Makler, der vom Anfang bis zum Ende sein öffentliches Ansehen bewahrt, als der größere Schuft anzusehen. Nestroy zielt jedoch auch hier aufs Ganze. In Makler stellt er dem auffälligen anachronistischen Stümper Dickkopf den unauffälligen Könner gegenüber, der synchron wie ein präzises Zahnrad ins Gesamtgetriebe paßt. Rechtzeitig zieht Makler sich zurück, sobald er merkt, daß Kasimir endlich den Erbbetrug seines Stiefvaters durchschaut. Und er lockt sogar, um sich zu schützen, den Dickkopf in die Falle. Makler ist es auch, der, nachdem er seinen Sprößling gewinnbringend mit Marie verkoppelt zu haben glaubt, die offiziellen Familienbande zusätzlich noch ausnutzt fürs heimliche Geld. Antagonistisch spielt er in einer Person die Rolle des Finanziers aus gegen die des Verwandten, wenn er Marie mit 30% Zinsen übers Ohr haut. Selbstgefällig vermerkt er dabei: “Der Geschäftsmann Makler macht sogar dem Schwiegervater Makler ein Geheimnis aus dem Geschäft” (S. 102).
25Unheimlich ist letzten Endes beides in seiner Wirkung: der heimliche, aber auch der unverhohlene, allgemein anerkannte Geldverkehr. Nicht nur dort, wo die einzelnen Täter und Opfer Name und Gestalt gewinnen. Noch unheimlicher ist die Wirkung im gesamten zwischenmenschlichen Verkehr, wo, im Gegenteil, Namen und Gestalten sich verflüchtigen. Die Epoche des fortschreitenden Kapitalismus ist eine der schwindenden Unmittelbarkeit. Auch diese Erfahrung drückt sich in keinem andern zeitgenössischen Bühnenstück so drastisch aus wie in diesem. Nestroy setzt sie dramaturgisch um und macht sie zum szenischen Ereignis. Vor allem in der aberwitzigen Vielzahl von Briefen, die da geschrieben und gelesen, gefälscht und zerstör~ verzögert und mißverstanden werden. Der Brief auf der Bühne – für viele Dutzenddramatiker oft nur ein bequemes technisches Hilfsmittel – wird für Heimliches Geld, heimliche Liebe zum handfesten Symbol. Es offenbart den verlorenen oder doch gestörten Direktkontakt der Partner. Was sie einander nicht sagen können, von Angesicht zu Angesicht, vertrauen sie dem manipulierbaren Papier an, das den Adressaten nur auf Umwegen über Mittlerinstanzen erreicht.
26Diesen aufschlußreichen Sachverhalt spitzt Nestroy noch zu, indem er den Dickkopf zum Briefsteller macht, der damit zusätzliches Geld einheimst. Was sich da, auf der Bühne wie im damaligen Leben, abspielt, entspricht dem anonymisierenden Geldverkehr. All die unbeholfenen “geistig Taubstummen, […] die nicht lesen und nicht schreiben können” (so Kasimir S. 76), bringt Dickkopf künstlich zum Sprechen und Hören, indem er die eigenen Lese‑ und Schreibkünste ihnen teuer vermietet. Hierbei tilgt er, sofern er die Korrespondenz nicht überhaupt fälscht oder unterschlägt, den individuellen Ausdruck ihrer Botschaften. “Der Stil ist dann meine Sache.” (S. 61) Ergebnis: der Empfänger des Briefs findet darin keine Spur vom persönlichen Charakter des Absenders, wenn er das Papier vor sich hat mit der fremden Handschrift und den vorgestanzten Allerweltsfloskeln. So betreibt der Briefsteller Dickkopf im intimen Leben das gleiche Geschäft, das der Name des Herrn Makler im öffentlichen Wirtschaftsleben bezeichnet. Ein Makler: Er vermittelt – hier ideelle – Wertobjekte, ohne ihren Wert zu steigern. Mit hohem eigenen Gewinn und auf Kosten jener Partner, die bei unmittelbarem Kontakt sich nicht nur besser, sondern auch argloser verständigen könnten.
