Unterwegs in die Kindheit in Peter Handkes Kurzer Brief zum langen Abschied
p. 44-57
Texte intégral
1Mit dem Titel Unterwegs in die Kindheit soll eine gegenläufige Bewegung bezeichnet werden, bei der auf räumlicher Ebene vorwärts und rückwärts, Ziel und Ursprung, Entfernung und Annäherung, auf zeitlicher Ebene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in dialektische Wechselbeziehung treten. Als graphisches Modell würde dem nicht jene auf dem Schutzumschlag des Buches gezeichnete Reiseroute von der Ostküste zur Westküste Amerikas entsprechen, sondern eher eine andere Vorstellung :
Il y a peut-être une image qui convient à mon idéal : c'est le fleuve avec ses méandres et ses déviations.1
2In Langsame Heimkehr ist der “mäandernde Strom” literarisches Bild geworden : ein Landschaftskomplex ganz unter dem Zeichen der gleichzeitigen Gegensätzlichkeit von Strömen und Stagnieren, Vorwärts- und Rückwärtsbewegung, Linearität und Zirkularität, auf die kürzeste Formel gebracht in dem Bild jener natürlichen Wasserwalzen “tief unter der stillen Oberfläche in der Gegenrichtung rotierend” ; In-bild, verinnertes Bild, das sich der Betrachter “nicht denken, sondern sinnlich miterleben konnte”2. Das sinnliche Miterleben dieses Raums der Gegensätzlichkeiten erscheint als Voraussetzung der langsamen Heimkehr aus dem fernen Alaska zurück in das Kindheitsland Österreich :
[er] sah in dem Ort jetzt und hier seine einzige Möglichkeit : wenn er sich nicht auf ihn (oft verdrossen) mit einer Arbeitsanstrengung einließe, gebe es auch keine Zuflucht mehr zu den Räumen seiner Vergangenheit.3
3Schimmert dieses Grundmuster der Langsamen Heimkehr, ein Muster, wo sich ein ganz spezifisch strukturiertes Raumbild mit dem Thema der Rückkehr in die Vergangenheit verbindet, nicht schon im Text unseres Romananfangs durch ?
Die Jefferson Street ist eine stille Straße in Providence. Sie führt um die Geschäftsviertel herum und mündet erst im Süden der Stadt, wo sie inzwischen Norwich Street heißt, in die Ausfahrtstraße nach New York.4
4Diesem Bild des Ankunftsortes im fremden Land mit dem sprechenden Namen “Providence”, folgt – plötzlich, unvermittelt – die Rückerinnerung an das Kindheitsland, an die Räume der Vergangenheit : der Hof mit den Blustropfen an der Treppe, der Wald in der Dämmerung (KB, 9).
5So exponiert der Roman auf seiner ersten Seite ein Muster, das wir im Text weiterverfolgen wollen. Es geht um das dialektische Verhältnis zwischen der gegenwärtigen vorwärtsgerichteten Bewegung der Reise nach und durch Amerika und der in die Kindheit rückwärtsgreifenden Erinnerung ; zu zeigen ist, wie die räumliche Entfernung von dem Kindheitsland die Annäherung an die Zeit der Kindheit ermöglicht, wie die “Weg-Reise”5 nach und durch Amerika Voraussetzung für eine Rückkehr wird.
6Die Analyse dieser Gegenläufigkeit am Beispiel des Unterwegs in die Kindheit wird verstanden als ein Beitrag zu einer Problematik, die für uns im Zentrum des poetischen Verfahrens – und ganz speziell unseres Textes im Vergleich zu den Vorangehenden – steht : das Begehren nach Zusammenhang.6 In dieser Perspektive werden die oben zitierten Raumphantasien zu Wunschbildern für eine Versöhnung der Gegensätze, wesentlicher Aspekt für die “Arbeit am Glück” als die Handke sein Schreiben versteht.7 Heißt es doch anläßlich der Bildphantasie des “mäandernden Flusses” :
[…] im Glücksfall aber, in der seligen Erschöpfung, fügten sich alle seine Räume, der einzelne, neueroberte mit den früheren, zu einer Himmel und Erde umspannenden Kuppel zusammen, als ein nicht nur privates, sondern auch den anderen sich öffnendes Heiligtum. (LH, 15)
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7Medium des Rückweges ist der Prozeß der Erinnerung, für den der Text deutlich Etappen zu markieren scheint. Nachdem der Reisende eine entscheidende Wegstrecke zurückgelegt hat, bemerkt er :
Erst jetzt entdecke ich bei mir so etwas wie eine tätige Erinnerung […] während ich vorher nur eine leidende Erinnerung kannte. (KB 77)
8Diese leidende Erinnerung zeichnete sich dadurch aus, daß sie nur Angstzustände registrierte, mit tödlich lähmender Wirkung :
Ich hatte nie etwas, womit ich das, was ich täglich sah, vergleichen konnte. Alle Eindrücke waren wie Wiederholungen schon bekannter Eindrücke. (KB 75)
Die tätige Erinnerung ist an dieselben Angstzustände geknüpft, aber bewältigt sie anders :
Jetzt rede ich davon, vergleiche und fange zu lernen an. (KB 97)
9Um den Zirkel der zwanghaften Wiederholungen zu durchbrechen, bedurfte es der Entfernung, der Erfahrung (im konkreten Wortsinn) des Anderen : des anderen Landes mit seinem anderen Zeichensystem, des anderen Kindes und seiner anderen Erfahrungsform ; Einblicke in andere Kindergeschichten als Spiegel der eigenen, in dem Einblicke zu Einsichten werden, die hinführen sollen zu dem langen (aber sicher nie endgültigen) Abschied von dem Angst und gleichzeitig Wollust schaffenden Hang zur narzißtischen Selbstbespiegelung.
