6. Die Ära Bismarck
1870-1890
p. 138-162
Texte intégral
Einleitung
1Der Sieg der deutschen Truppen unter preußischer Führung über die französische Armee 1870-1871 bietet die Möglichkeit zur Gründung des von Bismarck von jeher angestrebten kleindeutschen Staates. Diese Gründung findet formell am 18. Januar 1871 mit der Proklamation Königs Wilhelm I. von Preußen zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal des Versailler Schlosses statt. Politisch gesehen weist diese Staatsgründung in der Form, in der sie erfolgt, einige markante Merkmale auf. Sie bedeutet die endgültige Aufgabe des ‘Trias’-Gedankens : nachdem Österreich aus Deutschland verdrängt worden ist, schließen sich die süddeutschen Staaten nolens volens dem neuen Reich an. Somit ist auch die Frage der territorialen Abgrenzung des neuen Staates geklärt. Zugleich bedeutet diese Staatsgründung die Festschreibung der Vormacht Preußens in Deutschland ; dies erklärt sich aus geographischen Begebenheiten (Preußen allein vereinigt rund drei Fünftel der Gesamtfläche und der Wohnbevölkerung des neuen Reiches) einerseits und aus institutionellen Faktoren, Besonderheiten der Frankfurter Verfassung andererseits : der Automatik zwischen Bevölkerungszahl und Vertretung der einzelnen Teilstaaten im Reichstag ; dem Übergewicht Preußens zusammen mit den ihm gegenüber weitgehend folgsamen norddeutschen Staaten im Bundesrat ; dem institutionalisierten Zusammenfall von preußischer und deutscher Regierungsspitze (der preußische König ist zugleich Deutscher Kaiser, der preußische Ministerpräsident zugleich Reichskanzler).
2Diese ‘Verpreußung’ Deutschlands bedarf allerdings einer Relativierung : die Vorherrschaft Preußens sollte nämlich nach und nach durch sein Aufgehen im Reich kompensiert werden – ein Umstand, der von manchen befürchtet, von anderen begrüßt wurde.
3Auch weist der neue Staat, bei aller Festigkeit nach außen, manche Schwach- und Bruchstellen auf, die seine innere Einheit, seinen Zusammenhalt bedrohen.
4Zum einen hält der Streit um die nationale Einheit an, weil auf dem Staatsgebiet des Reiches auch nicht-deutsche Minderheiten leben. Um sie entfacht sich eine heftige Debatte zwischen den Kreisen, die ihre Zwangsassimilation fordern, und denen, die für ihre gleichberechtigte Integration eintreten. Dieser erste Riß durch Deutschlands Einheit enthält im Keim eine doppelte Gefahr : die nach innen gerichtete der Zerstrittenheit in Deutschland selbst ; aber auch die nach außen gerichtete eines Konfliktes mit angrenzenden Staaten bezüglich der Rückgewinnung der entsprechenden Gebiete. Bismarck ist sich dieser Gefahr durchaus bewußt und ist bemüht, sie auf doppeltem Wege zu bannen : innenpolitisch durch eine Strategie der Strenge den Minderheiten, ganz besonders der polnischen Minderheit, gegenüber ; außenpolitisch durch eine kunstvolle Bündnisstrategie, die zwei Hauptziele im Auge hat : die Isolierung des auf Revanche bedachten Frankreich und die Verlagerung der Interessengegensätze zwischen den europäischen Großmächten außerhalb Europas, und zwar in die Überseegebiete, über die kolonialen Konflikte – was auch seine Zurückhaltung gegenüber einer eigenständigen deutschen Kolonialpolitik bei allem Druck der Öffentlichkeit erklärt.
5Zum anderen ist die gesellschaftliche Kohäsion des Reiches ebenfalls durch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung gefährdet : auch wenn die als ‘Revolution von oben’ erfolgte Einigung von der Mehrheit der Deutschen spontan begrüßt wurde, war sie eben doch weitgehend eine aufgezwungene, eine formal-institutionelle und entsprach nicht den Erwartungen aller Gesellschaftgruppen. Dies sollte an zwei innerpolitischen Konflikten deutlich werden, die sowohl die Unvollkommenheiten des Einigungsprozesses, als auch die autoritäre, die Grundsätze der modernen Demokratie ignorierende Art Bismarcks, diese zu überwinden, aufzeigen.
6Einerseits ging es um den Interessenkonflikt zwischen den in der Zentrumspartei organisierten katholischen Kreisen und der preußisch-protestantischen Mehrheit in Gesellschaft und Staatsapparat, dessen Lösung in der Unterwerfung ersterer im Rahmen des ‘Kulturkampfes’ gesucht wurde.
7Andererseits ging es um das Erstarken der Sozialdemokratie im Lande. Sie resultierte aus dem parallel zur wirtschaftlichen Mutation verlaufenden Wandel der deutschen Gesellschaft und fügte sich in eine internationale Gesamtentwicklung. Hier wieder reagierte Bismarck autoritär und wenig demokratisch mit dem ‘Sozialistengesetz’ von 1878 als Antwort auf eine Bewegung, die sowohl nach innen als auch nach außen hin als reichsfeindlich gedeutet und dargestellt wurde. Die gleichzeitig intendierte Entschärfung des Konfliktes durch die schrittweise Verabschiedung einer Sozialgesetzgebung ab 1883 verbesserte zwar die Lebensbedingungen der Arbeiter, brachte aber keine adäquate politische Lösung.
8Diese beiden Konflikte und ihre Handhabung durch den Reichskanzler machen deutlich, daß mit der Staatsgründung von 1871 nur eines der beiden seit Anfang des Jahrhunderts angestrebten Ziele erreicht worden war : die politische Einigung. Die zweite Haupterwartung, nämlich die der Freiheit im Sinne einer gesetzlichen Garantie und politischen Gewährung von Grundrechten für die Bürger, blieb jedoch noch unerfüllt.
Gilbert Krebs et Bernard Poloni
[6.1] Kaiserproklamation
9Diese Proklamation Wilhelms I. (1797-1888) anläßlich seiner Krönung zum Deutschen Kaiser wurde während der Feierlichkeiten am 18. Januar 1871 vom Reichskanzler Otto von Bismarck verlesen.
10Wir, Wilhelm von Gottes Gnaden, König von Preußen, nachdem die Deutschen Fürsten und Freien Städte den einmütigen Ruf an Uns gerichtet haben, mit der Herstellung des Deutschen Reiches die seit mehr als sechzig Jahren ruhende Deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen, und nachdem in der Verfassung des Deutschen Bundes die entsprechenden Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden hiermit, daß Wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben, diesem Ruf der verbündeten Deutschen Fürsten und Städte Folge zu leisten und die Deutsche Kaiserwürde anzunehmen. Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der Krone Preußens fortan den Kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen und hoffen zu Gott, daß es der Deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen.
11Wir übernehmen die Kaiserliche Würde im Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem Deutschen Volk vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermütigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterland die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.
12Zit. nach : Lesebuch zur deutschen Geschichte III, S. 14-15.
[6.2] Verfassung des deutschen Reiches
13Am 16. April 1871 wird die Verfassung des Deutschen Reiches vom Reichstag verabschiedet ; sie tritt am 4. Mai in Kraft.
14Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern, Seine Majestät der König von Württemberg, Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Baden und Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen und bei Rhein für die südlich vom Main belegenen Teile des Großherzogtums Hessen, schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes. Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen und wird nachstehende Verfassung haben.
15Art. 1) Das Bundesgebiet besteht aus den Staaten Preußen mit Lauenburg, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Anhalt, Waldeck, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg. [...]
16Art. 3) Für ganz Deutschland besteht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der Angehörige (Untertan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaat als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zuzulassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist. [...]
17Art. 5) Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrat und den Reichstag. Die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichsgesetz erforderlich und ausreichend. [...]
18Art. 6) Der Bundesrat besteht aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes, unter welchen die Stimmführung sich in der Weise verteilt, daß :
Preußen mit den ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt, 17 Stimmen führt | Sachsen-Koburg-Gotha : 1 Stimme |
Bayern : 6 Stimmen | Anhalt : 1 Stimme |
Sachsen : 4 Stimmen | Schwarzburg-Rudolstadt : 1 Stimme |
Württemberg : 4 Stimmen | Schwarzburg-Sondershausen : 1 Stimme |
Baden : 3 Stimmen | Waldeck : 1 Stimme |
Hessen : 3 Stimmen | Reuß älterer Linie : 1 Stimme |
Mecklenburg-Schwerin : 2 Stimmen | Reuß jüngerer Linie : 1 Stimme |
Braunschweig : 2 Stimmen | Schaumburg-Lippe : 1 Stimme |
Sachsen-Weimar : 1 Stimme | Lippe : 1 Stimme |
Mecklenburg-Strelitz : 1 Stimme | Lübeck : 1 Stimme |
Oldenburg : 1 Stimme | Bremen : 1 Stimme |
Sachsen-Meiningen : 1 Stimme | Hamburg : 1 Stimme |
Sachsen-Altenburg : 1 Stimme | zusammen : 58 Stimmen |
19Art. 11) Das Präsidium des Bundes steht dem König von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reiches Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen.
20Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich, es sei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. [...]
21Art. 12) Dem Kaiser steht es zu, den Bundesrat und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen.
22Art. 15) Der Vorsitz im Bundesrat und die Leitung der Geschäfte steht dem Reichskanzler zu, welcher vom Kaiser zu ernennen ist.
23Art. 17) Dem Kaiser steht die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze und die Überwachung der Ausführung derselben zu. Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers werden im Namen des Reiches erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, der dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.
24Art. 19) Wenn Bundesglieder ihre verfassungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllen, so können sie dazu im Wege der Exekution angehalten werden. Diese Exekution ist vom Bundesrate zu beschließen und vom Kaiser zu vollstrecken.
25Art. 20) Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor. [...]
26Art. 22) Die Verhandlungen des Reichstages sind öffentlich. Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei.
27Art. 23) Der Reichstag hat das Recht, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen dem Bundesrat resp. Reichskanzler zu überweisen.
28Art. 24) Die Legislaturperiode des Reichstages dauert drei Jahre1. Zur Auflösung des Reichstages während derselben ist ein Beschluß des Bundesrats unter Zustimmung des Kaisers erforderlich.
29Art. 25) Im Falle der Auflösung des Reichstages müssen innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen nach derselben die Wähler und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen nach der Auflösung der Reichstag versammelt werden. [...]
30Art. 28) Der Reichstag beschließt nach absoluter Stimmenmehrheit. Zur Gültigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich. [...]
31Art. 29) Die Mitglieder des Reichstages sind Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.
32Art. 30) Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgendeiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes getanen Äußerungen gerichtlich oder disziplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden. [...]
33Art. 32) Die Mitglieder des Reichstages dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen.
34Art. 57) Jeder Deutsche ist wehrpflichtig und kann sich in Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen. [...]
35Art. 59) Jeder wehrfähige Deutsche gehört sieben Jahre lang, in der Regel vom vollendeten 20. bis zum beginnenden 28. Lebensjahre, dem stehenden Heere – und zwar die ersten drei Jahre bei den Fahnen, die letzten vier Jahre bei der Reserve – und die folgenden fünf Lebensjahre der Landwehr an. [...]
36Art. 63) Die gesamte Landmacht des Reiches wird ein einheitliches Heer bilden, das in Krieg und Frieden unter dem Befehl des Kaisers steht. [...] Für die Bekleidung sind die Grundfarben und der Schnitt der Königlich Preußischen Armee maßgebend. Dem betreffenden Kontingentsherrn bleibt es überlassen, die äußeren Abzeichen, Kokarden usw. zu bestimmen. [...]
37Art. 64) Alle Deutschen Truppen sind verpflichtet, den Befehlen des Kaisers unbedingt Folge zu leisten. Diese Verpflichtung ist in den Fahneneid aufzunehmen. Der Höchstkommandierende eines Kontingents sowie alle Offiziere, die Truppen mehr als eines Kontingents befehligen, und alle Festungskommandanten werden vom Kaiser ernannt. Die von Demselben ernannten Offiziere leisten ihm den Fahneneid. Bei Generalen und den Generalstellungen versehenden Offizieren innerhalb des Kontingents ist die Ernennung von der jedesmaligen Zustimmung des Kaisers abhängig zu machen.
38Art. 78) Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrat 14 Stimmen gegen sich haben. [...]
39Reichsgesetzblatt 1871, S. 63 ff. Zit. nach : Reich und Länder, S. 457 ff.
