Die Unzeitgemäße Verfassung : die Reichsverfassung von 1871
p. 130-144
Texte intégral
1Die Reichsverfassung von 1871 (RV) war in wesentlichen Punkten ein Dokument des Ausklammerns und Verschweigens. Mindestens ebenso wichtig wie dasjenige, was in ihr geregelt war, war dasjenige, was in ihr nicht geregelt war. Aber auch ihr positiver Inhalt war ein Dokument der Ungleichzeitigkeit : Hier standen fortschrittliche Ideen neben Passagen, welche hinter den Anforderungen ihrer Zeit und dem Stand der Verfassungsdiskussion weit zurückblieben.
I. Reichsgründung und Reichsverfassung
2Verfassungen organisieren, limitieren und teilen die Ausübung der Macht im Staat. Der Kampf um die Verfassung war damit stets der Kampf um die Teilhabe an der staatlichen Herrschaft. Im 19. Jahrhundert fand dieser Kampf in Deutschland – ebenso wie in die allermeisten anderen europäischen Staaten – zwischen zwei maßgeblichen Faktoren statt : Dem Adel, der in der Vergangenheit die politische Macht fast allein ausgeübt hatte, und dem erstarkenden Wirtschaftsbürgertum, welches immer lauter einen Anteil an der öffentlichen Gewalt verlangte. Dagegen wurden die nicht-besitzenden Schichten erst seit der Mitte des Jahrhunderts allmählich zu einem politischen Faktor. In den Verfassungskämpfen des 19. Jahrhunderts stand den Mächten der Beharrung das Bürgertum nicht homogen gegenüber. Vielmehr spaltete es sich in Deutschland in unterschiedliche politische Lager : Die Demokraten als radikalste, die Liberalen als größte und die Konstitutionellen als vermittelnde Gruppe. Politisch zersplittert waren nicht nur die Gruppierungen, sondern auch die von ihnen getragenen politischen Programme. Da waren die konstitutionelle, die bürgerlich-soziale und die nationale Verfassungsbewegung1. Wichtig in unserem Zusammenhang war der Konnex der drei Verfassungsbewegungen. Die nationale Bewegung war eine bürgerliche, die etwa so argumentierte : Wenn die Verhältnisse in den Einzelstaaten schlecht seien, so sei die Einigung zum Großen der Weg zur Beseitigung der Mängel im Kleinen. Die nationale Bewegung hatte so gegenüber dem konstitutionellen und dem bürgerlich-sozialen Anliegen auch instrumentelle Bedeutung : Sie war nicht bloß ein Ziel, sondern zugleich Weg zu anderen Zielen. Dieses historische Bündnis der bürgerlichen Verfassungsbewegungen fand seinen Höhepunkt in der Paulskirche (1848/49). Hier schien sie dem Erfolg nahe, und hier erlitt sie ihre größte Niederlage2. Das lag nicht nur an äußeren Faktoren. Es lag auch an den inneren Widersprüchen der nationalen Bewegung selbst. Das Problem Österreich spaltete die nationale Bewegung. Da war der Kampf um die “großdeutsche” und die “kleindeutsche” Lösung. Und da war ihre Unentschlossenheit. Die Nation war eben auch nur ein instrumenteller Wert. So betrieben Angehörige fortschrittlicher Länder die Einheit nur mit halbem Herzen, wenn sie eine Dominanz der rückständigeren Länder fürchteten.
3Im Jahre 1871 war es gerade nicht die bürgerlich-nationale Bewegung, welche die Einheit hervorbrachte. Zwar resultierte die Reichsgründung letztlich aus den genannten Verfassungskämpfen. Doch wurde sie nicht von den Bürgern erkämpft. Sie war vielmehr ein Resultat des noch jungen preußischen Verfassungskonflikts (1862-1867)3. Er war eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Machtprobe im Verfassungskompromiß des Hochkonstitutionalismus. Dabei ging es um eine einfache Frage : Nach Art. 62 der Preußischen Verfassung von 1850 bedurfte der Haushalt wie jedes Gesetz der Zustimmung von König, Erster und Zweiter Kammer. Sie repräsentierten das monarchische, das adelige und das bürgerliche Element. Die Verabschiedung des Haushalts konnte nur im Konsens aller drei politisch relevanten Gruppierungen erfolgen. Im Jahre 1862 kam diese Übereinstimmung ausgerechnet um den wichtigen Militärhaushalt nicht zustande. Die Zweite Kammer lehnte die geplante Vergrößerung des stehenden Heeres ab, umgekehrt bestanden Erste Kammer und Monarch gerade auf der Vergrößerung. Damit entstand die Frage, wie zu verfahren war, wenn man ein Heer brauchte, aber keinen Heeresetat hatte. Bekanntlich nahm der Monarch den Kampf auf : Er ernannte Bismarck zum Kanzler, löste die Zweite Kammer auf und regierte auf der Grundlage des nie beschlossenen Haushalts. Dafür berief man sich auf juristische Argumente, welche formal vielleicht zutrafen, den Sinn der Verfassung aber auf den Kopf stellten. Das Verhalten der Regierung war eine Herausforderung der Volksvertreter und des Volkes. Um die Unterstützung des Volkes und die Legitimation der Regierung wiederzugewinnen, nahm Bismarck eine Idee auf, die seinem Denken bis daher eher fremd gewesen war : Die Reichseinigung. Ihr entsprang der Kampf gegen Dänemark und derjenige gegen Österreich ; und ihr nutzte der Kampf gegen Frankreich.