10Auf verschiedenen Ebenen des Textes überlagern und durchkreuzen sich diese Spiegelungen. Der Schauplatz zuallererst : Amerika, Phantasieprodukt eher als soziale Wirklichkeit, gespeist durch Literatur und Film, Mythos, “Traumwelt”8. Zwei ganz traditionelle Aspekte aus dem großen Vorstellungskomplex Amerika erweisen sich für unser Problem von besonderer Bedeutung : Amerika als “die Neue Welt”, das grundsätzlich Fremde9 einerseits, die Vorstellung Amerikas als Ursprungsland, Kindheitsland Europas, andererseits, womit sich diese Amerika-Phantasie, in der sich Ziel und Ursprung, Entfernung von und Annäherung an das Kindheitsland wechselseitig entsprechen, als geeignetes Medium der oben beschriebenen Gegenläufigkeit erweist. Auf dem Weg durch dieses Land, eine ganze Serie weiterer Spiegel : vor allem die Begegnung mit dem anderen, dem amerikanischen Kind, Benedictine, und die Anschauung der besonderen Wahrnehmungs- und Erfahrungsform dieses Kindes, hinter der er ein “geheimes Muster” (KB 88) entdeckt. Daneben Kindheitsgeschichten, vermittelt durch Literatur, Film, Musik, eingebettet in den Mythos Amerika : die Geschichte des Rocksängers (KB 63), John Ford (KB 187), Tarzan (KB 36/37), etc. Eine aus dem alten Kontinent und dem vorigen Jahrhundert stammende mitgebrachte Geschichte, Der Grüne Heinrich von G. Keller, vervollständigt den Spiegelkomplex, mit der Besonderheit, daß dieser Spiegel im Text explizit reflektiert wird.
11Für diejenigen, die kein Amerika haben, wo sie hinfahren können, wie Claire es formuliert (KB 80), für die Amerika nicht das Andere sein kann und die also nicht über den Spiegel der Amerika-Phantasie verfügen, wird die Rückkehr in die Kindheit zur einspurigen Regression ohne Zukunftsperspektive, die in bedrohliche Nachbarschaft des Pathologischen gerät :
Wir haben keinen Sinn mehr dafür, was mit uns werden soll. Wenn wir etwas vergleichen, vergleichen wir es mit der Vergangenheit. Wir wünschen uns auch nichts, höchstens wieder Kinder zu sein. Wir reden oft von den ersten Jahren, von unseren eigenen ersten Jahren wie auch von den ersten Jahren unserer Geschichte ; aber nicht um abzuschwören, sondern mit einer Art Schrumpfsehnsucht. Man kann sehen, daß die meisten Wahnsinnigen hier nicht tobsüchtig, sondern nur wieder kindisch werden. Immer mehr kriegen auf offener Straße plötzlich Kindergesichter. Dann singen sie entweder Wiegenlieder oder sagen bis zu ihrem Tod Geschichtsdaten auf. (KB 81)
12Bei Handke bedeutet diese Rückkehr weder Abrechnung noch nostalgischer Blick auf ein verlorenes Paradies : Erinnern ist Er-innerung im wörtlichen Sinn, immer auch ver-gegenwärtigen, “Arbeit” an der Gegenwart :
Ich sagte, daß mir in der Erinnerung das, was ich einmal erlebt hätte, nicht verklärt würde, sondern erst richtig zustieße. (KB 141)10
13Anders als bei dem Grünen Heinrich, jenem Reisebegleiter aus dem vergangenen Jahrhundert, der auf den “alten grünen Pfaden der Erinnerung” – wie sie noch der letzte Satz des Romans evoziert – (lust)wandelnd sich in der erinnerten Vergangenheit ein Refugium vor den Sorgen der Gegenwart schafft.
14In diesem Sinn einer in Gegenwart und Zukunft eingreifenden Rückerinnerung betont unser Titel das Vorwärts im Rückwärts. Dieses Vorwärts ist nicht gerichtet auf ein hochgestecktes Bildungsziel ; als angestrebtes und zum Teil erreichtes Ziel erscheint so etwas wie ein zweiter Sozialisationsprozeß, der in dem Wunsch, ein anderer zu werden, verbunden mit der Aufmerksamkeit für den Anderen, die Möglichkeit von Zukunft eröffnen würde, die ganz einfache, aber lebensnotwendige “Freude auf eine Zukunft, in der ich nicht mehr der sein würde, der ich im Augenblick war.” (KB 78)
15Auf die Problematik von Kindheitserinnerung im Zusammenhang von Identitätssuche und Selbstfindung hat die Kritik natürlich allenthalben verwiesen ; was uns im folgenden interessiert, ist, mit dem Thema “Unterwegs in die Kindheit” vor allem eine bestimmte Strategie und Methode des Textes, der Textur, eine Bildkonfigurationen schaffende Dynamik freizulegen.
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16Der Text der ersten im Roman berichteten Rückerinnerung bietet beispielhaft Grundlegendes für Handkes poetisches Verfahren. Die Erinnerung setzt unvermittelt ein – ist Ein-fall, im wörtlichen Sinn – als Folge eines Schocks verursacht durch den Brief der Frau. Ungedeutet bleibt das Verhältnis zwischen Anlaß und Ein-fall ; ungedeutet ebenfalls die Beziehung zwischen den Bruchstücken, die den Erinnerungstext bilden. Die Erinnerung manifestiert sich vor allem als Momentvisionen von Orten und Räumen : der Hof und der Wald. Zwar bilden Entsetzen und Schrecken den gemeinsamen Nenner dieser Bilder der “leidenden Erinnerung”, unser Text aber enthüllt interessante Nuancierungen : Unter dem Zeichen der Unheimlichkeit, hervorgerufen durch den plötzlichen Einbruch des Befremdenden in das Vertraute11 erscheint die Vision des Hofes, begrenzter, vertrauter, stets sonnenbeschienener Raum der Heimlichkeit, der durch Details – die Blutstropfen der geschlachteten Hasen, die Federn der geflüchteten Hühner – un-heimlich wird ; seine Bilder umrahmen die zu einer kleinen Szene ausgeweitete Schreckensvision des Naturschauplatzes, des Waldes : das schier Entsetzliche in seiner – durch die Dämmerung noch gesteigerten – Unbegrenztheit, Unbestimmtheit und Fremdheit. Die Position des Kindes am Rande des Waldes steht zeichenhaft für dessen Verhältnis zur Natur überhaupt, das beherrscht ist von dem Gefühl des Ausgeschlossenseins.12 Auf diesen Raum projiziert das Kind das, was wir als eine der Ur-Ängste des Protagonisten erkennen werden : die Angst vor dem Verlust einer geliebten Person, die hier ungenannt bleibt. Mit diesem ersten Erinnerungstext eröffnet sich ein Komplex von Motiven und Bildern, die in Wiederholungen, Variationen und Spiegelungen den Roman durchziehen.