[6.3] Die Lage in Elsaß-Lothringen
40Nachdem sich Ludwig Wiese (1806-1900) im Auftrag des preußischen Kultusministeriums im Juni-Juli 1871 in Elsaß-Lothringen aufgehalten hat, schildert er die Stimmung in den beiden annektierten Provinzen und ihre Ursachen.
41Die mir für meine Aufgabe im Reichslande verstattete Zeit war schnell vergangen ; ich mußte, obgleich ich einige auf meiner Liste stehende Schulorte nicht gesehen hatte, die Rückreise antreten. Fünf Wochen voll neuer Eindrücke und Erfahrungen lagen hinter mir. Daß ich bei einer folgenschweren Wendung der deutschen Geschichte, wenn auch vorübergehend, zur Teilnahme an einer der wichtigsten Aufgaben der Reichsregierung berufen war, erhob mich und hatte mich auch die ungewöhnlichen Anstrengungen der ganzen Reise glücklich überstehen lassen. Der Gesamteindruck zu dem sich unterwegs alles, was ich wahrgenommen hatte allmählich verdichtete, war aber mehr niederschlagend als hoffnungsreich. Die Entfremdung der Lothringer und ebenso der Elsässer von Deutschland ging viel tiefer und ihre Anhänglichkeit an Frankreich war inniger als ich erwartet hatte ; sie hatten keine nationale Fühlung mehr mit uns. Es machte den Elsässern nichts, daß sie in Frankreich doch eigentlich nur für eine niedere und unvollkommene Species von Franzosen galten, ja oft zu komischen Figuren gebraucht wurden : es war dennoch eine Ehre, zu ihnen, zur grande nation, zu gehören, auch wußte man wohl, was die Elsässer in der Armee und in der Verwaltung dem Lande wert waren, und zwar gerade durch ihre deutschen Eigenschaften. [...]
42Daß Handel und Industrie in Elsaß-Lothringen nur widerwillig die alten Verbindungen aufgab und über den im Osten dafür zu findenden und jedenfalls erst noch zu suchenden Ersatz zweifelhaft war, und daß dies viele Unzufriedene machte, konnte mich nicht wundern ; ebensowenig, daß die urteilslose Menge die Franzosen an der Spitze der Zivilisation marschieren sah ; aber rätselhaft und betrübend war mir, wie das Blendende des französischen Namens, das Bestechende der französischen Bildungsformen, und schließlich die große Macht der Gewohnheit auch edlere und gebildetere Geister gefangen genommen und uns abwendig gemacht hatte, unter ihnen mehrere mir werte Männer deutschen Namens, mit denen ich in früheren Jahren in Straßburg Umgang gehabt hatte. [...]
43Zu den Ursachen des fast allgemeinen Widerstrebens gehörte auch dies : die Elsässer und Lothringer hatten einer großen, festverbundenen Volkseinheit angehört und waren durch die Teilnahme an deren Schicksalen allmählich mit ihr verwachsen. Um ihnen die Trennung davon erträglicher zu machen, mußte ihnen mindestens entweder wieder der Zusammenhang mit einem großen Ganzen geboten werden, oder der engere Anschluß an eine bedeutendere Herrscherperson. Keines von beidem geschah. Das deutsche Reich in seinem gegenwärtigen Bestande eines Nebeneinander von Staaten stellt noch lange nicht eine solche Einheit dar, welche darin mit Frankreich oder England verglichen werden könnte ; und die engere Verbindung mit dem Haupt des Reichs, dem Kaiser, wäre nur durch Einverleibung in Preußen möglich gewesen, die in der entscheidenden Zeit leider durch die Rücksicht auf dynastische Interessen verhindert wurde. Es ist, so hoch mir auch die Reichsidee steht, meine Ansicht geblieben, daß diese Verbindung unter den gegebenen Umständen das ratsamste war und die Wiedererweckung deutscher Gesinnung im Volk und den Anschluß an das deutsche Reich beschleunigt haben würde. Die bald aufregenden, bald drückenden Folgen des jahrelangen Experimentierens würden durch baldige Übertragung der bewährten preußischen Ordnungen, wobei was man vorfand doch eine schonende Berücksichtigung finden konnte, vermieden sein. Rasche Entscheidung ist auf diesem Gebiet langwierigen Versuchen immer vorzuziehen. Die Fortdauer des jetzigen Provisoriums, eines Schwebezustandes, in welchem das neue Reichsland nicht die unmittelbare monarchische Regierung der anderen deutschen Länder, und auch nicht die Autonomie der freien Städte hat, erhält das Gefühl der Unsicherheit und Mißbehagen wie von Heimatlosigkeit, und nährt reichsfeindliche Hoffnungen.
44Ludwig Wiese, Erinnerungen und Amtserfahrungen, Berlin 1886. Zit. nach : Das Deutsche Kaiserreich, S. 181 ff.
[6.4] Die Arbeit im Bundesrat
45Graf Hugo von und zu Lerchenfeld-Koefering (1843-1925), bayerischer Gesandter in Berlin und Bundesbevollmächtigter, schildert in diesem Text unter besonderer Beachtung des bayerischen Standpunktes Arbeitsweise und Stimmung im Bundesrat.
46Bei der Verschiedenheit der regionalen Interessen im Reiche wäre es das Natürliche gewesen, wenn man bei dem Nachbarn feste Anlehnung gesucht und gefunden hätte. Das geschah auch häufig sowohl von den Regierungen als auch von deren Vertretern, die dazu manchmal durch Instruktion angewiesen wurden, die Wünsche dieses oder jenes Bundesstaates nach Möglichkeit zu unterstützen. So lautete lange Zeit meine Instruktion dahin, mit Württemberg Fühlung zu halten, in manchen Fällen auch mit Baden. Nur war das Zusammengehen jeweils nicht von langer Dauer ; denn sobald es sich darum handelte, etwas für Bayern zu erreichen, ließen uns die süddeutschen Bundesbrüder meist im Stich. Das war kurzsichtig ; denn vom föderalistischen Standpunkt aus betrachtet kam eine Stärkung der Stellung Bayerns im Reiche auch den anderen Partikularstaaten außer Preußen zugute. Doch das Gefühl des Neides pflegte solchen Erwägungen gegenüber vorzuwalten. Man war in Stuttgart und Karlsruhe wohl bereit, die Vorrechte des Präsidialstaates hinzunehmen, sich sogar mit einer Ausdehnung der Machtstellung Preußens abzufinden. Aber sobald es sich darum handelte, Bayern einen Vorzug einzuräumen, dann war meist mit dem Widerstand der süddeutschen Brüder zu rechnen. Dieser Gesinnung, die ich schon bei den Vertragsverhandlungen von Versailles 1870 beobachtet hatte, bin ich später im Bundesrat immer wieder begegnet und bin deshalb bei der Wahl, für einen gewissen Zweck Anlehnung bei Preußen oder bei anderen Bundesstaaten zu suchen, in der Regel für die Anlehnung an Preußen eingetreten. Bei Preußen spielte der Neid keine Rolle, ja man legte in Berlin in der Regel großes Gewicht darauf, Bayern auf seiner Seite zu haben. Andrerseits war man, wenn die preußischen und bayerischen Stimmen sich vereinigten, der Mehrheit auch in den Ausschüssen ungefähr sicher. Man mußte sich eben seine Bundesgenossen von Fall zu Fall suchen, vor allem in Etatsfragen gegenüber Übergriffen des Reichsschatzamtes. Hier bestand häufig die Möglichkeit, mit Sachsen zusammenzugehen. Daß die an sich für Bayern naheliegende Zusammenarbeit mit dem drittgrößten Bundesstaat nicht enger und allgemeiner war, lag in gewissen sächsischen, vielleicht auch bayerischen Eigentümlichkeiten der in München und Dresden maßgebenden Personen. [...] Das persönliche Moment spielt eben in allen Lebensverhältnissen seine Rolle.
47Hugo Graf Lerchenfeld-Koefering, Erinnerungen und Denkwürdigkeiten, Berlin 1935. Zit. nach : Das Deutsche Kaiserreich, S. 49 ff.
[6.5] Deutsches Reich und deutsche Nation
48Der Historiker Leopold von Ranke (1795-1886) würdigt in seiner Rede vor der Historischen Kommission 1871 die Bildung des Deutschen Reiches in der Form, in der sie erfolgt ist.
49Es ging [1870] ein Gefühl durch die Nation, daß das Deutsche Reich und Kaisertum wiederhergestellt werden müsse. Man könnte ein Buch darüber schreiben, welche Wandlungen die Idee des Kaisertums in den verschiedenen Jahrhunderten erfahren hat.
50Es gab eine Zeit, wo das Kaisertum den Mittelpunkt der abendländischen Nationen bildete : Der Rang und das Emporkommen der deutschen Fürsten beruht darauf, daß sie es waren, die der gesamten Christenheit ein weltliches Oberhaupt gaben.
51In diesem Sinn ist jedoch das Kaisertum niemals vollkommen realisiert worden. Das Römisch-deutsche Reich, wie es im 12. und 13. Jahrhundert erscheint, war viel zu großartig angelegt, um in dem ganzen Umfang seiner Grenzen als eine Einheit zur Geltung zu kommen ; aber allmählich erhielt die ursprüngliche universale Idee eine lediglich deutsche Bedeutung. Die Kaiser hörten auf, in Rom gekrönt zu werden, aber die in Deutschland erwählten Könige behielten die Würde auch ohne Krönung. Bei allem Gegensatz der auseinanderstrebenden Territorialmächte wurde die Autorität des Kaisertums nicht aufgegeben, solange bis das Reich unter Einwirkung eines fremden Eroberers in seinen Formen zertrümmert, bald darauf aber nach dessen Sturz in einen Bund unabhängiger Fürsten verwandelt wurde. Sollten nun diese, namentlich die gleichberechtigten Könige einen Kaiser über sich erkennen ? Darin lag jedoch die einzige Lösung der vorliegenden Frage. Der König von Bayern, der mächtigste unter ihnen, ergriff dabei die Initiative, denn wie die alten Traditionen es mit sich brachten, von den Fürsten selbst mußte die Wiederherstellung des Kaisertums ausgehen. Daß dies geschehen, ist von der größten historischen Wichtigkeit.
52Die Tatsache an und für sich verknüpft die Jahrhunderte unserer Geschichte : Sie ist der Ausdruck des Gemeingefühls der Nation, wie es von Urzeiten her gebildet, die Gegenwart erfüllt. Und dadurch, daß die neue Würde erblich übertragen worden ist, bietet sie eine Gewähr der Einheit für die Zukunft, wie sie noch niemals vorhanden war.
53Nur noch ein Moment war unerledigt. Einer der großen Stämme der Nation, durch den Lauf der Ereignisse auch von den letzten gemeinsamen Kämpfen und von der dadurch bedingten Gemeinschaft des neuen Reiches ausgeschlossen, schien sich sogar feindselig gegen dieselbe zu verhalten. Auch dieser Übelstand ist durch die jüngsten Ereignisse behoben worden. Das Kaisertum Österreich und das Deutsche Kaisertum sind in ein enges Verständnis miteinander getreten, das jede Feindseligkeit ausschließt.
54Am Tage liegt, daß Österreich und Preußen bei dem Gegensatz, der sie voneinander trennt, zusammen nicht wohl Mitglieder des Reiches sein konnten, wenn dies zu innerer Gleichförmigkeit und wirksamer äußerer Aktion gelangen sollte. Unter der ausschließenden Führung Preußens hat sich eine Macht gebildet, welche auch ohne Teilnahme Österreichs den Feind bestanden hat, dem wir in früheren Zeiten eben infolge jener inneren Spaltung, und mehr als einmal, unterlegen waren. Deutschland hat auch in dieser Beschränkung seine Stellung gewaltig eingenommen.
55Österreich hat nun seinen Anspruch, auf das Innere mitzuwirken, fallen lassen ; das neue Reich ist mit ihm in einen Bund getreten, wie es den Verhältnissen einzig angemessen, das gesammelte Nationalgefühl kann der Zukunft ruhig entgegensehen.
56Zit. nach : Lesebuch zur deutschen Geschichte III, S. 21-22.
[6.6] Deutschlands Doppelnatur
57Der politische Schriftsteller Constantin Frantz (1817-1891), Verfechter der Idee eines umfassenden mitteleuropäischen Staatenbundes unter deutscher Führung, nimmt hier zur Frage der Wechselbeziehungen zwischen Preußen und dem Deutschen Reich Stellung.