4Durch seine Politik gewann Bismarck, was er zuvor nicht gewollt hatte : Nämlich das Deutsche Reich. Und er gewann etwas anderes, was er gewollt hatte : Nämlich die Zustimmung der meisten Bürger zu seiner Politik und seiner Person. Letzteres war eine politische Meisterleistung : Der Politik Bismarcks gelang die Spaltung der bürgerlichen Bewegung. Er spaltete die nationale von der rechtsstaatlichen und der bürgerlich-sozialen Bewegung ab und zog sie in das Lager der alten Mächte herüber. Die Reichsgründung war so ein Werk von Adel und nationalem Bürgertum. Sie war ein strategischer Sieg des Adels über die rechtsstaatlichen und sozialen Forderungen der Bürger. Und dabei hatten ihm diejenigen bürgerlichen Kräfte assistiert, für welche die Nation eben kein bloß instrumentelles, sondern ein eigenständiges Ziel war. Sie nahmen die Nation nicht als Basis politischer Reformen, sie nahmen die Nation statt politischer Reformen. Das war das Gegenteil der Forderungen von 1848.
5War die Reichsgründung von 1871 kein Erfolg der bürgerlichen Bewegung gewesen, so war es erst recht nicht die Reichsverfassung von 1871. Sie war nämlich in allen wesentlichen Bestandteilen schon zuvor vorhanden gewesen, und zwar als Verfassung des Norddeutschen Bundes (1867)4. Dieser Bund war keine Nation, und es hatte in ihm auch keine Einigungsbewegung gegeben. Er war vielmehr eine Frucht erfolgreicher preußischer Hegemoniepolitik gegen Osterreich gewesen. Nach der Formulierung der Präambel der Reichsverfassung wie nach Auffassung der meisten Zeitgenossen glich die deutsche Einigung eher einem Beitritt der süddeutschen Länder zum norddeutschen Bund als der Gründung eines neuen Staates5. Indem die Verfassung des Norddeutschen Bundes weitgehend unverändert zur Reichsverfassung wurde, war der Kontext von bürgerlicher Verfassungsbewegung und neuer Verfassung demnach vollständig gelöst.
6Von daher läßt sich die prinzipielle Einordnung der Reichsverfassung von 1871 in den deutschen verfassungsgeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhunderts vornehmen. Grundsätzlich war die Reichsverfassung das Gegenteil der zeitgenössischen Verfassungsforderungen und insbesondere das Gegenteil der Verfassung der Paulskirche. Die Forderungen der Bürger wurden so weit wie möglich ausgeklammert6. Ganz gleich, welche bürgerliche Verfassungsforderung man heranzieht : Stärkung der gewählten Kammem, Kontrolle der Regierungen durch die Kammern, Verbesserung des Grundrechtsschutzes und Stärkung der Justiz : Auf nahezu alle diese Anliegen enthielt die Reichsverfassung keine positive Antwort. Zwar enthielt sie auch keine negative Antwort. Sie ging über jene Forderungen einfach stillschweigend hinweg. Dies gelang aber nicht vollständig. Dafür waren zwei Ursachen maßgeblich. Da waren zunächst die liberalen Länder, insbesondere im Südwesten. Sie wollten ihre verfassungspolitischen Errungenschaften nicht einfach preisgeben. Von daher mußten ihnen einzelne Konzessionen gemacht werden. Das Reich bestand eben nicht nur aus konservativen Junkerherrschaften wie etwa Ostpreußen oder den beiden Mecklenburgs. Und deshalb konnte auch das Reich sich nicht ausschließlich an seinen konservativen Elementen orientieren. Und dann waren da auch noch jene Bürger, welche an den alten Forderungen festhielten. Ihnen sollten gleichfalls einzelne Konzessionen gemacht werden, um ihnen die Integration in das Reich zu ermöglichen. Das heißt : Die Reichsverfassung war nicht vollständig, sondern nur grundsätzlich als negative Antwort auf bürgerliche Forderungen angelegt. Doch integrierte sie auch einzelne Spurenelemente fortschrittlicher Ideen. So standen wenige zeitgemäße und viele unzeitgemäße Elemente in der Verfassung nebeneinander. Altes und Neues standen unverbunden nebeneinander. Von daher wies die Verfassung Züge einer gewissen Ungleichzeitigkeit auf. Dabei überwogen allerdings bei weitem die rückwärtsgewandten Elemente.