17Das Motiv der Angst vor dem Verlust einer geliebten Person führt zur zweiten Kindheitsvision, die Wiederaufnahme des Motivs vollzieht sich unter dem Zeichen entscheidender Variationen :
“Der Brief war sehr lange unterwegs”, sagte ich. “Ob sie inzwischen tot ist ?” Auf einem hohen Felskegel hatte ich einmal gegen Abend nach meiner Mutter gesucht. Sie wurde ab und zu schwermütig, und ich glaubte, sie hätte sich, wenn nicht hinuntergestürzt, so doch einfach hinabfallen lassen. (KB 13)
18Wiederum ein Naturschauplatz in der Dämmerung. Jedes banale Detail der Wirklichkeit ist für das Kind, das nach der Mutter Ausschau hält, mit Schrecken besetzt : die Frauen, die ihre Einkaufstasche absetzen und das Kind dazu bringen, an den Felsvorsprüngen nach Kleiderfetzen zu suchen, Reminiszenz der Hühnerfedern an den Hausmauern des Hofes ; selbst das Einschalten der Lichter an der Tankstelle : “es war doch noch hell!” (KB 14)
19Rückblickend erhält nun auch die im ersten Beispiel noch ungenannte geliebte Person einen Namen : die Mutter. Aber mehr noch : Wiederum koinzidieren Evokation des Briefes und Einfall der Kindheitserinnerung, wiederum wird der Zusammenhang keineswegs explizit gemacht, aber dennoch suggeriert. “Ob sie inzwischen tot ist ?” Die Frage fungiert als regelrechtes Gelenk, sie meint natürlich Judith, aber ist genauso sinnvoll bezogen auf die Angst des Kindes, das auf dem Felskegel nach der Mutter Aussschau hält. Mutter und Frau als Substitutionen der geliebten Person.
20Hier sei eine kurze Parenthese eingeschaltet : Kurz nach Abfassung dieses Textes wird der Verlust der Mutter zu einer jener “Tatsachen, die so übermächtig sind, daß es kaum etwas zum Ausdenken gibt”13, genauso übermächtig aber, das Bedürfnis darüber zu schreiben : Wunschloses Unglück als Versuch, den “horror vacui”14 durch Erinnerungsarbeit zu bewältigen. Wir sehen auch hier, daß Erinnern keineswegs Mittel sein kann, um die Vergangenheit (im doppelten Wortsinn) “abzuschreiben”, auch wenn dies am Anfang als verlockende Lösung erschien :
Das Schreiben war nicht, wie ich am Anfang noch glaubte, eine Erinnerung an eine abgeschlossene Periode meines Lebens, sondern nur ein ständiges Gehabe von Erinnerung in der Form von Sätzen, die ein Abstandnehmen bloß behaupteten.15
21Die Strategie des Rückzugs, die für den Protagonisten des vergangenen Jahrhunderts noch anwendbar erschien, wird hier, wie auch in unserem Roman, als Illusion entlarvt. Erinnerungsarbeit als Arbeit an der Gegenwart, verlangt eine andere Methode und Strategie, die es nun weiter zu verfolgen gilt.
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22Die oben betrachteten “Einfälle” traumatischer Kindheitserfahrung sind Zeugnisse der “leidenden Erinnerung”, enthalten aber gleichzeitig schon einen ersten Schritt der Bewältigung des Traumas : gegenwärtiger Schrecken wird ausgesprochen und auf vergangenen bezogen, womit sich ein Zusammenhang, und für das Individuum die Idee von Geschichte abzeichnet. Hatte doch der Protagonist als Quelle der Angst vor allem das Fehlen eines solchen Zusammenhangs erkannt (KB 75).
23Einen entscheidenden Schritt weiter vorwärts macht der Erwachsene durch die Erfahrung und Anschauung des anderen Kindes :
Sie [die Kinder] bekommen einen tierischen Schrecken, wenn etwas, das gerade noch zu ihnen gehörte, plötzlich woanders ist, wenn die Stelle, wo es war, leer ist, und wissen dann nicht mehr, wohin sie selber gehören […]. (KB 86f.)
24Was Claire, die Mutter des Kindes, ihm hier erklärt, wird dann anschauliche Erfahrung in der Szene, wo ihn das Kind bittet, die Photos auf der Windschutzscheibe umzugruppieren und wo das Kind, im Moment, wo er eines der Photos verrückt, einen panischen Angstschrei ausstößt (KB 88).
25Die Szene mit den Photos bietet nicht nur “etwas Vergleichbares” – die Angst vor der Leerstelle – bei einem anderen 16, sie bringt eine wichtige Einsicht : “Es mußte ein geheimes Muster geben” (KB 88), dessen Verletzung zwar jenen panischen Schrecken hervorruft, dessen Einhaltung oder Wiederherstellung aber Ruhe und Frieden erzeugt. Eine Einsicht, die dazu angetan ist, jene fatalistische Unveränderlichkeit zu revidieren, mit der auf der ersten Seite des Romans die erste Kindheitserinnerung eingeführt wird :
So weit ich mich zurückerinnern kann, bin ich wie geboren für Entsetzen und Schrecken gewesen. (KB 9)
26Dieser gesamte Spiegelungs-Prozeß blitzt in einer einzigen Bildreminiszenz auf : Während der Reise, als sie gerade von einer Tankstelle abfuhren, lesen wir :
[…] das Kind rief plötzlich, wir schauten uns um und sahen, daß die Tankstelle jetzt beleuchtet war. “Es war doch noch hell ! (KB 77)
27Was in der eigenen Kindheitserinnerung Signal der Angst war, des Unheimlichen, öffnet hier eine Perspektive des Heimlichen :
Auf einmal kam mir die Landschaft, durch die wir bis jetzt nur durchgefahren waren, wie ein Ort vor, an dem man auch ankommen könnte. (Ibid.)
28Indem das fremde Land als Land einer möglichen Heimat erscheint, bahnt sich die Heimkehr in das eigene Kindheitsland an. Auf der Ebene des Textes enthüllt sich die Bedeutung dieses Bildes der beleuchteten Tankstelle dank der Rückbeziehung auf die am Beginn des Romans berichtete Kindheitsvision ; auf der Ebene der Figur und ihrer Identitätssuche wird uns bedeutet, daß dieser Schritt vorwärts aus dem Zirkel von Schrecken und Angst sich gründet auf einem Schritt rückwärts in die Kindheit.