58Sollte das die wahre Lösung der deutschen Frage sein, daß Deutschland preussisch wird und folglich als Deutschland verschwindet. Oder wäre demgegenüber nicht vielmehr zu sagen : “Die deutsche Frage ist tot, es lebe die deutsche Frage.”
59Und muß nicht eben dieses zeitweilige Resultat, daß Deutschland preußisch geworden, zu der Untersuchung veranlassen, was doch einen solchen Ausgang überhaupt möglich gemacht habe. Möglich aber ist er allein geworden durch die vorgedachte Machtverschiebung, d. h. durch den Zerfall des alten westlichen Deutschland.
60Hat es nun mit der Doppelnatur Deutschlands seinen guten Grund, so kann auch die wahre Lösung der deutschen Frage nur darin bestehen, daß diese Doppelnatur Deutschlands, worüber man so lange bewußtlos gewesen, endlich erkannt und anerkannt ist und aufgrund dessen eine Organisation hergestellt werde, wodurch das alte westliche Deutschland neben dem neuen östlichen Deutschland wieder zu der ihm gebührenden Geltung gelangt. Denn das muß doch jedermann zugestehen, daß das ein unnatürliches Verhältnis ist, wenn das alte westliche Deutschland, welches schon jahrhundertelang, ehe nur von einem Preußen überhaupt die Rede gewesen, eine Geschichte gehabt, im Vergleich zu welcher die preußische Staatsgeschichte sich gar klein ausnimmt und als die Mark Brandenburg noch ein halbwüstes Wendenland war – daß dieses alte Deutschland mit seinen Kernstämmen der Bayern, Sachsen, Franken und Schwaben, der Thüringer und Hessen jetzt vielmehr von jener Macht aus beherrscht wird. Entweder müßten diese Volksstämme schon in sich selbst abgestorben sein, und dann wäre eine wahre Wiedergeburt Deutschlands überhaupt unmöglich, haben sie aber noch Lebenskraft, so muß die auch zur Geltung gelangen, oder die Wiedergeburt Deutschlands bleibt ein leerer Schall.
61Klar ist jedoch, daß dazu erst ein großer Umschwung gehört und nach allem menschlichen Ermessen bis dahin noch viel Wasser vom Berge fließen wird. Völker entwickeln sich langsam, und nachdem das alte westliche Deutschland seit Jahrhunderten sein politisches Selbstbewußtsein verloren, indem es eine Direktive lediglich von Wien oder Berlin erwartet, oder zeitweilig sich sogar an Frankreich anzulehnen suchte, wird es nicht urplötzlich zu neuem Selbstbewußtsein gelangen. Gleichviel, das Ziel muß ins Auge gefaßt werden, es handelt sich dabei um nichts Geringeres, als um den Kern der deutschen Frage.
62Aber nicht nur mit Trauer erfüllen sollten uns solche Zustände, sondern noch mehr sollten sie uns zum Nachdenken darüber veranlassen, wie es denn geschehen konnte, daß hinterher alles so ganz anders gekommen, als man von der Errichtung des neuen Reichs erwartet hatte. Das mag verschiedene Ursachen haben, eine Hauptursache liegt aber jedenfalls darin, daß der Kanzler und tatsächliche Begründer dieses neuen Reiches, vor welchem die Nation bewundernd auf den Knien lag, doch wirklich lange nicht das große Genie war, wofür man ihn bisher gehalten und was er ja notwendig auch sein müßte, wenn sich in seiner Person die ganze Reichsregierung konzentrieren soll. Es ist hohe Zeit, darüber zum Bewußtsein zu kommen. Gilt aber dieser Mann jedenfalls für den Heros des Preußentums, so liegt eben darin auch der tatsächliche Beweis, daß das Preußentum keineswegs den geistigen Fonds besitzt, der zur Begründung eines neuen Deutschland erforderlich wäre. Es werden vielmehr Ideen dazu gehören, die erst von einem Standpunkt aus zu gewinnen und zu erfassen sind, der hoch über dem Preußentum liegt.
63Berauscht von seinen militärischen Erfolgen, täuscht sich das Preußentum nicht nur über seine Befähigung zur Lösung der deutschen Frage, sondern es sieht nicht einmal, wie es durch die Stellung, die es seitdem in Deutschland eingenommen und die ihm zunächst als eine außerordentliche Machterhöhung erscheint, vielmehr seine eigene Existenz untergräbt. Gleichwohl ist das einleuchtend genug.
64Mag doch Preußen einstweilen in Deutschland allmächtig sein. Je mehr es sich infolge der neuen Reichsverfassung mit dem übrigen Deutschland verquickt, um so mehr dringen von da aus gar nicht abzuweisende Einflüsse in das Preußentum ein. Ganz ähnlich, wie wenn zwei Stoffe sich chemisch verbinden, nicht bloß der erste auf den zweiten wirkt, sondern ebenso der zweite auf den ersten. So vermischen sich denn heute im Reichstag die preußischen Abgeordneten mit den außerpreußischen, eine spezifisch preußische Parteibildung kann es da gar nicht mehr geben, und was immer vom Reichstag ausgehen mag, spezifisch preußisch kann es nicht mehr sein. Nun aber sind doch die wichtigsten Zweige der Gesetzgebung einschließlich des Steuerwesens auf den Reichstag übergegangen, und rücksichtlich aller dahin gehörenden Angelegenheiten ist Preußen so wenig mehr Herr im eigenen Hause als die übrigen Reichsstaaten. Schon mußte es um der neuen Reichseinheit willen seine eigene Justizorganisation aufgeben, und bald wird noch sein Landrecht folgen, diese Geistesschöpfung des großen Friedrich, woran der spezifisch preußische Staatsgeist seinen wichtigsten Anhalt fand. Welche Folgen muß das hinterher haben ! Ferner greift die Reichskanzlei überall in die Wirkungssphäre des preußischen Behördensystems ein, worauf doch der preußische Staatsorganismus so wesentlich beruhte. Jetzt wird dieses System durchbrochen und zersetzt sich in sich selbst, indem die Behörden schon nicht mehr auf die Reichskanzlei oder auf preußische Ministerien blicken sollen. Und so weiß auch das preußische Volk nicht mehr, ob sein wahres Oberhaupt der König von Preußen oder der Deutsche Kaiser ist. Je mehr es nun kaiserlich gesinnt werden möchte, um so mehr wird es ja aufhören, sich preußisch zu fühlen. Und was heißt das, als daß das Preußentum in sich selbst verschwindet ?
65C. Frantz, Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, 1879. Zit. nach : Lesebuch zur deutschen Geschichte III, S. 24 ff.
[6.7] Ein großer Abschluß und ein noch größerer Anfang ...
66Der preußische Historiker Gustav Droysen (1808-1884), nach 1880 einer der Begründer der borussisch-kleindeutschen Geschichtsauffassung, nimmt in diesem Brief an seinen Sohn zum Problem des Partikularismus, u. a. des bayerischen Partikularismus, im Reich und seiner Überwindung Stellung.
67[...] Ich wundere mich über Deine Ansicht von dem bayerischen Vertrage. Schön ist er nicht. Aber nicht bloß ist man unsererseits genau bei der Bestimmung geblieben, daß die süddeutschen Staaten nur aus freiem Willen beitreten sollten, es ist das zugleich das einzig Richtige und Weiterführende. Diesen Staaten, die an unserer Seite gesiegt, kann man nicht Bedingungen stellen wie Besiegten. Und das, was sie und namentlich Bayern anzunehmen sich bereit erklärt haben, abzulehnen, weil es nicht in das Schema paßt oder nicht genug für die einheitliche Macht zu opfern scheint, wäre nicht bloß Tollheit, sondern gegen das Recht, das diesen Staaten in den Verträgen von 1866 vorbehalten ist. Was sie selbst geben, ist haltbar. Was man sich nehmen würde, hieße die ersehnte Einheit aller deutschen Macht, deren wir seit 1870 sehr bedürftig sein werden, im voraus brüchig machen. Wiesen wir, wie die Schreier im Parlament wollen, Bayern mit diesem Vertrage zurück, so träte Bismarck sofort vom Amte. Bayern müßte sich notgedrungen anderen Rückhalt suchen, und Herr von Beust nähme es mit Vergnügen an ; die Ultramontanen und Partikularisten in und außer Bayern würden jubeln. Man muß tun, was der Gegner nicht wünscht. Die Frage der deutschen Einheit hat auch ihre völkerrechtliche und internationale Seite. In diesem Augenblick gibt es keine Macht in der Welt, die es hindern kann, wenn sich Deutschland einheitlich konstituiert. Selbst angenommen, daß man, noch einige Monate sich hin und her zerrend, ein gewiß nur wenig besseres Resultat erreichen könnte : wer bürgt dafür, daß dann nicht die Lage der Macht eine andere ist, daß Rußland wieder seine schützende Hand über Deutschland halten würde, daß Österreich sich mit Rußland in diesem Punkt verständigt und England nicht minder in unsere Suppe speit ? [...] Jetzt sind wir ganz nah an der Spitze der langersehnten Höhe ; sollten wir umkehren, weil da oben ein paar nasse Stellen sind, auf denen man nicht ganz sicher auftreten kann ? [...] Ich akzeptiere mit Vergnügen, daß sich Bayern gutwillig im Grunde doch mediatisiert, und erwarte von der Wucht des künftigen nationalen Reichstages, daß er, was noch von altem Gemäuer der Souveränität und des Partikularismus scheinbar stattlich dasteht, bald verwittern und zerbröckeln wird. Für den Augenblick ist die Nation noch nicht einiger, als diese Verträge es aussprechen. Und mit Paragraphen der Verfassung schafft man das nicht, was man in ihnen als vorhanden zu fixieren gedenkt. [...]
68Und endlich das Kaisertum. Auch dafür schwärme ich wahrhaftig nicht. Der König von Preußen ist ein hinreichend stolzer Titel. Aber man muß doch erwägen, daß die deutschen Fürsten die dem Souveränitätsdünkel die Nation geopfert und Deutschland in Staaten zerrissen haben, dies nun erbliche Kaisertum von sich aus wünschen und darbringen. Das will sagen : sie verzichten auf den föderativen Charakter der Bundeseinheit, auf die demokratische Gleichheit der Souveräne im Reich und stellen dafür den preußischen König dauernd und in verfassungsmäßiger Erblichkeit über sich. Es müßte seltsam zugehn, wenn sie mit diesem Reichsoberhaupt über sich und dem Parlament an seiner Seite nicht bald genug wieder die Lords im Reich werden sollten, die sie nie hätten aufhören sollen zu sein. Mit dem Kaisertum legen sie sich den Strick um den Hals. Um so mehr, da gerade in den deutschen Gebieten, wo der Partikularismus am zähesten ist, die Erinnerung des kaiserlichen Namens am lebendigsten sich erhalten hat. Wie schnell wird man da sich gewöhnen, über den Landesherrn als eigentliches Oberhaupt den Kaiser zu sehen – wie [man] sich in den fürstlichen Landen der Hohenlohe, Fürstenberg, Öttingen usw. gar schnell gewöhnt hat, die alten Territorialherren trotz ihrer Domänenkammer, ihren Hofbeamteten, ihrer Untergerichte als Halbfürsten anzusehn. Und dies Kaisertum ist eben doch ein anderes als das alte. Nicht mehr das Römische Deutscher Nation, nicht mehr aus faulen Wahlumtrieben und schmierigen Handsalben, nicht mehr mit einem elenden Bundestage von fürstlichen Gesandtschaften in Regensburg zur Seite, sondern gebaut auf die allgemeine Wehrpflicht, auf unerhörte Siege, auf ein Nationalparlament ; im wesentlichen evangelisch oder besser paritätisch für die Konfessionen ; vor allem so ausgestattet, daß die Nation selbst in dem Maße, als sie sich nationaler entwickelt, es fester, stärker, geschlossener machen wird. Und wenigstens auf den Meeren und in fernen Gegenden wird die kaiserliche deutsche Flagge doch noch lustiger flattern als die abstrakte “Norddeutscher Bund”.
69Was wir jetzt erleben, ist nicht bloß ein großer Abschluß, sondern noch ein grösserer Anfang oder Anfang zu Größerem, zu großen Aufgaben, Pflichten, Leistungen. Ihr jungen Leute habt noch vollauf zu tun und zu lernen.