27Diese prinzipielle Uneigentlichkeit hat jeden Lebensbereich erfaßt. Nestroy, der hartnäckige Realist, kann freilich keine ebenso prinzipiellen Gegenkräfte entdecken, die ihr gewachsen wären – innerhalb einer derart verrotteten Gesellschaft. Nestroy, der gewitzte Szeniker, findet jedoch eine pfiffige, ostentativ vorläufige Lösung. Er rückt dem Teufel mit Belzebub zuleibe. In Gestalt des bislang untätigen, aber mundflinken Antagonisten Kasimir. Dieser spätberufene Gegenspieler greift endlich ein und an im letzten Akt. Den erfolgreichen Verkehrsstil der andern Seite, den plumperen des Dickkopf wie den eleganteren des Makler, hat er inzwischen durchaus studiert, um sie seinerseits anzuwenden und den beiden Übeltätern damit die Hölle heiß zu machen. Eben jenen Verkehrsstil der Uneigentlichkeit, der verstellenden und entstellenden Vermittlung. Den Verkehrsstil der falschen Gefühle, die Dickkopf sogar noch im simulierten Angsttraum naturgetreu beherrscht; und den der erschlichenen Rolle und der Charaktermaske, womit Herr Makler sich durchs Leben posiert.
28All das eignet Kasimir sich an, nicht ernsthaft sondern akrobatisch, um es in der Szene III, 11 auszuspielen. Sie bewirkt fast so etwas wie eine klassische Peripetie. Auch komödiantisch gehört sie zu den explosivsten Ereignissen, die Nestroy je auf die Bühne brachte. Erstmals ist Kasimir ins vornehme Gehäuse des Herrn von Makler eingedrungen, wo alle gestandenen Personen versammelt sind. Er kommt im Auftrag des gehemmten, ehrverletzten Franz, um Maries heimlich rückerstattetes Geld öffentlich zurückzugeben samt einer feierlichen Verzichterklärung. Somit spielt Kasimir – wie der Briefsteller Dickkopf und der Spekulant Makler – die Rolle des mittelbaren Zwischenhändlers. Aber mit umgekehrter Absicht und Wirkung. Er multipliziert Minus mal Minus zu Plus. Die negativen Umstände des mittelbaren Verkehrs und des abwesenden Klienten verwandelt er positiv in seine eigene mehrfache Präsenz. Will sagen er wechselt virtuos vor aller Augen und Ohren zwischen mehreren Rollen hin und her. Dabei entstellt Kasimir nicht die originale Botschaft, noch unterschlägt er sie gar. Er vervielfältigt sie, indem er sie happenweise zitiert und gleich darauf in eigene wuchtigere Worte übersetzt. Was Franz gemeint, aber viel zu erhaben ausgedrückt hat, macht Kasimir solchermaßen den Angesprochenen überhaupt erst zugänglich. Sie alle nämlich, außer der fast verstummten Marie, können nicht begreifen, wieso da wer partout auf Geld verzichten will. Kasimir jedoch kriegt es hin, daß sie mehr als stutzig werden. Vor allem Maklers gemessene Selbstsicherheit verwackelt unterm Furor des beredten Mittlers.
KASIMIR (zu Herrn von Makler): Is das die Frau Liebste? Ah, freilich, es kann ja keine Liebere geben. (Zu Hortensia mit tiefer Verbeugung.) Ich schätze mich glücklich, jetzt erst Ihre Bekanntschaft zu machen!
HERR VON MAKLER (ungeduldig): Kommen Sie zum Zweck!
KASIMIR: Von wegen des Auftrags, welchen mir der Franz gegeben, sollt’ ich ein strenger Ausrichter sein, aber dennoch – (mit einem Blick affektierter Devotion auf Hortensia, welche, so oft er sich an sie wendet, ihn mit stolzer Verachtung mißt) der Damen wegen werd’ ich als eigenmächtiger Milderer verfahren, also hören Sie –! (Die Stellung und den Ton des Franz parodierend, zu Marie.) “Meine Gefühle sind im Innersten verletzt, es ist nötig, für meine Ehre, für meine Rache” – (in natürlichem Tone) so sagt er – (begütigend) “Die Sach’ bitzelt ihn halt” – so sag’ ich. (Wie oben parodierend.) “Kam je eine Klage, ein Murren über meine Lippen? Wie konnte jemand sich berechtigt glauben, mir ein Almosen zuzuschleudern?” – (in natiirlichem Tone) so sagt er – (begütigend) “Er verdient sich, was er braucht, und will sich nichts schenken lassen”, so sag’ ich. (Wie oben parodierend.) “Nehmen Sie ihn zurück, den Betrag der Verletzung, die Summe der Erniedrigung, denn die Ehre wird auch in der Verhältnisse zwangvollen Fesseln nie, die Gefühle des innigsten Dranges würdevoller Haltung edlen Stolzes verleugnend, in der Selbstverachtung schmachvollem Pfuhle untergehn!” – (in natürlichem Tone) so hat er mir’s aufgeben – (begütigend) und “Sie sollen ihn halt für keinen solchenen halten, und da is das ganze Gerstl retour!” – so richt’ ich’s aus! (Überreicht Marien die drei in einem Kuvert befindlichen Banknoten.)