29Der Kontakt mit dem anderen Kind führt über das Verfahren des Vergleichens hinaus ; die Rückerinnerung steigert sich zum Mit- oder genauer Nacherleben des Anderen. Der panische Schrei des Kindes, im Moment als das Photo verrückt wurde, provoziert einen Substitutionsprozeß :
Auf einmal war ich an der Stelle des Kindes […]. Das erste, an was ich mich in meinem Leben erinnerte, ist der Schrei, den ich ausstieß, als man mich in einem Waschbecken badete und als plötzlich der Stöpsel herausgezogen wurde und das Wasser unter mir weggurgelte. (KB 88)
30Als früheste Kindheitserinnerung und erstes Trauma fungiert also jene Ur-Angst der Leere, der Zerstückelung und Selbstauflösung des Subjekts. Die Nennung dieses ersten Schreckens des Ich-Erzählers aber fällt zusammen mit den ersten Anzeichen seiner Bewältigung ; wie wir gesehen haben, gelangt das Kindheitstrauma zu seiner ersten Formulierung in dem Moment, wo es sich im Schreckensschrei des anderen Kindes spiegelt und also integriert werden kann in einen Zusammenhang, ein “geheimes Muster”.
31Ungenannt durchzieht diese Ur-Angst in den verschiedensten Varianten unseren Text, Bildreminiszenzen bringen uns auf die Spur.
32So sind wir zum Beispiel zurückverwiesen auf die Beschreibung jener ersten Hotelnacht in Amerika, genauer die Szene im Badezimmer, in unmittelbarer Nachbarschaft der beiden oben analysierten Kindheitsvisionen :
Ich ließ das Wasser herausrinnen, während ich noch sitzenblieb. Das Wasser floß sehr langsam ab, und als ich zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen dasaß, kam es mir vor, wie wenn auch ich selber, mit dem gemächlichen Rucken des Wassers, nach und nach kleiner wurde und mich schließlich auflöste. (KB 16)
33Wir sehen, wie sich diese beiden Textsequenzen gegenseitig beleuchten : während in der zuletzt zitierten Sequenz, am Anfang des Romans, das eigentliche Schreckens-motiv, das der Auflösung, explizit wird, enthüllt uns erst die spätere Textstelle dessen Einreihung in den Komplex der Kindheitserinnerungen. Es hat sich aber eine bedeutungsvolle Verschiebung ereignet. Das Erlebnis der Auflösung, der Leere – für das Kind absoluter Schrecken – beschreibt uns der Erwachsene als eine eher angenehme Empfindung, der er sich fast wollüstig hingibt (KB 17). Der Text allerdings überführt dieses momentane Glücksgefühl der Illusion, er vermittelt, wenn nicht das Erschreckende, so doch das Schreckliche und Trostlose dieser absoluten Einsamkeit und narzißtischen Abkapselung, sinnfällig gemacht in der Szene des Onanierens.
34Die Spiegelung – genauer das Nachleben – des eigenen ersten Schreckensschreis in dem des anderen Kindes leistet Bewältigung in zweierlei Hinsicht. Sie bietet die Möglichkeit der Integrierung jener Ur-Angst des Kindes vor der Leerstelle, wie sie sich in der Angst vor dem Verlust einer geliebten Person manifestierte. Gleichzeitig führt sie zu der Einsicht in die Gefährlichkeit jener wollüstigen Versuchung der Leere, der Selbstaufgabe, die in verschiedenen Varianten eine Glücksmöglichkeit vorgaukelt : als jene “Sehnsucht vom Erdboden zu verschwinden” (KB 78), die schon das Kind in seinen magischen Spielen zu befriedigen trachtete ; in jener “Epiphanie” einer “anderen Zeit” anläßlich des Würfelerlebnisses (KB 24) und am intensivsten in dem Erlebnis mystischer Verschmelzung mit der Zypresse (KB 95) : ekstatische Augenblicke von radikal a-sozialem Glücksempfinden durch Auflösung des Subjekts. In diesem Sinn gelingt es dem Protagonisten, kurz nach dieser Rückkehr in die früheste Kindheitserinnerung – etwa auf der Mittelachse des Romans – und dank der “Anschauung” des anderen Kindes eine entscheidende Einsicht zu formulieren :
[…] es grauste mir so sehr vor dieser leeren Welt, daß ich in einer Schreckenssekunde das ungeheure Entsetzen des Kindes nacherlebte, das an einer Stelle, wo es gerade noch etwas gesehen hatte, mit einem Mal nichts mehr sah. In diesem Augenblick verlor ich für immer die Sehnsucht, mich loszusein […]. (KB 101)
35Das literarische Verfahren der Spiegelung im Umkreis der zitierten Textsequenzen ist aber noch unzureichend beschrieben. Auch wenn sich die Bedeutung der Badezimmer-Szene erst vor der später berichteten Kindheitserinnerung enthüllt, so entdecken wir – après coup allerdings – doch auch schon dort bestimmte Signale in diese Richtung. Auf dem Rand der Badewanne sitzend überrascht sich der Protagonist dabei, zum ersten Mal seit seiner Kindheit wieder Selbstgespräche zu führen (KB 12). Und dann vor allem wieder ein Bild, genauer eine Anschauung, ein “Anblick” :
Der Boden der Badewanne war kreuz und quer mit breiten hellen Streifen ausgelegt, die Heftpflastern ähnlich sahen und das Ausgleiten verhindern sollten. Zwischen dem Anblick dieser Heftpflaster und dem Gedanken an die Selbstgespräche ergab sich sofort eine Übereinstimmung, die so unverständlich war, daß ich zu kichern aufhörte und ins Zimmer zurückging. (Ibid.)
36Das Bild der Heftpflaster evoziert Verletzung, im Zusammenhang mit dem Motiv der Selbstgespräche auf dem Rand der Badewanne und vor dem Hintergrund der später berichteten frühesten Kindheitserinnerung “entdeckt” sich seine Bedeutung als Kindheitsverletzung.
37Auf der Ebene des Textes manifestiert sich diese nicht rational zu fassende “unverständliche Übereinstimmung” als Dynamik eines vorwärts und rückwärts verweisenden Bildkomplexes ; auf der Ebene der Romanfigur als die Dynamik des Unbewußten : Die Bilder enthüllen sich als Chiffren – Verschlüsselungen – der noch in der Verdrängung verharrenden ersten Kindheitserinnerung, als deren (natürlich nie endende) Entzifferung der Roman gelesen werden kann, was wir im folgenden weiter demonstrieren möchten.