70Johann Gustav Droysen, Briefwechsel, Bd. 2, Berlin 1929. Zit. nach : Das Deutsche Kaiserreich, S. 177 ff.
[6.8] Die deutsche Kultur
71Friedrich Nietzsche (1844-1900) reagiert 1873 in der ersten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen auf die Reichsgründung und warnt in diesem Auszug vor jeder Überheblichkeit in Deutschland, vor allem auf dem Gebiet der Kultur.
72Die öffentliche Meinung, in Deutschland scheint es fast zu verbieten von den schlimmen und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden : um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilierend nachzugehen. Trotzdem sei es gesagt : ein großer Sieg ist eine große Gefahr. Die menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage ; ja es scheint selbst leichter zu sein, einen solchen Sieg zu erringen, als ihn so zu ertragen, daß daraus keine schwerere Niederlage entsteht. Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrtum : der Irrtum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so außerordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemäß seien. Dieser Wahn ist höchst verderblich : nicht etwa weil er ein Wahn ist – denn es gibt die heilsamsten und segensreichsten Irrtümer – sondern weil er imstande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln : in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des “deutschen Reiches”.
73Einmal bliebe immer, selbst angenommen, daß zwei Kulturen miteinander gekämpft hätten, der Maßstab für den Wert der siegenden ein sehr relativer und würde unter Verhältnissen durchaus nicht zu einem Siegesjubel oder zu einer Selbstglorifikation berechtigen. Denn es käme darauf an, zu wissen, was jene unterjochte Kultur wert gewesen wäre : vielleicht sehr wenig – in welchem Falle auch der Sieg, selbst bei pomphaftestem Waffenerfolge, für die siegende Kultur keine Aufforderung zum Triumphe enthielte. Andererseits kann, in unserem Falle, von einem Siege der deutschen Kultur aus den einfachsten Gründen nicht die Rede sein : weil die französische Kultur fortbesteht wie vorher, und wir von ihr abhängen wie vorher. Nicht einmal an dem Waffenerfolge hat sie mitgeholfen. Strenge Kriegszucht, natürliche Tapferkeit und Ausdauer, Überlegenheit der Führer, Einheit und Gehorsam unter den Geführten, kurz Elemente, die nichts mit der Kultur zu tun haben, verhalfen uns zum Siege über Gegner, denen die wichtigsten dieser Elemente fehlten : nur darüber kann man sich wundern, daß das, was sich jetzt in Deutschland “Kultur” nennt, so wenig hemmend zwischen diese militärischen Erfordernisse zu einem großen Erfolge getreten ist, vielleicht nur, weil dieses Kultur sich nennende Etwas es für sich vorteilhafter erachtete, sich diesmal dienstfertig zu erweisen. Läßt man es heranwachsen und fortwuchern, verwöhnt man es durch den schmeichelnden Wahn, daß es siegreich gewesen sei, so hat es die Kraft, den deutschen Geist, wie ich sagte, zu exstirpieren – und wer weiß, ob dann noch etwas mit dem übrigbleibenden deutschen Körper anzufangen ist !
74[...] Es kann nur eine Verwechslung sein, wenn man von dem Siege der deutschen Bildung und Kultur spricht, eine Verwechslung, die darauf beruht, daß in Deutschland der reine Begriff der Kultur verlorengegangen ist.
75Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes. Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein notwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich nötigenfalls auf das beste mit dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heißt : der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile.
76In diesem chaotischen Durcheinander aller Stile lebt aber der Deutsche unserer Tage : und es bleibt ein ernstes Problem, wie es ihm doch möglich sein kann, dies bei aller seiner Belehrtheit nicht zu merken und sich noch dazu seiner gegenwärtigen “Bildung” recht von Herzen zu freuen. Alles sollte ihn doch belehren : ein jeder Blick auf seine Kleidung, seine Zimmer, sein Haus, ein jeder Gang durch die Straßen seiner Städte, eine jede Einkehr in den Magazinen der Kunstmodehändler ; inmitten des geselligen Verkehrs sollte er sich des Ursprunges seiner Manieren und Bewegungen, inmitten unserer Kunstanstalten, Konzert-, Theater- und Musenfreuden sich des grotesken Neben- und Übereinander aller möglichen Stile bewußt werden. Die Formen, Farben, Produkte und Kuriositäten aller Zeiten und aller Zonen häuft der Deutsche um sich auf und bringt dadurch jene moderne Jahrmarkts-Buntheit hervor, die seine Gelehrten nun wiederum als das “Moderne an sich” zu betrachten und zu formulieren haben ; er selbst bleibt ruhig in diesem Tumult aller Stile sitzen. Mit dieser Art von “Kultur’’, die doch nur eine phlegmatische Gefühllosigkeit für die Kultur ist, kann man aber keine Feinde bezwingen, am wenigsten solche, die, wie die Franzosen, eine wirkliche, produktive Kultur, gleichviel von welchem Werte, haben, und denen wir bisher alles, meistens noch dazu ohne Geschick, nachgemacht haben.
77Hätten wir wirklich aufgehört, sie nachzuahmen, so würden wir damit noch nicht über sie gesiegt, sondern uns nur von ihnen befreit haben : erst dann, wenn wir ihnen eine originale deutsche Kultur aufgezwungen hätten, dürfte auch von einem Triumphe der deutschen Kultur die Rede sein. Inzwischen beachten wir, daß wir von Paris nach wie vor in allen Angelegenheiten der Form abhängen – und abhängen müssen : denn bis jetzt gibt es keine deutsche originale Kultur.
78Dies sollten wir alle von uns selbst wissen : zudem hat es einer von den wenigen, die ein Recht hatten, es im Tone des Vorwurfs den Deutschen zu sagen, auch öffentlich verraten. “Wir Deutsche sind von gestern, sagte Goethe einmal zu Eckermann ; wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert, allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten so viel Geist und höhere Kultur eindringe und allgemein werde, daß man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, daß sie Barbaren gewesen.”
79F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, I. Stück : David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, 1873, in : Werke, herausgegeben v. K. Schlechta, München 1954, Bd. I, S. 137 ff.
[6.9] Die mangelnde politische Reife des Bürgertums
80Der Volkswirtschaftler und Soziologe Max Weber (1864-1920) vertritt in seiner Antrittsvorlesung vom Mai 1895 die These, das Bürgertum müsse aufgrund der neuen wirtschaftlichen und sozialen Umstände zur führenden politischen Gruppe in Deutschland werden ; es sei allerdings noch nicht dazu reif.
81Denn – und damit werden wir zu einer letzten Reihe von Betrachtungen mehr praktisch-politischer Art geführt – an jenem politischen Wertmaßstab, der uns ökonomischen Nationalisten der für uns einzig souveräne ist, messen wir auch die Klassen, welche die Leitung der Nation in der Hand haben oder erstreben. Wir fragen nach ihrer politischen Reife, das heißt nach ihrem Verständnis und ihrer jeweiligen Befähigung, die dauernden ökonomischen und politischen Machtinteressen der Nation über alle anderen Erwägungen zu stellen. [...]
82Die Erlangung ökonomischer Macht ist es zu allen Zeiten gewesen, welche bei einer Klasse die Vorstellung ihrer Anwartschaft auf die politische Leitung entstehen ließ. Gefährlich und auf die Dauer mit dem Interesse der Nation unvereinbar ist es, wenn eine ökonomisch sinkende Klasse die politische Herrschaft in der Hand hält. Aber gefährlicher noch ist es, wenn Klassen, zu denen hin sich die ökonomische Macht und damit die Anwartschaft auf die politische Herrschaft bewegt, politisch noch nicht reif sind zur Leitung des Staates. Beides bedroht Deutschland zur Zeit und ist in Wahrheit der Schlüssel für die derzeitigen Gefahren unserer Lage. Und auch die Umschichtungen der sozialen Struktur des Ostens, mit denen die im Eingang besprochenen Erscheinungen zusammenhängen, gehören in diesen größeren Zusammenhang.
83Bis in die Gegenwart hinein hat im preußischen Staat die Dynastie politisch sich auf den Stand der preußischen Junker gestützt. Gegen ihn zwar, aber doch auch nur mit ihm, hat sie den preußischen Staat geschaffen. Ich weiß es wohl, daß der Name der Junker süddeutschen Ohren unfreundlich klingt. Man wird vielleicht finden, ich spräche eine “preußische” Sprache, wenn ich ein Wort zu ihren Gunsten sage. Ich wüßte nicht. Noch heute führen in Preußen für jenen Stand viele Wege zu Einfluß und Macht, viele Wege auch an das Ohr des Monarchen, die nicht jedem Staatsbürger sich ebnen, er hat diese Macht nicht immer so gebraucht, wie er es vor der Geschichte verantworten kann, und ich sehe nicht ein, weshalb ein bürgerlicher Gelehrter ihn lieben sollte.
84Allein trotz alledem war die Kraft seiner politischen Instinkte eines der gewaltigsten Kapitalien, welche im Dienst der Machtinteressen des Staates verwendet werden konnten. – Sie haben ihre Arbeit geleistet und liegen heute im ökonomischen Todeskampf, aus dem keine Wirtschaftspolitik des Staates sie zu ihrem alten sozialen Charakter zurückführen könnte. Und auch die Aufgaben der Gegenwart sind andere, als solche, die von ihnen gelöst werden könnten. Ein Vierteljahrhundert stand an der Spitze Deutschlands der letzte und größte der Junker [Bismarck], und die Tragik, welche seiner staatsmännischen Laufbahn neben ihrer unvergleichlichen Größe anhaftete und die sich heute noch immer dem Blick vieler entzieht, wird die Zukunft wohl darin finden, daß unter ihm das Werk seiner Hände, die Nation, der er die Einheit gab, langsam und unwiderstehlich ihre ökonomische Struktur veränderte und eine andere wurde, ein Volk, das andere Ordnungen fordern mußte, als solche, die er ihm geben und denen seine cäsarische Natur sich einfügen konnte. Im letzten Grund ist eben dies es gewesen, was das teilweise Scheitern seines Lebenswerkes herbeigeführt hat. Denn dieses Lebenswerk hätte doch nicht nur zur äußeren, sondern auch zur inneren Einigung der Nation führen sollen, und jeder von uns weiß : das ist nicht erreicht. Es konnte mit seinen Mitteln nicht erreicht werden. Und als er im Winter des letzten Jahres, umstrickt von der Huld seines Monarchen, in die geschmückte Reichshauptstadt einzog, da – ich weiß es wohl – gab es viele, welche so empfanden, als öffne der Sachsenwald wie ein moderner Kyffhäuser seine Tiefen. Allein nicht alle haben diese Empfindung geteilt. Denn es schien, als sei in der Luft des Januartages der kalte Hauch geschichtlicher Vergänglichkeit zu spüren. Uns überkam ein eigenartig beklemmendes Gefühl, – als ob ein Geist herniederstiege aus einer großen Vergangenheit und wandelte unter einer neuen Generation durch eine ihm fremd gewordene Welt.
85Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, in : Gesammelte Schriften, Tübingen 21958, S. 18-21. Zit. nach : Das Deutsche Kaiserreich, S. 31 ff.
[6.10] Gründerkrise 1873/74
86In den Jahren 1873-74 wird Deutschland von einer scharfen Wirtschaftskrise mit anschließender Depression bis 1879 heimgesucht.