HERR VON MAKLER (Imponierend zu Kasimir.) Sagen Sie diesem Herrn Franz, wenn seine Armut das Mitleid einer gefühlvollen Seele erregt, so soll er froh sein und nicht –
KASIMIR: Auch für diesen Fall hab’ ich einen Auftrag: (wie oben Ton und Haltung von Franz parodierend) “Wenn ein Unbefugter sich dreinmischt, bring’ ihn zum Schweigen, brillantene Hemdknöpfeln schützen eine Kehle nicht, die Worte der Touschierung faselt” – (in natürlichem Tone) so saget der Franz, aber (begütigend) “Ihnen geht’s ja gar nix an, lieber Herr von Makler –” so sag’ ich; ich mildre alles!
HERR VON MAKLER (beleidigt): Erlauben Sie –
HORTENSIA: Wozu machst du Umstände? (Gebieterisch zu Kasimir.) Fort aus unserem Hause!
KASIMIR (Hortensia mit affektiertem Entzücken betrachtend): Herrliche Dame! Wie sie den sehnlichsten Wunsch in meiner Seele liest! (Zu Herrn von Makler.) Um gar keine Frau beneid’ ich Ihnen als um diese. Ich muß mich losreißen. (Zu Marie.) Wollen Sie nachschaun, daß nix fehlt an die dreihundert Gulden, dann scheid’ ich für immer! (Einen schmachtenden Blick auf Hortensia werfend, die sich mit schroffer Geringschätzung von ihm abwendet.) (S. 135-137)
29Kasimir, gleich einem entfesselten Orgelspieler, zieht ständig wechselnde Register: der Töne und der Gesten, der Haltungen und der Stillagen. Mal für alle Anwesenden zusammen, mal für jeden einzelnen gesondert. Jäh wechselt er über zwischen der suggerierten Gestalt und Stimme des fernen Franz und seiner eigenen. Erst recht verwirrt er die Adressaten, wenn er gar noch fratzenhaft die einschlägigen Posen durchprobiert, die in den besseren Kreisen den Partner hofieren oder einschüchtern, beflirten oder verletzen. Alles in allem: Kasimir wird seinem Auftraggeber mehr als nur gerecht. Und er erzielt eine weit größere Wirkung, als sie beide erwartet haben. Die Gegenseite wird nervös unterm Angriff ihrer eigenen zweckentfremdeten Waffen. Obwohl der Angreifer mehr aus artistischer Lust mit den falschen Tönen und Masken herumspielt, rechnen die echten Fälscher schon mit dem Ernstfall.
30Auf die gleiche Weise tilgt Kasimir am Schluß des Stücks dann auch eine schwere Hypothek der Vergangenheit. Wiederum, indem er den pervertierten allgemeinen Verkehrsstil seinerseits pervertiert. Den Vermächtnisbrief des reuigen Lärminger an seine Tochter – worin er das einstige heimliche Geldverbrechen gesteht – fälscht Kasimir beim lauten Vorlesen: zugunsten des verstorbenen Schreibers und seiner Nachkommen. Damit steht dem öffentlichen Liebesglück von Franz und Marie nichts mehr im Weg. Und selbst den Dickkopf zähmt er auf Dickkopfsche Weise. Kasimir kehrt die psychische Erpressung um, die er und Franz jahrelang durch den mitleidlosen Mitleidwinsler haben erleiden müssen. Er erpreßt ihn zu Wohlverhalten und Wiedergutmachung mit einer Drohung, die den Dickkopf tief erschüttert. Er bedroht ihn mit dem Irrenhaus, wo er ganz und gar und ein für allemal verschwände.
31Was diesen Kerl fast tödlich schreckt, ist also nicht die Justiz, die allen Grund hätte, ihn ins Gefängnis zu stecken. Es ist vielmehr jene Anstalt, wo einer als ganzer vitaler Mensch auf immer aus dem menschlichen Verkehr gezogen wird. Also nicht bloß teilweise, als reputierlicher Staatsbürger nur aus dem gesellschaftlichen Leben. Daß einzig jene Aussicht den Dickkopf mürbe machen kann, und daß Kasimir eben das unwillkürlich erkennt, wirft im nachhinein nochmals ein besonderes Licht auf dieses merkwürdige dramatische Gegenspielerpaar. Bös hin, gut her: die beiden stehen einander näher, als ihre Charaktere und Handlungen glauben machen. Beide, Dickkopf wie Kasimir, sind anspruchsvolle und vitale Außenseiter, denen die gegenwärtige Gesellschaft keinen angemessenen Spielraum gibt für ihre besseren Kräfte. Deshalb entziehen sich beide, jeder anders, dem rundum verzweckten, wohlberechneten bourgeoisen Leistungsleben. Dickkopf ist ein ungefälliger Stadtschrat mit Kanten und Beulen, kein farblos Glatter wie der Herr Makler. Seine schier krankhafte Geldgier sperrt sich gegen alle kühle Strategie. Und Dickkopf kommt noch mehr in Fahrt, wann immer er seine eigene Bosheit auskosten, seine Haßgefühle gegen die Lärmingers laut und wüst genießen kann. Obwohl Dickkopfs Lust zur bösen Leidenschaft seine Erwerbsinteressen eher stört als fördert, pflegt er sie als einen köstlich unverwertbaren Luxus. Darum träumt er sich auch schwelgerisch und lauthals, ohne sich von der ernüchternden geliebten Kräutlerin bremsen zu lassen, in vorzivilisierte Paradiese der Südsee. Dort nämlich glaubt er, frei zu sein von den uneigentlichen Verkehrsformen.