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38Wasser und Sumpf erweisen sich als obsessionelle Bilder angstbesetzter Orte, auf dem Weg in die Kindheit durchziehen sie den Text in Form eines dichten Spiegelungskomplexes. Die erste Evozierung des Sumpf-Bildes geschieht fast unmerklich, auch hier wieder spielt die Bedeutungsaufladung après coup : Nach einem mißglückten Telephonanruf, der der Mutter galt, als Reaktion sozusagen auf die Abwesenheit der geliebten Person, im Moment, wo er den Hörer auflegt, unvermittelt und ungedeutet eine Vision aus dem Kindheitsland :
[…] an einem Wegrand stand ein Hochsitz, neben dem Hochsitz ein Wegkreuz, und vor dem Wegkreuz richtete sich gerade langsam ein Sumpfgras auf. (KB 32)
39Das Bild taucht wieder auf – diesmal deutlich als Schreckbild – nach einem ganz signifikativen Erlebnis vor dem Hotel, wo er nämlich Zeuge wird, wie ein Mann stirbt, und zwar den Erstickungstod. Das wirkliche Erlebnis geht derart in die Vision über, daß die Grenzen kaum auszumachen sind :
Dann flüsterten Frauen hinter mir eine Todesnachricht, sie flüsterten nicht einmal, nur ihre Kleider raschelten, aus einem Sumpf schauten zwei Krötenaugen heraus. Eine Türklinke bewegte sich langsam auf und nieder, schonend ?, ich streckte die nackten Beine aus und stieß in Brennesseln. Eine Eidechse huschte jetzt am Rande meines Blickfeldes. (KB 58)
40Ein Schockerlebnis, ähnlich dem des Briefes auf der ersten Seite des Romans – es handelt sich um den Anblick von Judiths Tasche auf dem Förderband des Flughafens in Denver – provoziert erneut das Bild, mit denselben Elementen und derselben Verwischung zwischen Wirklichkeit und Vision, diesmal aber explizit verbunden mit einer Rückerinnerung an die Kindheit :
In einer Tür hinter mir wurde getuschelt, und eine Frau zog erschreckt die Luft ein. Aus einer Kehle kam ein kurzer unheimlicher Laut, dann erstickte jemand. Im Sumpfgras taumelten weiße Motten herum. Ich hörte nichts, die Ohren hingen plötzlich schwer am Kopf, wie einmal, als ich im Morgengrauen neben der Großmutter aufwachte, die gerade gestorben war. (KB 157)
41Die Vision reiht sich ein in den Angstkomplex um den Verlust einer geliebten Person, als deren Substitutionen nun Großmutter, Mutter, Frau erscheinen.
42Auch dieser Bildkomplex erfährt eine Spiegelung, nicht so sehr im Nacherleben des anderen Kindes, sondern dank eines Erlebnisses mit dem anderen Kind. Anläßlich einer Rast an einer Wasserstelle am Rande der Autobahn wird der Sumpf zur erlebten Wirklichkeit – erlebt mit dem Kind – und erscheint von Angst befreit. Der Schauplatz ist durch deutliche Bildsignale gekennzeichnet : “das Gras war hart wie Sumpfgras”, ein Bach der “fast unsichtbar unter breiten Sumpfblättern floß” (KB 90). Es scheint als wolle sich die alte Schreckvision einstellen. In deutlicher Reminiszenz an die Vision im Hotelzimmer heißt es :
In meinen Augenwinkeln sah ich ein großes Tier, ich fuhr herum, aber nur eine Ratte kroch gerade unter die Blätter hinein. (Ibid.)
43Wir sehen, wie die Vision sogleich durch Wirklichkeitswahrnehmung korrigiert wird, aber mehr noch : die Angstphantasie vom Ersticken, Verschlungenwerden im Sumpf, wird erlebt als konkrete Gefahr : plötzlich beginnt der Mann, das Kind auf dem Arm, einzusinken. Es ist als wolle der Text die Grenze zwischen Vision und Erlebnis markieren :
“[…] der Schwanz der Bisamratte war bei meinem Einsinken verschwunden.” (KB 91)
44Es gelingt ihm – ohne Hilfe, so wollte es das Kind – sich mit einem Sprung zu befreien. Das Kind stößt einen Schrei aus, aber es ist kein Angstschrei :
Ich glaubte, das Kind schrie vor Angst, dabei lachte es, weil ich so hüpfte. (KB 91)
45Die Reaktion des Kindes fungiert als Gegenspiegel zu den eigenen Kindheitsängsten. Das Verfahren des “Vergleichens” wird ergänzt durch das des Formulierens : Das Erlebnis wird noch einmal erzählt :
Als ob sie [Claire] einen Traum erzählte, sagte sie, was mir zugestoßen war, und ich bestätigte es. “Hast du Angst gehabt ?” – “Es war eher eine Wut”, antwortete ich. (KB 91)
46Das “Ende” dieses Abenteuers erscheint wie eine strukturelle Vorwegnahme des Romanendes, wo im Garten John Fords das gesamte “Erlebnis” der Amerikareise – noch einmal durch eine Frau – zur Erzählung wird. Daß diese Erzählungen dem Leser systematisch vorbehalten werden, ist eine andere (bedeutsame) Sache, der hier nicht weiter nachgegangen werden kann.
47Als vorbereitende Stufe zu diesem Abenteuer läßt sich vielleicht das “schreckliche” Sumpferlebnis eines anderen deuten, das des amerikanischen Soldaten in Vietnam :
Einmal habe ich im seichten Wasser einen Schilfhalm herausragen sehen. Es waren noch ein paar Schilfhalme in der Nähe, die haben sich aber alle bewegt. Ab und zu hat man eben jemanden umbringen müssen, sonst wäre man selber umgebracht worden. (KB 55)
48In der Begegnung mit diesem Soldaten manifestiert sich zum erstenmal so etwas wie ein soziales Gefühl, Aufmerksamkeit und Interesse gegenüber dem anderen und seiner Geschichte, wie der Protagonist selbst bemerkt (KB 55) : Historisch lokalisierter Schrecken des anderen wird den eigenen Angstphantasien gegenübergestellt.
49Diese Erlebnisse und deren “Resultate” führen zu einer wichtigen Feststellung : Der Bericht des Soldaten vermag nicht das Ausbrechen der Angstvision kurz darauf im Hotelzimmer (KB 58) zu verhindern ; das eigene Sumpferlebnis mit dem Kind nicht die Angstvision im Flughafen von Denver. Dies gibt uns einen wichtigen Hinweis auf das Verfahren der Spiegelung : Wir haben es keineswegs mit einer kontinuierlichen Entwicklung zu tun : auch auf dieser Ebene gibt es kein Vorwärts ohne Rückwärts, keine Progression ohne Rückfälle.