87Das Fazit des Jahres 1874 ist nach allen Richtungen hin ein ungünstiges : die Buße für die Sünden der vorhergegangenen beiden Jahre hat sich wie ein Naturgesetz mit unerbittlicher Strenge vollzogen ; Handel und Verkehr stocken ; die Industrie hat einen Teil ihres früheren Absatzgebietes verloren, weil die übermäßig gesteigerten Arbeitslöhne bei wesentlich verminderter Arbeitsleistung und das Wirtschaften aus dem Vollen die Konkurrenzfähigkeit deutscher Erzeugnisse auf dem Weltmarkte bedeutend vermindert hat. Außerdem war auch der Bedarf des Auslandes, namentlich Amerikas, ein schwächerer, die Produktion Deutschlands eine größere geworden. Der ungewöhnliche wirtschaftliche Aufschwung nach dem glücklich beendeten Kriege mit Frankreich hatte zu dem Glauben geführt, daß die Prosperität nicht nur eine dauernde, sondern eine weiter steigende sein würde und somit die inländische Verbrauchsfähigkeit zunehmen müsse. Vergrößerung und Neubegründung einer Menge industrieller Etablissements, und als Schlußresultat Überproduktion waren die Folge. Große Kapitalien sind in Unternehmungen teils vergeudet, teils vorläufig unrentabel angelegt, fast alle Dividendenpapiere, wie Eisenbahnen, Banken etc. gewährten geringere Rente, auch ist die Zahl der notleidenden Wertpapiere gestiegen. Amerikanische Zeitungen geben den Wert solcher in Europa plazierten notleidenden amerikanischen Papiere allein auf ca. 154 Millionen Dollars an, von denen reichlich ein Drittel auf Deutschland fallen dürfte. Die Suspension der Zinszahlungen Österreichischer Eisenbahngesellschaften hat sich vermehrt, auch führt die Umwandlung der deutschen Währung zufolge des gesunkenen Silberwertes Verluste in den Zinseinnamen bei solchen Papieren herbei, deren Zinsen in Silber bezahlt werden, wie z B. Österreichische Silber-Rente, welche in Deutschland in großen Summen gehalten wird. Verschiedene der Österreichischen Eisenbahnen verweigern sogar unberechtigter Weise Zinszahlung in Markwährung.
88Unter dem Drucke solcher Verhältnisse mußte sich die Sparfähigkeit bedeutend vermindern und somit erheblich weniger neues Kapital der Börse zu neuer Anlage zufließen ; – die notwendige Folge war Geschäftsstille, der befruchtende Strom fehlte. Ohne diesen, ohne die Mitwirkung der außerhalb der Börse stehenden Kapitalisten kann sich dauernd keine rege Tätigkeit entwickeln. Den Beweis dafür haben die beiden Vorjahre geliefert ; ohne die Mitwirkung des Publikums wäre der Absatz so großer Massen neukreierter Papiere unmöglich gewesen, die Börse ist nur Vermittlerin und doch hört man heutzutage oft selbst aus dem Munde verständiger Menschen sie allein verantwortlich machen für das tolle Treiben der letzten Jahre. Gewiß hat die Börse gesündigt, aber das außerhalb derselben stehende Publikum hat sich nicht bloß reichlich an den Sünden beteiligt, sondern sie kräftigst gefördert. Der Drang, ohne oder mit möglichst wenig Arbeit reich zu werden, war in den außergeschäftlichen Kreisen ein ebenso fieberhafter, wie in geschäftlichen. Er hatte alle Gesellschaftsklassen ergriffen. So lange verdient wurde, pries man die Begründer der neuen Unternehmungen als Förderer des Nationalwohlstandes, nach dem Rückschlage will man sie allein für diesen verantwortlich machen, während die Verluste, abgesehen von einigen mit Bewußtsein ausgeführten Täuschungen, zum großen Teile in den allgemeinen veränderten oben angedeuteten Verhältnissen liegen. Die zu schnell einfließenden französischen Kriegskontributionen und deren vorläufige Zinsbarmachung durch von der Reichsregierung damit beauftragte Institute, die schnelle Kündigung und Rückzahlung der Bundesanleihe und preußischer Anleihen stellten zu viel Geld auf einmal zu neuer Anlage oder zur Spekulation zur Verfügung, die allgemeine Überschätzung der dauernden Wirkung der Kriegskontributionen konnte nicht ausbleiben.
89Bericht der Berliner Kaufmannschaft für das Jahr 1874, “Geld- und Creditgeschäfte, Versicherungswesen, usw.”. Berlin 1875. Zit. nach : H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, S. 169 ff.
[6.11] Das Kulturkampfgesetz
90Am 4. Mai 1874 wird auf preußischen Antrag das Expatriierungsgesetz als Reichsgesetz verabschiedet. Damit verschärft sich noch mehr der ‘Kulturkampf’ gegen den Katholizismus.
91Gesetz, betr. die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern, vom 4. Mai 1874.
92Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. verordnen im Namen des Deutschen Reiches, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags, was folgt :
93§ 1 Einem Geistlichen oder anderem Religionsdiener, welcher durch gerichtliches Urteil aus seinem Amt entlassen worden ist und hierauf eine Handlung vornimmt, aus welcher hervorgeht, daß er die Fortdauer des ihm entzogenen Amtes beansprucht, kann durch Verfügung der Landespolizeibehörde der Aufenthalt in bestimmten Bezirken oder Orten versagt oder angewiesen werden.
94Besteht die Handlung desselben in der ausdrücklichen Anmaßung des Amtes, oder in der tatsächlichen Ausübung desselben, oder handelt er der gegen ihn ergangenen Verfügung der Landespolizeibehörde zuwider, so kann er seiner Staatsangehörigkeit durch Verfügung der Zentralbehörde seines Heimatstaates verlustig erklärt und aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden. [...]
95§ 3 In der Verfügung (§§ 1, 2) sind die Gründe der angeordneten Maßregel anzugeben.
96Behauptet der Betroffene, daß er die ihm zur Last gelegten Handlungen nicht begangen habe, oder daß dieselben den im § 1 bezeichneten Tatbestand nicht enthalten, so steht ihm binnen acht Tagen nach Zustellung der Verfügung die Berufung auf richterliches Gehör offen. [...]
97§ 4 Personen, welche nach den Vorschriften dieses Gesetzes ihrer Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaate verlustig erklärt worden sind, verlieren dieselbe auch in jedem anderen Bundesstaate und können ohne Genehmigung des Bundesrats in keinem Bundesstaate die Staatsangehörigkeit von neuem erwerben.
98§ 5 Personen, welche wegen Vornahme von Amtshandlungen in einem Kirchenamte, das den Staatsgesetzen zuwider ihnen übertragen, oder von ihnen übernommen ist, zur Untersuchung gezogen werden, kann nach Eröffnung der gerichtlichen Untersuchung durch Verfügung der Landespolizeibehörde bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens der Aufenthalt in bestimmten Bezirken oder Orten versagt werden.
99Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift beigedrucktem Kaiserlichen Insiegel.
100Gegeben Berlin, den 4. Mai 1874 – Wilhelm – Fürst v. Bismarck
101Reichsgesetzblatt 1874, S. 43/44. Zit. nach : Die Zerstörung der deutschen Politik, S. 60-62.
[6.12] Ein klaffender Riß durch die Gesellschaft ...
102In seiner Biographie von Ludwig Windthorst beschreibt E. Hüsgen einige Fälle, die zeigen, mit welcher Heftigkeit der Kulturkampf in den siebziger Jahren manchmal geführt wurde.
103Was man mit dem Namen “Kulturkampf” bezeichnet, das war die Mobilmachung des konfessionellen Gegensatzes gegen den Katholizismus, die Aufbietung der Staatsgewalt in ihren höheren und niederen Organen, der Aufwand aller Machtmittel, die Bildung und Besitz gewähren, gegen alles, was katholisch hieß oder mit der katholischen Kirche auch nur entfernt zusammenhing.
104Wie eine vergiftende Atmosphäre, wie eine Art Krankheit lag es in jenen Tagen über unserem Vaterlande. Katholik und Reichsfeind, katholisch und vaterlandslos, ultramontan und vaterlandsfeindlich, Zentrumsanhänger und Gegner jeder Kulturbestrebung waren nach landläufiger Auffassung gleichwerte Begriffe. Es gehörte gewissermaßen zum guten Ton, den Katholiken ihre politische und gesellschaftliche Minderwertigkeit möglichst deutlich zum Ausdruck zu bringen und ihnen im öffentlichen und privaten Leben die Gleichberechtigung abzusprechen. Es galt – wie der Abg. Hänel am 12. Jan. 1882 im Reichstage sagte, als man sich dieser Zustände zu schämen begann – “als notwendig, korrekt und patriotisch, ja sogar um in höherer Gesellschaft zulässig zu sein, als Bedingung, daß man kulturkämpfte. Da mußte man mit Entschiedenheit allen Anforderungen, welche die Regierung und die Konservativen in bezug auf die Kirchengesetzgebung erhoben, blindlings folgen, sonst war man immerhin politisch etwas anrüchig.” Wobei man aber nicht vergessen darf, daß Fortschritt und Nationalliberale es mitunter noch ärger trieben, als die Konservativen.
105Die konfessionellen und politischen Gegensätze waren so groß, daß ein klaffender Riß durch die Gesellschaft ging, der Spaltung und Zwietracht bis in den Schoß der Familie hinein trug. Ein überzeugungstreuer Katholik galt tatsächlich nur als Bürger zweiter Klasse. Ja, selbst die katholischen Männer, die sich der Zentrumspartei nicht anschlossen, vielmehr in den Reihen der Gegner politisch ihre Stellung nahmen, wurden nicht für voll angesehen und begegneten einem gewissen Mißtrauen, wenn sie nicht durch ganz besondere Rücksichtslosigkeit im Kampfe gegen ihre Glaubensgenossen sich auszeichneten.
106Namentlich in den kleineren und mittleren Städten waren die Katholiken aus den gesellschaftlichen Kreisen und vom freundschaftlichen Verkehr mit Nichtkatholiken nahezu ausgeschaltet. Sogar die geschäftlichen Beziehungen wurden durch das politische Parteiprogramm und die konfessionelle Frage beeinflußt. [...] Wenn gar politische oder kommunale Wahlen die Leidenschaften noch mehr aufgewühlt hatten, war die Entlassung von Arbeitern und Privatbeamten, die ihrer Überzeugung nach für Zentrumskandidaten ihre Stimme abgegeben hatten, durchaus keine Seltenheit. [...]
107Daß die mittelbaren und unmittelbaren Staatsbeamten der unteren Kategorien von der höheren Stelle bei öffentlichen Wahlen auf ihre Abstimmung geprüft wurden, fand selbst die Mehrheit des Abgeordnetenhauses ganz in der Ordnung.
108Wie hoch und heiß in solchen Wahlkämpfen bei politischen und noch mehr bei Gemeindewahlen das Feuer des konfessionellen Hasses aufloderte, läßt sich in unseren Tagen kaum mehr begreifen. Wurde doch vom Düsseldorfer liberalen Wahlkomitee das Ergebnis der Landtagswahl, bei welcher dank einer geradezu raffinierten Wahlkreisgeometrie der Zentrumspartei zwei Mandate entrissen und der liberalen Partei überliefert worden waren, dem Reichskanzler mit den Worten telegraphiert : “Ein schöner Wahlkreis ist dem Vaterland wiedererobert !” Über amtliche und private Wahlbeeinflussungen wissen die Akten der Wahlprüfungskommission aus jenen Tagen geradezu unglaubliche Dinge zu erzählen.
109Was sich selbst in katholischen Gegenden namentlich die unteren Beamten den Katholiken gegenüber erlaubten, hält man heute kaum noch für möglich. [...]
110Nicht einmal die Rechtsprechung, deren Unabhängigkeit bis dahin Preußens Stolz gewesen war, blieb vom Kulturkampfe ganz unberührt. Der Justizminister hatte die Oberstaatsanwälte unterm 15. Juli 1874 durch eine besondere Verfügung angewiesen, den Blättern der Zentrumspartei eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden und mit Beschlagnahme und Anklage überall da vorzugehen, wo der Tatbestand einer strafbaren Handlung zu finden sei. Welchen Erfolg eine solche Aufforderung an eine Behörde haben mußte, die ohnehin gewissermaßen von Amts wegen geneigt ist, Handlungen strafbar zu finden, läßt sich denken. Die Presseprozesse gegen die “ultramontane” Presse mehrten sich in auffälligster Weise, und die untergeordneten Organe der Justiz und der Polizei ließen sich in vielen Fällen offenbare Gesetzesverletzungen bei Beschlagnahmen und Haussuchungen zuschulden kommen. Selbst liberale Blätter gestanden ein, daß auf solche Weise alle Pressefreiheit vernichtet werden könne. In manchen Fällen wurden die Blätter der Zentrumspartei für Artikel bestraft die in den liberalen Blättern desselben Ortes straflos zum Abdruck gelangt waren. Der Abgeordnete Dr. Lieber stellte das am 23. Februar 1875 im Abgeordnetenhause ausdrücklich fest und rügte das Vorgehen der Gerichte in seiner temperamentvollen Art. Die amtlichen Blätter reizten die Gemüter in einer Weise auf, die nur darüber erstaunen lasse, daß das in der bayerischen Kammer gefallene Wort : “Mit den Ultramontanen unterhandelt man nicht, man schlägt ihnen die Köpfe ein !” noch nicht in die Tat übersetzt sei ; gleichwohl habe man bisher diese Aufreizungen unbehelligt gelassen.