DICKKOPF: Du mußt dich nicht abschrecken lassen von die gewöhnlichen amerikanischen und australischen Beispiele; wo alles hinpovelt, da gehn wir nicht hin. Was gibt’s da auch für a Massa G’sindl! Wir müssen allein sein, wir sind Liebende; wo noch gar keine Kultur is, dort is es für uns am schönsten.
FRAU KÖRBL: Na, sein S’ so gut, machen S’ a Wilde aus mir.
DICKKOPF (schwärmerisch): Sali, du kennst das nicht; im Stillen Ozean gibt es grüne Inseln, wo sich die blaue Woge an Korallenklippen bricht; du, da is es schön!
FRAU KÖRBL (gelangweilt): Ich bitt’ Ihnen –!
DICKKOPF (wie oben): Und billig is es dort! Die Kokospalme nährt uns, der Achtundvierz’ger wachst wild auf den tropischen Hügeln; Hausherr’n gibt’s kane und der Schneider kost’t gar nix. Da muß der Mensch reich wird’n. Eine große Muschel, von Walrossen gezogen, und ein ‘Affen hint’ aufstehn, das ist die Equipa gedenk’, Sali, wenn wir so dahinfahren auf den Wellen –? (S. 146 f.)
32Gewiß, das sind ebenso törichte wie abgegriffene Kitschvisionen seiner Zeit. Doch die Inbrunst, mit der Dickkopf sie entwirft, läßt spüren, was ihm hier und jetzt abgeht: sich auszuleben und seine Kräfte zu messen bei minder schäbigen Gelegenheiten als den gegenwärtigen.
33Auch sein positiver Antagonist Kasimir ist ein Opfer der allgemeinen sozialen und ökonomischen Entwicklung, mit der sie beide nicht Schritt halten können – und nicht wollen. Auch Kasimir schwärmt, obwohl nur metaphorisch, von exotischen Unschuldszonen einer vorbürgerlichen Welt, wo “der Urwald der Unwissenheit noch durch keine Axt der Kultur gelichtet, die Prärie der Geistesflachheit noch durch keine Ansiedlung der Wissenschaft unterbrochen ist” (S. 75). Dieses gegenaufklärerische Gerede erwächst aus dem Groll gegen die fehlentwickelte, nichts als oberflächlich ausgeschlachtete Bildung. Kasimir selber, so zeigt sich allenthalben, ist das Musterbeispiel einer unterforderten, störrisch leerlaufenden Intelligenz, die als ganze nicht produktiv werden kann. Doch eh er sich einläßt auf die arbeitsteilige Lebensweise, die ihn zerstückeln würde, pflegt er lieber ein gänzlich unpraktisches Denken, das unverwertbar vor sich hin formuliert. Beiden, Kasimir und Dickkopf, fällt angesichts der bestehenden Verhältnisse nichts anderes ein als ein absonderliches L’art pour l’art. Eine begeisterte Selbstzwecklichkeit aus Wut über die geistlos totale Verwertungswelt ringsum. Mal mit abwegigen Gefühlen, mal mit abwegigen Gedanken. Die Gesellschaft, wäre sie anders, gäbe ihnen Besseres und Vergnüglicheres zu tun. Aber sie ist noch immer so. Solang andere Leute als Kasimir und Dickkopf daran Gefallen finden. Und solang Leute wie Kasimir und Dickkopf sie sich gefallen lassen.
Der Aufsatz ist die erweiterte Fassung eines Beitrages im Programmheft zur Inszenierung des Stücks durch Achim Benning, an der ich produktionsdramaturgisch mitgewirkt habe (Akademietheater Wien, Februar 1985). –
Zitiert wird nach Nestroys sechsbändigen Gesammelten Werken, hg. v. O. Rommel, Wien, 1948/49: Das Mädl aus der Vorstadt in Bd. 3, Heimliches Geld, heimliche Liebe in Bd. 6
Auteur
Universität Stuttgart
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