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50Das Sumpferlebnis zeigt, wie die passive, lähmende Empfindung der Angst zur aktiven Reaktion der Wut wird. In diesem Prozeß spiegelt sich das allgemeinere Problem der Beziehung zur Natur, auf das wir schon angespielt haben, der Versuch aus einem “leidenden” Verhältnis zu einem “tätigen” zu gelangen.
51Hier bietet sich ein Spiegel besonderer Art : die mythische Kindheitsgeschichte Amerikas. Bilder aus der Pionierszeit durchziehen in den verschiedensten Varianten den Text. Ist doch der Pionier derjenige, der aufgebrochen ist, um sich die Natur dienstbar zu machen, um sie sich anzueignen, während das Kind “in die Natur gezwungen wurde, um darin zu arbeiten” (KB 51), ihm darin aber nie etwas gehörte, ihm darin “nichts zur Verfügung stand” (KB 70). Was den Amerikareisenden außerdem fasziniert : der “Platz” des Pioniers, seine Zugehörigkeit zu einem mythischen Zusammenhang, als Protagonist einer Ursprungsgeschichte, die – sei es auf dem Vorhang des Hotelzimmers (KB 26), als Theaterdekor oder Schauspiel auf der Bühne (KB 144f), als Filmsujets oder Lebensgeschichten, als Denkmal in einer Holzfällersiedlung (KB 174) – in Form von Bilderfolgen unablässig zur Darstellung gelangt.
52So mündet der Weg zurück in die Kindheit für unseren Protagonisten notwendig in eine “eigene” Ursprungsphantasie, die er bereits als Kind geträumt, die ihm aber erst auf der Reise durch Amerika in Form einer Erinnerung, wie er es selbst formuliert hat (KB 141), “zustößt”.
Im Elgin Kino schaute ich dann einen Tarzanfilm mit Johnny Weismüller an. Gleich am Anfang des Films hatte ich ein Gefühl, wie wenn man etwas Verbotenes anschaut, das man sich aber schon im voraus vorgestellt hat ; die Bilder riefen einen vergessenen Traum zurück. Ein kleines Passagierflugzeug flog niedrig über dem Dschungel. Dann sah man das Flugzeug von innen ; ein Mann und eine Frau mit einem Säugling saßen darin. Das Flugzeug dröhnte und ruckte eigenartig hin und her, wie ein wirkliches Flugzeug nie rucken würde, und bei diesem Rucken fiel mir die Bank ein, auf der ich als Kind den Film schon gesehen hatte. “Sie sind unterwegs nach Nairobi”, sagte ich laut. Aber die Stadt wurde nicht erwähnt. “Und jetzt werden sie abstürzen !”. Die Eltern hielten einander umschlungen ; dann sah man das Flugzeug von außen, wie es heruntertrudelte und in den Urwaldbäumen unterging. Mit einem Krach schlug es auf, und, nein, kein Rauch, sondern Luftblasen sprudelten dann aus einer dämmrigen Landschaft, die ich erst später, als die Stelle im Film kam, als den Teich wiedererkannte, unter dessen Oberfläche Tarzan, ein Messer zwischen den Zähnen, und das inzwischen zu einem Knaben herangezogene Findelkind, die beide in langen Abständen Atemblasen ausstießen, mit langsamen Schwimmstößen wie traumverloren umherschwammen, während der sich beim Zuschauen festigende Erinnerungsvorgang auf seinem Weg zum festen Erinnerungsbild schon gleich nach dem Aufschlag des Flugzeugs in einer geheimnisvollen Vorwegnahme sich mit dem gleichen Rhythmus bewegt hatte, mit dem später aus der Tiefe des Wassers die Atemluftblasen der beiden Schwimmer aufstiegen. (KB 37)
53Hinter einem scheinbar banalen Kino-Erlebnis versteckt sich ein komplexer Erinnerungsvorgang, den der Erzähler mit bemerkenswerter Genauigkeit rekonstruiert. Der Film läuft normal an (Absturz eines Passagierflugzeugs mit einem Mann, einer Frau, einem Säugling) ; durch eine plötzliche Assoziation (Rucken des Flugzeugs/ Rucken der Bank) der Ein-fall (im doppelten Wortsinn) der Kindheitserinnerung, unter dessen Wirkung der Zuschauer nicht mehr den vor ihm ablaufenden Tarzanfilm sieht ; an dessen Stelle setzt sich so etwas wie ein innerer Film, ein imaginäres Szenarium, dessen Bilder sich – wie in einem Fokus – in einer Vision, einem “festen Erinnerungsbild”, zusammenziehen, das sich als Kindheitsphantasie enthüllt, als “vergessener Traum”. Was für ein Traum aber ?
54Der Absturz des Flugzeugs wird “gesehen” als Untergehen in den Urwaldbäumen ; die Metapher des Untergehens leitet direkt über zum eigentlichen Schauplatz des Erinnerungsbildes : der Wassertiefe. Die Bilder des tiefen Unterholzes und der Wassertiefe, die sich hier überlagern, gehören in den Komplex der angstbesetzten Kindheitsräume, beide eng verbunden mit der Ur-Angst vor dem Verlust einer geliebten Person. So jene Vision in einer Snackbar zu Beginn der Amerikareise :
Dann, mitten im Gähnen, entstand eine hohle Stelle in mir, die ich sofort mit dem Bild von einem tiefschwarzen Unterholz füllte, und wie in einem Rückfall holte mich der Gedanke wieder ein, daß Judith tot sei. Das Bild von dem Unterholz verdüsterte sich noch, als ich in die zunehmende Dunkelheit vor der Snackbartür schaute, und mein Entsetzen wurde so stark, daß ich mich plötzlich in ein Ding zurückverwandelte. Ich konnte nicht mehr essen…. (KB 20)
55Und kurz vor unserer Stelle, im Zusammenhang einer der schrecklichsten Angstanfälle, wiederum ausgelöst durch die “fast wahnsinnige Angst vor dem plötzlichen Tod andrer”, die auch hier, wie es heißt, “körperlich” wurde :
Die Nase kühlte plötzlich ab, die zuckende Ader an der Hand streckte sich plötzlich, und ich sah vor mir das Bild eines atemlos stillen, finsteren Tiefseetales ohne Lebewesen. (KB 30)
56In dem von dem Tarzanfilm angeregten Phantasiebild verwandelt sich der unheimliche, leere und tote Ort in einen heimlichen, bewohnten, den sich das Kind unter dem Schutz und der Führung des Vaters vertraut gemacht, angeeignet zu haben scheint. Das Insistieren des Textes auf den Atemblasen verweist auf einen Ort, “wo es sich atmen läßt” und damit zurück auf die Erstickungsphantasien, von denen die Sumpf- und Wasserbilder begleitet waren.