111Eduard Hüsgen, Ludwig Windthorst, Köln 1907, S. 222-223. Zit. nach : Das Deutsche Kaiserreich, S. 199 ff.
[6.13] Das Sozialistengesetz
112Auf Betreiben Bismarcks hin, dessen politische Haltung durch eine latente Revolutionsfurcht bestimmt ist, verabschiedet der Reichstag am 21. Oktober 1878 das “Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie”.
113§ 1 Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten.
114Dasselbe gilt für Vereine, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebung in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zutage treten. [...]
115§ 5 Wird durch die Generalversammlung, durch den Vorstand oder durch ein anderes leitendes Organ des Vereins den von der Kontrollbehörde innerhalb ihrer Befugnisse erlassenen Anordnungen zuwidergehandelt oder treten in dem Verein die in § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen auch nach Einleitung der Kontrolle zutage, so kann der Verein verboten werden. [...]
116§ 9 Versammlungen, in denen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen zutage treten, sind aufzulösen.
117Versammlungen, von denen durch Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, daß sie zur Förderung der im ersten Absatz bezeichneten Bestrebungen bestimmt sind, sind zu verbieten.
118Den Versammlungen werden öffentliche Festlichkeiten und Aufzüge gleichgestellt. [...]
119§ l1 Druckschriften, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zutage treten, sind zu verbieten.
120Bei periodischen Druckschriften kann das Verbot sich auch auf das fernere Erscheinen erstrecken, sobald auf Grund dieses Gesetzes das Verbot einer einzelnen Nummer erfolgt. [...]
121§16 Das Einsammeln von Beiträgen zur Förderung von sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen, auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen, sowie die öffentliche Aufforderung zur Leistung solcher Beiträge sind polizeilich zu verbieten. Das Verbot ist öffentlich bekanntzumachen.
122Die Beschwerde findet nur an die Aufsichtsbehörden statt.
123§17 Wer an einem verbotenen Verein als Mitglied sich beteiligt, oder eine Tätigkeit im Interesse eines solchen Vereins ausübt, wird mit Geldstrafe bis zu 500 Mark oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft. [...] Gegen diejenigen, welche sich an dem Verein oder an der Versammlung als Vorsteher, Leiter, Ordner, Agenten, Redner oder Kassierer beteiligen, oder welche zu der Versammlung auffordern, ist auf Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahre zu erkennen.
124§18 Wer für einen verbotenen Verein oder für eine verbotene Versammlung Räumlichkeiten hergibt, wird mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahre bestraft. [...]
125§ 22 Gegen Personen, welche sich die Agitation für die im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen zum Geschäfte machen, kann im Falle einer Verurteilung wegen Zuwiderhandlungen gegen die §§17 bis 20 neben der Freiheitsstrafe auf die Zulässigkeit der Einschränkung ihres Aufenthalts erkannt werden.
126Auf Grund dieses Erkenntnisses kann dem Verurteilten der Aufenthalt in bestimmten Bezirken oder Ortschaften durch die Landespolizeibehörde versagt werden, jedoch in seinem Wohnsitze nur dann, wenn er denselben nicht bereits seit sechs Monaten innehat. Ausländer können von der Landespolizeibehörde aus dem Bundesgebiete ausgewiesen werden. Die Beschwerde findet nur an die Aufsichtsbehörden statt.
127Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahre bestraft.
128§ 23 Unter den in § 22 Abs. 1 bezeichneten Voraussetzungen kann gegen Gastwirte, Schankwirte, mit Branntwein oder Spiritus Kleinhandel treibende Personen, Buchdrucker, Buchhändler, Leihbibliothekare und Inhaber von Lesekabinetten neben der Freiheitsstrafe auf Untersagung ihres Gewerbebetriebes erkannt werden. [...]
129§ 30 Dieses Gesetz tritt mit dem Tage der Verkündung in Kraft und gilt bis zum 31. März 1881.
130Das Staatsarchiv, 34. Bd. 1878. S. 45 ff., Nr. 6797. Zit. nach : Die Zerstörung der deutschen Politik, S. 63-66.
[6.14] Begründung einer aktiven Sozialpolitik des Staates
131Anläßlich der Parlamentsdebatte über die geplante Unfallversicherung erklärt die Reichsregierung die humanitären und politischen Gründe ihrer Sozialpolitik.
132Berlin, 15. Dezember 1880
133[...] Bei der Beratung des Gesetzes vom 21. Oktober 1878, betreffend die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, ist die Notwendigkeit anerkannt worden, die bedenklichen Erscheinungen, welche den Erlaß dieses Gesetzes notwendig gemacht haben, auch durch positive, auf die Verbesserung der Lage der Arbeiter abzielende Maßnahmen zu bekämpfen. Wenn auch die Hoffnung berechtigt ist, daß die allgemeine Besserung, welche von der neuerdings befolgten nationalen Wirtschaftspolitik für die Entwicklung des heimischen Gewerbfleißes erwartet werden darf, auch den Arbeitern durch eine allmähliche Erhöhung des Arbeitsverdienstes und durch Verminderung der Schwankungen desselben zugute kommen wird, so ist doch nicht zu verkennen, daß in der Unsicherheit des lediglich auf der Verwertung der persönlichen Arbeitskraft beruhenden Erwerbes, welche auch bei normaler Entwicklung der heimischen Gewerbtätigkeit niemals ganz beseitigt werden kann, Mißstände begründet sind, welche zwar auch durch gesetzgeberische Maßnahmen nicht völlig aufzuheben sind, deren allmähliche Milderung aber auf dem Wege besonderer, die eigentümlichen Verhältnisse der Arbeiter berücksichtigender Gesetzgebung ernstlich in Angriff genommen werden muß.
134Daß der Staat sich in höherem Maße als bisher seiner hilfsbedürftigen Mitglieder annehme, ist nicht bloß eine Pflicht der Humanität und des Christentums, von welchem die staatlichen Einrichtungen durchdrungen sein sollen, sondern auch eine Aufgabe staatserhaltender Politik, welche das Ziel zu verfolgen hat, auch in den besitzlosen Klassen der Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten und am wenigsten unterrichteten sind, die Anschauung zu pflegen, daß der Staat nicht bloß eine notwendige, sondern auch eine wohltätige Einrichtung sei. Zu dem Ende müssen sie durch erkennbare direkte Vorteile, welche ihnen durch gesetzgeberische Maßregeln zu Teil werden, dahin geführt werden, den Staat nicht als eine lediglich zum Schutz der besser situierten Klassen der Gesellschaft erfundene, sondern als eine auch ihren Bedürfnissen und Interessen dienende Institution aufzufassen.
135Das Bedenken, daß in die Gesetzgebung, wenn sie dieses Ziel verfolge, ein sozialistisches Element eingeführt werde, darf von der Betretung dieses Weges nicht abhalten. Soweit dies wirklich der Fall, handelt es sich nicht um etwas ganz Neues, sondern nur um eine Weiterentwickelung der aus der christlichen Gesittung erwachsenen modernen Staatsidee, nach welcher dem Staat neben der defensiven, auf den Schutz bestehender Rechte abzielenden, auch die Aufgabe obliegt, durch zweckmäßige Einrichtungen und durch Verwendung der zu seiner Verfügung stehenden Mittel der Gesamtheit, das Wohlergehen aller seiner Mitglieder und namentlich der schwachen und hilfsbedürftigen positiv zu fördern. In diesem Sinne schließt namentlich die gesetzliche Regelung der Armenpflege, welche der moderne Staat im Gegensatze zu dem des Altertums und des Mittelalters, als eine ihm obliegende Aufgabe anerkennt, ein sozialistisches Moment in sich, und in Wahrheit handelt es sich bei den Maßnahmen, welche zur Verbesserung der Lage der besitzlosen Klassen ergriffen werden können, nur um eine Weiterentwickelung der Idee, welche der staatlichen Armenpflege zu Grunde liegt.
136Auch die Besorgnis, daß die Gesetzgebung auf diesem Gebiete namhafte Erfolge nicht erreichen werde, ohne die Mittel des Reichs und der Einzelstaaten in erheblichem Maße in Anspruch zu nehmen, darf von der Betretung des Weges nicht abhalten, denn der Wert von Maßnahmen, bei welchen es sich um die Zukunft des gesellschaftlichen und staatlichen Bestandes handelt, darf nicht an den Geldopfern, welche sie vielleicht erfordern, gemessen werden. Allerdings können mit einer einzelnen Maßregel, wie sie gegenwärtig vorgeschlagen wird, die Schwierigkeiten, welche die soziale Frage bietet, nicht gänzlich oder auch nur zu einem erheblichen Teile gehoben werden ; es handelt sich vielmehr nur um den ersten Schritt auf einem Gebiete, auf welchem eine Jahre lang fortzusetzende schwierige Arbeit mit Vorsicht und allmählich zu bewältigen sein und die Lösung einer Aufgabe wieder neue Aufgaben erzeugen wird. Dieser erste Schritt aber darf nach der Überzeugung der verbündeten Regierungen nicht länger hinausgeschoben werden und sie erachten es für Pflicht, ihrerseits durch Einbringung dieser Vorlage der Erfüllung der Zusagen und Wünsche näher zu treten, welche bei den Verhandlungen über das Gesetz, betreffend die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, von mehr als einer Seite ausgesprochen sind. [...]
137Stenographische Berichte, Reichstag, 4. Leg. Per., IV. Sess. 1881, Bd. 3, S. 228. ; Zit. nach : Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. XXXVII, S. 116 ff.
[6.15] Was heißt Vaterlandsliebe ?
138Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Wilhelm Liebknecht (1826-1900) weist das Prinzip der Nationalität im Namen der Humanität und der Freiheit zurück.
139[...] Ich variiere da einen Ausspruch des Robespierre und nenne das Nationalitätsprinzip ein Phantom erfunden von Schwindlern, um Narren an der Nase herumzuführen. Das ganze sogenannte Nationalitätsprinzip – so, wie Sie es auffassen, so, wie es sich in diesen Ausweisungen kennzeichnet – ist es denn überhaupt ein Prinzip oder gar ein hohes Kulturprinzip ? Eine Nation hat vor allen Dingen den Beruf, menschheitliche Aufgaben zu lösen. Aber ein Nationalitätsprinzip, welches darauf hinausläuft, daß eine Nationalität die andere unterdrückt, aus dem Lande treibt, – meine Herren, das ist ein Prinzip der Barbarei ! das ist kein Kulturprinzip ! Sie treiben Barbarei im Namen der Kultur. Der ganze Gang der Kulturentwicklung richtet sich gegen das Nationalitätsprinzip, – das heißt das Nationalitätsprinzip so aufgefaßt, daß eine Nation die andere ausschließen, sich von ihr abschließen soll. Unsere ganze Kulturentwicklung ist eine fortdauernde Reihe von Siegen über dieses Prinzip, und zur Ehre unseres Jahrhunderts sei es gesagt, daß die internationale, kosmopolitische Strömung mehr und mehr über diese nationalistischen Regungen die Oberhand gewonnen hat ; und in einer Maßregel, wie der, die wir jetzt besprechen, können wir – um mich darwinistisch auszudrücken – nur einen Rückfall in die alte Barbarei erblicken.
140Ich habe über diesen Gegenstand schon bei der Budgetberatung gesprochen, und da ich mich in warmer Weise zu Gunsten der Polen ausgesprochen habe, hat man mir in der Presse vorgeworfen – und es ist mir auch im Hause indirekt der Vorwurf gemacht worden – ich sei kein Patriot, wir Sozialdemokraten seien eine ausländische Partei, uns fehle die Begeisterung für das Vaterland. Es gibt keinen Vorwurf, den ich leichter ertragen kann als diesen. Was heißt Vaterlandsliebe ? Nach meiner Auffassung : dafür sorgen, daß das Vaterland, das uns allen gehört, wohnlich werde, dafür sorgen, daß unser deutsches Vaterland Einrichtungen erlangt, die es jedem zur Ehre und Annehmlichkeit machen, darin zu wohnen. Das nenne ich Förderung der deutschen Nationalität ; darin aber, daß man in Deutschland Zustände schafft, welche Massen des deutschen Volkes aus dem Lande treiben, und welche zu Maßregeln, wie diese Polenausweisungen, führen, – darin sehe ich wahrhaftig keinen Triumph des Nationalitätsprinzips. [...]