57Aber es geht bei diesem Filmerlebnis um mehr noch als das Exorzieren angstbesetzter Orte. Der “vergessene Traum” aus der Kindheit verrät sich als eine Ursprungsphantasie. Das Kind identifiziert sich mit dem in den Urwaldbäumen untergegangenen und dann geretteten Knaben : Was ihn fasziniert, ist die Phantasiefigur des Findelkindes, Brennpunkt der Ursprungsphantasie. Wie im Traum geht es um eine imaginäre Wunscherfüllung : Das Kind phantasiert sich einen anderen Vater, einen anderen Ursprung. Der Text registriert mit bemerkenswerter Konsequenz die Dynamik des Unbewußten. Um das unbewußte Begehren zu befriedigen, darf die Identifikationsfigur des Knaben nicht der “natürliche” Sohn sein, er muß das – sozusagen vom Himmel gefallene – Findelkind sein : Protagonist eines vom Kind erträumten “Familienromans”, wie es Freud nannte17, wie ihn nicht nur die psychoanalytische Praxis, sondern unzählige Darstellungen in Mythos und Literatur bezeugen. Der “wirkliche” Ursprung (der leibliche Vater) muß im “tiefschwarzen Unterholz” zerstäuben, um der Phantasie einer anderen, “besseren”, Herkunft den nötigen Freiraum zu schaffen. Dieser Zusammenhang blitzt wiederum in einer jener “unverständlichen Übereinstimmungen” (KB 12) auf, dank einer Bildsubstitution : An die Stelle des Rauches, der die tödliche Vernichtung (des natürlichen Vaters) signalisiert, treten die Atemluftblasen, Zeichen des Lebens (mit dem neuen).
58Die Erinnerung an den leiblichen Vater taucht beim Protagonisten unseres Textes relativ spät auf, in Saint-Louis, in dem Haus des “Liebespaares”. Der Grad ihrer Verdrängung kann als Indiz ihrer Schrecklichkeit gedeutet werden, eine Deutung, die noch dadurch bestärkt wird, daß, wie bei der allerersten Kindheitserinnerung ihre erste Formulierung gleichzeitig das erste Anzeichen ihrer Bewältigung enthält, indem sie nämlich in Beziehung gesetzt wird zu einem Anderen :
“Mein Vater war ein Trinker”, sagte ich, in einem Ton, als ob ich nur 'My father was a gambling man' in 'The House Of The Rising Sun' abwandeln wollte : “Und wenn ich im Bett lag, hörte ich es oft im Nebenzimmer gluckern, so oft er sich etwas ins Glas goß : bei der Erinnerung möchte ich ihm sofort mit einem Dreschflegel den Kopf abschlagen, damals wünschte ich nur schnell einzuschlafen.” (KB 141)
59Wie anläßlich des Sumpferlebnisses, wird uns bedeutet, wie sich die ohnmächtige lähmende Angst von damals, die sich nur in den Traum retten konnte, in aggressive Wut, genauer Mordlust, verwandelt hat.
60Wie in der Tarzan-Phantasie macht auch hier die Liquidierung des tatsächlichen Vaters den Weg frei für das imaginäre Vaterbild. Dieser Weg führt uns zur Schlußepisode des Romans in den Garten John Fords.
61In unmittelbarer Nachbarschaft dieser Mordlust stiftenden Erinnerung an den Vater, teilt nämlich der Erzähler seinen Wunsch mit, John Ford zu besuchen (KB 137). Der Roman endet mit dieser Begegnung, in der der amerikanische Filmregisseur als die große Vater- und Lehrmeisterfigur erscheint. Die oben vorgestellte Ursprungsphantasie könnte als eine Art Vorwegnahme dieser Schlußszene des Romans gedeutet werden. In dem stummen Bild in der Wassertiefe verbindet sich Archaisch-Mythisches (die “traumverlorene”, jenseits jeder Begrifflichkeit erscheinende Zusammengehörigkeit des Vater-Sohn-Paares18) mit Pragmatischem und dem Gestus des Sozialen (“Tarzan ein Messer zwischen den Zähnen”, der den Sohn ins Leben einführt) ; genau diese Synthese scheint im Mittelpunkt der “Lehre” zu stehen, die der amerikanische Patriarch, von mythisch-traumhafter Szenerie umgeben, dem Besucher vermittelt, und die das “versöhnliche” Ende begründet, jenes zu Beginn unserer Ausführungen zitierte Bild der “Himmel und Erde umspannenden Kuppel” evozierend, das als Wunschbild die nie endende “Arbeit am Glück” – und sei es auch nur augenblicklich19 – belebt.
62Daß diese “Arbeit am Glück” auf der (ebenfalls nie endenden) Suche nach dem Ursprung gründet, sollte unsere “Reise” durch die Bild-Konfigurationen dieses Textes aufzeigen. Deren Zusammenhang verdichtet sich noch, wenn man – was wahrscheinlich kaum ein Leser übersehen haben dürfte – die in der frühesten Erinnerung auftauchende Angstvision im Waschbecken, als Bild einer traumatischen Geburtsphantasie deutet, den ersten erinnerten Schreckensschrei, im Moment, wo das Wasser unter dem Körper weggurgelt, als Reminiszenz des Ur-Schreis, mit dem das Kind, aus der schützenden Höhle des Mutterleibes ausgestoßen, nackt, hilflos, zum ersten Mal sein Entsetzen vor der Leere kundgibt, das hier zusammenfällt mit dem Entsetzen über die Trennung von der geliebten Person ; vor diesem Hintergrund erkennen wir, wie sich die in einer Wassertiefe lokalisierte Ursprungsphantasie des Findlingskindes verbindet mit einer imaginären Rückkehr in den schützenden Mutterleib. Versuch einer Synthese von Mutter- und Vaterphantasie ? Ausdruck der ungeheuren Anstrengung, die darauf zielt, die Verbindung zwischen jedem einzelnen Augenblick des Lebens mit jedem anderen “freizuphantasieren”.