141Ich habe vorhin gesagt, das Prinzip der Nationalität werde durch das Prinzip der Humanität überragt. Es gibt noch ein zweites Prinzip, das über das Nationalitätsprinzip hinausgeht : das ist das Prinzip der Freiheit. Hätten wir Freiheit in Deutschland, so würden die nationalen Gegensätze sich innerhalb Deutschlands nicht in der Weise geltend machen können, wie das jetzt der Fall ist. Sie haben zwei Länder, die freiesten Länder der Erde, die Schweiz und Amerika ; diese beiden Länder sind – ich möchte sagen – verkörperte Negationen des Prinzips der Nationalität. Es sind da alle Nationen durcheinander gewürfelt. Und sie leben friedlich neben einander. Warum ? Weil sie frei sind. [...]
142Verh. d. RT, 25. Sitzung, S. 536ff. Zit. nach : Was ist des Deutschen Vaterland ?, S. 100 ff.
[6.16] Ein Wort an meine Angehörigen
143Alfred Krupp (1812-1887) – Sohn von Friedrich Krupp, dem Gründer der Friedrich Krupp GmbH – ist ein typischer Vertreter des Paternalismus : er hat zwar das Sozialwerk seiner Firma gegründet, verweigert hingegen den Arbeitern das Recht auf politische und gewerkschaftliche Tätigkeit.
144Wenn eine Gefahr sich erhebt, so soll man nicht leichtsinnig sie verachten oder feige vor ihr sich zurückziehen, sondern mit offenen Augen Ursprung, Wesen und Gang derselben verfolgen und aufmerksam und tätig die Abwehr bereiten. Zu ähnlichem Zwecke richtete ich an Euch das letzte Mal die Ermahnung zu Frieden und Verträglichkeit trotz jeder Glaubensverschiedenheit und wie ich glaube, nicht ohne Erfolg. [...] Jetzt handelt es sich um die sogenannte Sozialdemokratie. In der gemäßigten Form und in den mildesten Grenzen wollen ihre Vertreter, daß jedermann zur Arbeit berechtigt und verpflichtet sei unter einem allgemeinen Gesetz und einer oberen Verwaltung. Besitz und Verfügung des Privaten sollen damit aufgehoben werden. [...]
145Sie wollen keinen Thron, keine Regierung, keine Religion, kein Eigentum und kein Erbe, auch ebensowenig Zucht, Scham und Sitte anerkennen und gelten lassen. Was Jahrhunderte an Gutem geschaffen, veredelt und geheiligt haben, soll vernichtet werden, und selbstverständlich geht das nicht ohne Feuer und Schwert. Was eine fleißige sparsame Familie, was eine Generation ehrlich erworben hat, soll der Faule, Liederliche sich aneignen dürfen, und wenn er einmal seinen Teil verzehrt hat, so teilt er nachher wiederholt mit denjenigen, welche inzwischen durch Fleiß und Sparsamkeit sich wieder etwas erworben haben. Das ist in klaren Worten das Ziel, wonach diese ausschreitenden Verfechter der neuen Lehre streben. [...]
146Der gewerbliche Arbeitgeber muß gerade wie der Landmann auf Wechselfälle vorbereitet sein. Beide haben oft die Kosten für die Saat und keine Ernte. Der Arbeiter will aber ungeschmälert seinen Lohn für seine Arbeit. Die Gußstahlfabrik muß ohne Scheu vor Kosten ihre Agenten in alle Enden des Erdballs senden, um Arbeit für die Fabrik zu beschaffen, und nicht immer geschieht dies mit Erfolg. Es treten Jahre ein, welche keinen Gewinn abwerfen, der Arbeiter aber erhält trotzdem seinen Lohn. Es muß in guten Jahren notwendige Kraft gewonnen werden, um die schlechten zu überstehen. Ohne Reserve im Gewinn, müßte man in schlechten Jahren die Leute gehen lassen. Es hat dagegen die Fabrik in den schlechtesten Jahren, wenn alles darniederlag, dennoch die Arbeit fortgesetzt, auf Vorrat fabriziert oder zu Preisen mit Verlust geliefert, bloß zu dem Zwecke, die Leute zu ernähren und den Herd warm zu halten. – Die Lehre der Sozialisten streitet auch mit dem jedem Menschen eingeborenen Rechtsgefühl ; sowie jedermann sein Eigentum verteidigt, so tue ich dasselbe. – Wenn mein Gedanke mein ist, so ist auch meine Erfahrung mein und die Frucht derselben. – Dasselbe gilt für die Gußstahlfabrik und ihre Produktion. Ich habe die Erfindungen und neuen Produktionen eingeführt, nicht der Arbeiter. Er ist abgefunden mit seinem Lohne, und ob ich darauf gewinne oder verliere, das ist meine eigene Sache. [...]
147Ich habe den Mut gehabt, für die Verbesserung der Lage der Arbeiter Wohnungen zu bauen, worin bereits 20 000 Seelen untergebracht sind, ihnen Schulen zu gründen und Einrichtungen zu treffen zur billigen Beschaffung von allem Bedarf. Ich habe mich dadurch in eine Schuldenlast gesetzt, die abgetragen werden muß. Damit dies geschehen kann, muß jeder seine Schuldigkeit tun in Friede und Eintracht und in Übereinstimmung mit unsern Vorschriften. [...]
148Genießt, was Euch beschieden ist. Nach getaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen, bei den Eltern, bei der Frau und den Kindern und sinnt über Haushalt und Erziehung. Das sei Eure Politik, dabei werdet Ihr frohe Stunden erleben. Aber für die große Landespolitik erspart Euch die Aufregung. Höhere Politik treiben erfordert mehr freie Zeit und Einblick in die Verhältnisse, als dem Arbeiter verliehen ist. Ihr tut Eure Schuldigkeit, wenn Ihr durch Vertrauenspersonen empfohlene Leute erwählt.
149Ihr erreicht aber sicher nichts als Schaden, wenn Ihr eingreifen wollt in das Ruder der gesetzlichen Ordnung. Das Politisieren in der Kneipe ist nebenbei sehr teuer, dafür kann man im Hause Besseres haben. [...]
150Mit dem Laufe der Zeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wird alles besser und wer zurückblickt in die Vergangenheit, kann sich der Überzeugung nicht verschließen, daß große Fortschritte gemacht worden sind zum Besten aller und so auch der arbeitenden Klassen. Vor fünfzig Jahren lebte kein Arbeiter so gut in Nahrung, Wohnung und Kleidung als heute. Keiner wird tauschen wollen mit dem Lose seiner Eltern und Vorfahren.
151Was ich nun hiermit ausgesprochen habe, möge jedem zur Aufklärung dienen über die Verhältnisse und deutlich machen was er zu erwarten hat von Handlungen und Bestrebungen im Dienste des Sozialismus. Man erwärmt keine Schlange an seiner Brust und wer nicht von Herzen ergeben mit uns geht, wer unsern Ordnungen widerstrebt, der beeile sich auf anderen Boden zu kommen, denn seines Bleibens ist hier nicht. Es wird eine Bestimmung meines letzten Willens sein, daß stets mit Wohlwollen und Gerechtigkeit das Regiment geführt werden soll, aber äußerste Strenge soll gehandhabt werden gegen solche, die den Frieden stören wollen, und wenn bis jetzt mit großer Milde verfahren wurde, so möge das niemanden verleiten.
152Wilhelm Berdrow (Hrsg.), Alfred Krupps Briefe 1826-1887. Berlin 1928, S. 342-348. Zit. nach : H. Grebing, Arbeiterbewegung, S. 147 ff.
[6.17] Die deutsche Nation
153Der Geschichtsforscher und Jurist Theodor Mommsen (1817-1903) – 1873-1879 Mitglied des preußischen Landtags und 1881-1884 Reichstagsabgeordneter – vertritt eine bürgerlich-liberale Auffassung von Staat und Nation.
154Die deutsche Nation ruht, darüber sind wir wohl alle einig, auf dem Zusammenhalten und in gewissem Sinn dem Verschmelzen der verschiedenen deutschen Stämme. Eben darum sind wir Deutsche, weil der Sachse oder der Schwabe auch den Rheinländer und den Pommern als seines Gleichen gelten laßt, das heißt als vollständig gleich, nicht bloß in bürgerlichen Rechten und Pflichten, sondern auch im persönlichen und geselligen Verkehr. Wir mögen den sogenannten engeren Landsleuten noch eine nähere Sympathie entgegen tragen, manche Erinnerung und manches Gefühl mit ihnen teilen, das außerhalb dieses Kreises keinen Widerhall findet ; die Empfindung der großen Zusammengehörigkeit hat die Nation geschaffen und es würde aus mit ihr sein, wenn die verschiedenen Stämme je anfangen sollten sich gegen einander als Fremde zu fühlen. Wir verhehlen uns die Verschiedenheit nicht ; aber wer recht fühlt, der erfreut sich derselben, weil die vielfachen Ziele und Verhältnisse des Großstaates den Menschen in seiner ganzen Mannigfaltigkeit fordern und die Fülle der in unser großes und schicksalvolles Volk gelegten Gaben und der ihm aufgelegten Verpflichtungen von keinem einzelnen Stamm ganz entwickelt und ganz gelöst werden kann.
155Inwiefern stehen nun die deutschen Juden anders innerhalb unseres Volkes als die Sachsen oder die Pommern ? Es ist richtig, daß sie Nachkommen weder von Istaevo sind noch von Hermino und Ingaevo ; und die gemeinschaftliche Abstammung von Vater Noah genügt freilich nicht, wenn die germanische Ahnenprobe den Deutschen macht. Allerdings wird von der deutschen Nation noch allerlei mehr abfallen als die Kinder Israels, wenn ihr heutiger Bestand nach Tacitus Germania durchkorrigiert wird. Herr Quatrefages hat vor Jahren nachgewiesen, daß nur die Mittelstaaten wirklich germanisch seien und “la race prussienne” eine Masse, zu der verkommene Slaven und allerlei anderer Abfall der Menschheit sich vereinigt habe ; als späterhin “la race germanique” und “la race prussienne” in den Fall kamen, der großen Nation gemeinschaftlich den Marsch zu machen, ist im Laufen vor beiden kein Unterschied wahrgenommen worden. Wer die Geschichte wirklich kennt, der weiß es, daß die Umwandlung der Nationalität in stufenweisem Fortschreiten und mit zahlreichen und mannigfaltigen Übergängen oft genug vorkommt. Historisch wie praktisch hat eben überall nur der Lebende Recht ; so wenig, wie die Nachkommen der französischen Colonie in Berlin in Deutschland geborene Franzosen sind, so wenig sind ihre jüdischen Mitbürger etwas anderes als Deutsche.
156Zit. nach : Oh Deutschland, wie bist du zerrissen, S. 225 f.
[6.18] Die nächsten Pflichten deutscher Politik
157Paul Anton de Lagarde – eigentlich Bötticher – (1827-1891), Orientalist und Kulturphilosoph, drückt in seinen Deutschen Schriften die Erwartungen und Frustrationen eines konservativen Bürgertums aus, das sich bald darauf in der alldeutschen Bewegung wiederfinden wird.
158[...] Der Letzte in Europa ist Rußland. Möge es die Gewogenheit haben, freiwillig einige fünfzig Meilen nach Mittelasien hinüberzurücken, wo Platz die Hülle und Fülle ist, der ihm zur Seite, uns aber ferne liegt : möge es uns soviel Küste am Schwarzen Meer geben, daß wir von da aus unsre Bettler und Bauern in Klein-Asien ansiedeln können. Die Gefälligkeit wird ohne Drohungen und Unfreundlichkeiten erbeten : Gegendienste stehn, soweit sie in unseren Kräften sind, zur Verfügung. Wir brauchen Land vor unserer Türe, im Bereiche des Groschen-Portos. Will Rußland nicht, so zwingt es uns zu einem Enteignungsverfahren, das heißt zum Kriege, zu dem wir so von alters her jetzt nicht vollständig aufzuzählende Gründe auf Lager halten. [...] Das von Rußland im Guten oder im Bösen zu erwerbende Land muß weitläufig genug sein, um in Bessarabien und nordöstlich von ihm auch alle in Österreich und der Türkei lebenden Rumänen (weniger der mit den Juden Polens, Rußlands und Österreichs nach Palästina oder noch lieber noch Madagaskar abzuschaffenden rumänischen Juden) als Untertanen des Königs Karl anzusiedeln. Diese Politik ist etwas Assyrisch, aber es gibt keine andere mehr als sie. Die Deutschen sind ein friedfertiges Volk, aber sie sind überzeugt von dem Rechte, selbst, und zwar als Deutsche, zu leben, und überzeugt davon, daß sie für alle Nationen der Erde eine Mission haben. Hindert man sie, als Deutsche zu leben, hindert man sie, ihrer Mission nachzugehen, so haben sie die Befugnis, Gewalt zu brauchen, wie ein Hausherr die Befugnis hat, wenn er vor seinem Hause das Gedeihen seiner Familie störende Elemente findet, diese Elemente in die Ferne zu befördern. Was ich über Österreich denke, habe ich schon oft auseinandergesetzt, und muß im dritten Abschnitte darauf zurückkommen : wenn Rußland und Frankreich uns zwingen im Harnisch in der Sonne zu stehen, während wir in der wollenen Jacke hinter dem Pfluge schreiten oder in der Werkstatt arbeiten wollen, wenn Rußland uns weigert, für Geld und gute Worte unsere und Österreichs Grenzen in der Richtung auf Kleinasien vorzuschieben, so werden wir darauf denken, uns selbst zu helfen, aber dann so gründlich, daß es auf lange vorhält : denn Kriege sind durchaus nicht in unserem Geschmacke, aber ein Krieg, der ordentlich geführt wird, macht einen zweiten, dritten und vierten unnötig. So sei es.
159In das so erworbene Land siedeln dann unsre lieben kleinen Leute über, dahin werden alle Waisen- und Armenhäuser verlegt, und das nichtsnutzige Kaufmannwerden in einem Lande, in welchem niemand kaufen kann, hört auf : Die Mannhaftigkeit der Nation wächst in der Stille wie die Buche im Walde, von biblischer Geschichte, Mistbeet-Patriotismus, Gartenlaube und Daheim unbehelligt. Dann braucht das Reich keine außergewöhnlichen Maßregeln mehr, um sich Einnahmen zu schaffen. Denn Heer und Flotte sind dann sehr klein, und neun Zehntel aller Deutschen lebt dann auf einer eigenen Hufe, wie seine Ahnen das taten, und schiert sich um allgemeine Bildung, Goldschnittliteratur und ähnlichen Unrat gar nicht [...]
160Paul de Lagarde, “Die nächsten Pflichten deutscher Politik” (1886). In : Deutsche Schriften. Jena 1944, S. 442 f.
[6.19] “Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat !”
161In seiner Rede vom 16. März 1885 im Reichstag ermahnt Reichskanzler Otto von Bismarck die polnische Fraktion zu Gehorsam und friedlicher Mitarbeit.
162[...] Ich glaube, daß die Herren aus den polnisch redenden Landesteilen überhaupt ihrem Interesse besser dienen würden, wenn sie die Regierung des Landes und des Reiches bis auf weiteres unterstützten. Sie können eben nur durch einen unglücklichen Krieg ihre außerhalb unserer staatlichen Existenz liegenden Ideale verwirklichen. Findet aber dieser unglückliche Krieg statt, dann werden die Herren ja doch davon profitieren ; und das gilt auch für andere zentrifugale Bestrebungen. Sie können ja den Erfolg des Krieges ruhig abwarten und können inzwischen der staatlichen Gemeinschaft, in der Sie sich nach Gottes Willen einstweilen befinden, nach dem Spruche : “Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat” – und das möchte ich namentlich auch den konfessionellen Fraktionen ans Herz legen – ruhig und ehrlich dienen. Der Vorteil, den Sie von einem unglücklichen Kriege für Ihre antistaatlichen Ideale haben können, der läuft Ihnen deshalb nicht weg.
163Wenn das deutsche Reich zertrümmert, wenn Preußen zerschlagen und niedergeworfen ist, ja dann kommt es nur darauf an, durch wen ; das heißt, ob unsere polnischen Provinzen einem anderen Reiche einverleibt werden, oder ob der Sieger ein solcher ist, der seinerseits ein Interesse an der Herstellung des Königreichs Polen hat ; im letzteren Falle wird er es ganz sicher herstellen, Sie mögen in der Zwischenzeit sich gegen die jetzige Regierung freundlich benommen und Ihren Landsleuten und Ihrem engeren provinziellen Gemeinwesen das Wohlwollen der jetzigen Regierung erworben haben oder nicht. Das wird sich dabei ganz gleich bleiben, und die Resurrektion des polnischen Gedankens wird dann ohne Ihr Zutun vom Auslande selbst gemacht werden ; denn es gibt ausländische Bestrebungen, denen eine Zerreißung der preußischen Monarchie, denen die Herstellung eines feindlichen Elementes in der Weichselgegend bis an die Oder heran Deutschland gegenüber von Nutzen erscheinen kann. Also warten Sie doch ruhig ab, bis der unglückliche Krieg gekommen und geführt ist, und enthalten Sie sich der Sünde, ihn an die Wand zu malen ; denn die Hoffnung, ihn dadurch zu beschleunigen und herbeizuführen, ist doch eine eitle, die wird sich nicht verwirklichen ! Die Regierungen sind sich in ihrem Interesse dazu zu klar, die Regierungen sowohl innerhalb Deutschlands wie außerhalb Deutschlands. [...]
164Verh. 6. Dt. RT, 68. Sitzung, S. 1855. - Zit. nach : Was ist des Deutschen Vaterland ?, S. 99 ff.
[6.20] Das Kissinger Diktat
165In diesem am 15. Juli 1877 diktierten Text hält Otto von Bismarck seine Gedanken über Lage, Ziele und Wege der deutschen Außenpolitik fest.
166Ich wünsche, daß wir, ohne es zu auffällig zu machen, doch die Engländer ermutigen, wenn sie Absichten auf Ägypten haben : ich halte es in unserem Interesse und für unsere Zukunft [für] eine nützliche Gestaltung, einen Ausgleich zwischen England und Rußland zu fördern, der ähnliche gute Beziehungen zwischen beiden, wie im Beginn dieses Jahrhunderts, und demnächst Freundschaft beider mit uns in Aussicht stellt. Ein solches Ziel bleibt vielleicht unerreicht, aber wissen kann man das auch nicht. Wenn England und Rußland auf der Basis, daß ersteres Ägypten, letzteres das Schwarze Meer hat, einig würden, so wären beide in der Lage, auf lange Zeit mit Erhaltung des status quo zufrieden zu sein, und doch wieder in ihren größten Interessen auf eine Rivalität angewiesen, die sie zur Teilnahme an Koalitionen gegen uns, abgesehn von den inneren Schwierigkeiten Englands für dergleichen, kaum fähig macht.
167Ein französisches Blatt sagte neulich von mir, ich hätte “le cauchemar des coalitions” ; diese Art Alp wird für einen deutschen Minister noch lange, und vielleicht immer, ein sehr berechtigter bleiben. Koalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Österreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht noch auf russisch-österreichisch-französischer ; eine große Intimität zwischen zweien der 3 letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfindlichen Drucke auf uns bieten. In der Sorge vor diesen Eventualitäten, nicht sofort, aber im Lauf der Jahre, würde ich als wünschenswerte Ergebnisse der orientalischen Krisis für uns ansehen : 1. Gravitierung der russischen und der österreichischen Interessen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin, 2. der Anlaß für Rußland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen Küsten zu nehmen, und unseres Bündnisses zu bedürfen, 3. für England und Rußland ein befriedigender status quo, der ihnen dasselbe Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, welches wir haben, 4. Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich wegen Ägyptens und des Mittelmeers, 5. Beziehungen zwischen Rußland und Österreich, welche es beiden schwierig machen, die antideutsche Konspiration gegen uns gemeinsam herzustellen, zu welcher zentralistische oder klerikale Elemente in Österreich etwa geneigt sein möchten.
168Wenn ich arbeitsfähig wäre, könnte ich das Bild vervollständigen und feiner ausarbeiten, welches mir vorschwebt : nicht das irgend eines Ländererwerbes, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden.
169Die Okkupation Ägyptens würde nach Englands Ansicht nicht hinreichen, um die Schwierigkeit wegen der Dardanellen zu heben : Das System des Doppelverschlusses mit den Dardanellen für England und dem Bosporus für Rußland hat für England die Gefahr, daß seine Dardanellenbefestigungen unter Umständen durch Landtruppen leichter genommen als verteidigt werden können ; das wird auch wohl die russische Mentalreservation dabei sein, und für ein Menschenalter sind sie vielleicht mit dem Schluß des Schwarzen Meeres zufrieden. Diese Frage bleibt Sache der Verhandlungen, und das Gesamtergebnis, wie es mir vorschwebt, könnte sich ebenso gut nach, wie vor den entscheidenden Schlachten dieses Krieges ausbilden. Ich würde es für uns als ein so wertvolles ansehn, daß es die damit wahrscheinlich verbundene Schädigung unserer Pontusinteressen überwiegen würde, abgesehen von der möglichen Sicherung der letzteren durch die Verträge. Auch wenn ein englisch-russischer Krieg sich nicht sollte verhüten lassen, würde meiner Meinung nach unser Ziel dasselbe bleiben, d. h. die Vermittlung eines beide auf Kosten der Türkei befriedigenden Friedens. pp.
170Die Große Politik der europäischen Kabinette. Bd. 2, Berlin 1927, Nr. 294. Zit. nach : Michael Stürmer, Die Reichsgründung, S. 166 ff.
[6.21] Motive für eine deutsche Kolonialpolitik
171Carl Peters (1856-1918), Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Verbandes und Gründer der Gesellschaft für deutsche Kolonisation im Jahre 1884, legt in diesem Text dar, warum er eine aktive Kolonialpolitik im Sinne einer Erweiterung des deutschen Lebensraums uneingeschränkt befürwortet.
172Das Motiv lag in der Entwicklung Deutschlands von der Gründung des Reiches an. Meine Generation hatte den Krieg von 1870/71 an der Schwelle der Mannheit miterlebt, die gewaltigen Eindrücke von Sedan und Versailles konnten nicht wirkungslos an unseren Herzen vorbeigehen. Für uns war das deutsche das kriegsstärkste Volk der Erde. Und wenn wir dann auf die Landkarten sahen und fanden, daß von allen europäischen Staaten dieses mächtige Land fast allein ohne jeden Kolonialbesitz war, oder wenn wir ins Ausland kamen und fanden, daß der Deutsche der Mindestgeachtete unter den Völkern Europas war, daß selbst Holländer, Dänen, Norweger mit Verachtung auf uns heruntersahen, dann mußte tiefe Beschämung unser Herz erfüllen und in der Reaktion sich auch bei uns der Nationalstolz emporbäumen.
173Ich habe solche Empfindungen von 1880-83, als ich nach Beendigung meiner Studien und Absolvierung aller meiner Examina einige Jahre in finanzieller Unabhängigkeit in England verbrachte, auf das leidenschaftlichste durchlitten, und aus ihnen heraus ist mir der feste Entschluß gekommen, meine ganze Kraft daranzusetzen, meinem Volk aus diesem öden Zustand herauszuhelfen.
174In ganz England ging mir die Rückwirkung einer großen Kolonialpolitik auch positiv auf. Ich erkannte, was die Wechselwirkung zwischen Mutterland und Kolonien handelspolitisch und volkswirtschaftlich bedeute und was Deutschland jährlich verliere dadurch, daß es seinen Kaffee, seinen Tee, seinen Reis, seinen Tabak, seine Gewürze, kurz, alle seine Kolonialartikel von fremden Völkern kaufen müsse; welchen Wert es für die einzelnen Persönlichkeiten in England habe, daß jeder in den Kolonien Gelegenheit finden könne, seinen Unterhalt zu verdienen und sich ein unabhängiges Vermögen zu machen, im Staatsdienst oder außerhalb desselben. Dies erschien mir das Wesentliche in der freien und stolzen Entwicklung im Gegensatz zu der Engherzigkeit und dem Strebertum, auf die man in Deutschland auf Schritt und Tritt stieß. In der Tat, der Vergleich fiel durchaus zugunsten der Fremden aus ; und ich gestehe, daß er es in erster Linie war, der mich zur deutschen Kolonialpolitik trieb [...]
175Zit. nach : Lesebuch zur deutschen Geschichte III, S. 51 f.
Notes de bas de page
1 1888 auf 5 Jahre verlängert.
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