Notes de bas de page
1 Gespräch mit L’Autre Journal, n°8, avril 1986. Zit. in Oracl, n° 21/22, 1987, S.104.
2 Langsame Heimkehr, Frankf./M.1984, S.12.
3 Ebenda, S. 15.
4 Kurzer Brief zum langen Abschied, Frankf./M. 1974, S. 9. (Im folgenden zitiert als KB).
5 Cf. Handke im Gespräch mit Karasek, in M. SCHARANG (Hrg.), Über Peter Handke, Frankfurt /M. 1972, S. 85: “ […] Vielleicht sollte man statt “Reise” besser “Weg-Reise”, Fortbewegung von einem bestimmten alltäglichen Leben sagen.”
6 Cf. für dieses Thema die interessante Analyse von Christoph BARTMANN, “ ‘Der Zusammenhang ist möglich’. Der Kurze Brief zum langen Abschied im Kontext”, in Raimund FELLINGER (Hr.), Peter Handke, Frankfurt/M. 1985, S. 114-139.
7 Cf. Gerhard MELZER/Jale TÜKEL (Hrg.), Peter Handke. Die Arbeit am Glück, Königstein/T. 1985.
8 Cf. Handke im Gespräch mit Karasek, in M. SCHARANG (Hrsg.), a.a. O., S. 87.
9 Auf diesen Aspekt verweist Handke selbst in demselben Gespräch : “Amerika ist das einzige, von dem man heutzutage sagen kann, es sei das Fremde, es sei die andre Welt.” (Ebenda) Cf. zu diesem Problem die Arbeit von Manfred DURZAK, Das Amerika-Bild in der deutschen Gegenwartsliteratur. Historische Voraussetzungen und aktuelle Beispiele, Stuttgart u.a. 1979.
10 Immer wieder umkreist Handke den Begriff der Erinnerung als “tätige Erinnerung”, die in die Gegenwart eingreift und für die der Ausdruck “Werk der Erinnerung” besonders zutreffend zu sein scheint. In Die Wiederholung, S. 101 präzisiert er : “Erinnerung hieß nicht : Was gewesen war, kehrt wieder ; sondern : Was gewesen war, zeigte, indem es wiederkehrte, seinen Platz.” Im Gespräch mit H. Gamper erschienen, unter dem Titel Aber ich lebe nur in den Zwischenräumen, wird sie in einem bestimmten Sinn als “tätig” bezeichnet, tätig innerhalb des Prozesses der poetischen Erfindung : “Erfindung ist bei mir nie von vornherein der Fall, die kommt immer aus dem Erlebnis und aus der Erinnerung an das Erlebnis, wobei ich dann, im nachhinein mich erinnernd, mir sage, daß zur Erinnerung auch das schöne Wort ‘Werk’ gehört; daß man sagt, es ist das Werk der Erinnerung; also die Erinnerung wirkt, und so wie sie wirkt, wird sie zugleich erfinderisch.” (S. 233).
11 Freud beschreibt das Unheimliche als “jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.” Und weiter : “Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.” (Das Unheimliche, Studienausgabe Bd. IV, S. 244 und 249).
12 So vergleicht sich unser Protagonist mit Heinrich Lee, der bei seinem ersten Kontakt mit der Natur “sie mit einer neuartigen Lust gleich auch zeichnen wollte”, während er selbst keine positive Beziehung zu ihr entwickeln konnte : “Ich war auf dem Land aufgewachsen und konnte schwer verstehen, wie einen die Natur von etwas befreien sollte ; mich hat sie nur bedrückt, oder es war mir in ihr wenigstens unbehaglich gewesen.” (KB, 50)
13 Wunschloses Unglück, Frankfurt/M. 1974, S. 45.
14 “[...] das Bewußtsein schmerzte, so leer war es darin auf einmal geworden.” (Wunschloses Unglück, a.a.O. S. 10).
15 Ebenda, 99.
16 Gleich liefert der Ich-Erzähler sogar ein analoges Beispiel aus seiner eigenen Erinnerung : Eine Armbanduhr war ihm gestohlen worden, an der ihm eigentlich nichts lag, “trotzdem erschrak ich noch lange danach jedesmal, wenn ich die leere Stelle am Handgelenk sah” (KB, 87)
17 Cf. FREUD, Der Familienroman der Neurotiker, Studienausgabe, Bd. IV, S. 223-226.
Egalement: Marthe ROBERT, Roman des origines et origines du roman, Paris 1972.
18 Das Bild erinnert an das Vater-Sohn-Paar auf dem Schiff in der Kindergeschichte, enthüllt sich somit als eine der zahlreichen “Wiederholungsphantasien”: “Mann und Kind haben die Hände auf die Knie gelegt. Von Zeit zu Zeit fragt das Kind etwas : ohne Kinderstimme ; und der Mann gibt die Antwort, einsilbig und zugleich erschöpfend […]. Sie sitzen im immergleichen Abstand und bilden eine eigene, dunkle Gruppe auf dem Schiff ; die einzige dort.” (S. 78)
Dazu der Kommentar von Karl-Lorenz TIMPE, für den das Paar als der “Inbegriff zugleich ‘mythischen’ und ‘vernünftigen’ Zusammenhangs” erscheint. (“Launenfreier, lebendiger Ernst. Zur Kindergeschichte”. In R. FELLINGER Hrg., Peter Handke, op. cit., S. 337).
19 Mit “augenblicklich” wollen wir sagen : Obwohl obsessionelle Bilderketten das ganze Werk Handkes durchziehen, ist jeder Roman als ein Neuentwurf zu betrachten ; Die Stunde der wahren Empfindung könnte als radikaler Gegenentwurf zu dem hier analysierten “Experiment” betrachtet werden ; totale Regression in einen a-subjektiven, a-historischen, a-moralischen Zustand wird dort zur Vorbedingung für die Möglichkeit von Glück.
Auteur
Professeur au département d’Etudes germaniques de l’Université de Provence.
Domaines de recherche : Psychanalyse et littérature ; analyse du texte théâtral.
Publications : Thèse d’Etat : Ödön von Horváth. La dramaturgie de la façade. Description d’une forme théâtrale, Publications de l’Université de Provence, 1991. Articles : sur Horváth in Austriaca, Recherches Germaniques, Suhrkamp Materialien (st 2019, 1983 et st 2092, 1988) ; sur psychanalyse et littérature in : Cahiers d’Etudes Germaniques (Aix-en-Provence), n°10, 1986 ; Etudes Allemandes (Lyon II), n°3, 1989 ; dernière publication sur l’écriture théâtrale : Cahiers d’Etudes Germaniques, Aix-en-Provence, n°20, 1991.
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