II. Grundideen der Reichsverfassung
7Schon äußerlich war die Reichsverfassung7 als Gegensatz zur Verfassung der Paulskirche, aber auch zur Preußischen Verfassung von 1850 und zur Verfassung Österreichs von 1849 konzipiert. Die zuletzt genannten Verfassungen hatten die Phase des Hochkonstitutionalismus eingeleitet. Zwar entstammten sie unterschiedlichen historischen Phasen und Lagen, doch zeichneten sie sich gegenüber früheren konstitutionellen Verfassungen durch eine Reihe charakteristischer Besonderheiten aus. Hier kann nicht dargestellt werden, was die Besonderheiten gerade des Hochkonstitutionalismus waren. Doch bleibt festzuhalten : Die Reichsverfassung von 1871 erreichte diesen Stand nicht8. Das zeigten schon Äußerlichkeiten. Hochkonstitutionelle Verfassungen waren ausführlich, die RV hingegen vergleichsweise kurz. Das war nicht nur ein ästhetischer Unterschied. Vielmehr läßt dies auch auf inhaltliche Differenzen schließen. Die Grundidee konstitutioneller Verfassungen lag nämlich in ihrer limitierenden Funktion: Die Verfassungen sollten den Staat nicht so sehr von innen heraus organisieren, sondern von außen begrenzen9. In diesem Sinne enthielten ausführliche Verfassungen zahlreiche Bestimmungen, um der Staatsgewalt Bindungen aufzuerlegen. An solchen Bestimmungen fehlte es hingegen der RV weitgehend. Ihre Kürze war nicht nur Ausdruck fehlenden Regelungsbedarfs, sie war zugleich Ausdruck fehlenden Bindungswillens. Der Staatsgewalt, wo auch immer sie beim Reich vorhanden war, sollten möglichst geringe Bindungen angelegt werden ; anders ausgedrückt : Sie sollte sich so frei wie möglich entfalten können. Das war nicht Verwirklichung des Sinnes konstitutioneller Verfassungen ; das war dessen Verfehlung.
8Hier sind allerdings Relativierungen anzubringen. Alles Recht antwortet nur auf einen vorhandenen Regelungsbedarf. Wo Machtfragen entschieden sind oder die Wege der Machtausübung und Entscheidungsbildung ohnehin feststehen, bedarf es keiner rechtlichen Regelung. Dies war bei der Reichsgründung in mehrfacher Hinsicht der Fall. Da war zunächst die Person Bismarcks als überragender Staatsmann. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes wie diejenige des Reiches waren derart auf ihn zugeschnitten, daß sie vielfach nach ihm genannt wurde. Indem die Verfassung auf ihn und seinen Kaiser zugeschnitten war, stellten sich zahlreiche Fragen und damit Regelungsbedürfnisse gar nicht. Und dementsprechend enthielt die Verfassung denn auch keine Regelung. So politisch naheliegend dies war, so sehr verfehlte es doch den Sinn des Verfassungsrechts. Dessen Sinn besteht nicht zuletzt darin, Regelungen für Institutionen ohne Ansehen konkreter Personen zu treffen. Denn Verfassungen sollen das Funktionieren von politischen Einheiten auch über einzelne Personen hinaus garantieren. Weiter war da die entschiedene Machtfrage. Mit der Niederlage im Preußischen Verfassungskonflikt und ihrer Ausschaltung aus dem Prozeß der Reichsgründung stellte sich die Reichsverfassung gerade nicht als das dar, was sonstige zeitgenössische Konstitutionen waren : Nämlich als Dokumente bürgerlicher Erfolge im politischen Machtkampf. Und demnach ging es auch nicht darum, solche Erfolge möglichst konkret festzuschreiben. Und schließlich war da das Empfinden mangelnden Regelungsbedarfs. Das Reich hatte vergleichsweise wenig Kompetenzen, und diese lagen überwiegend auf dem Gebiet der Gesetzgebung. Hingegen banden Grundrechte nach zeitgenössischer Vorstellung in Deutschland ganz überwiegend die Vollziehung. Wenn die Exekutive aber nahezu allein Ländersache sei, so brauche man im Reich auch keine Grundrechte. Diese Idee war historisch nicht völlig neu. Sie hatte schon einem älteren Verfassungswerk zugrunde gelegen : Nämlich der Verfassung der USA von 1783. Die amerikanische Verfassung war aber sicherlich kein Vorbild der RV. Und die genannte Idee hatte sich dort schon im 1. Amendment zur Amerikanischen Verfassung als unzutreffend erwiesen.
1. Der unvollendete Bundesstaat : Das föderalistische Prinzip
9 Das deutsche Reich war zuerst ein Bundesstaat. Das Konzept des Bundesstaates ist in Deutschland nur auf der begrifflichen Ebene einigermaßen konsistent gewesen. In der politischen Realität war es nahezu stets schwankend. Das Konzept von 1871 war in diesem Sinne ausgesprochen unausgewogen. Es basierte auf dem Gedanken einer Minimalisierung der staatlichen Einheit. Das war nicht der Gedanke der Subsidiarität. Grundlage und Grundproblem war das Phänomen Preußen. Das deutsche Reich – und erst recht der Norddeutsche Bund – war letztlich eine preußische Gründung gewesen. Die Intentionen Preußens waren dabei naheliegend : Es wollte bei der Einigung gewinnen und nicht verlieren, seinen Einflußbereich vergrößern und nicht verkleinern. Und das heißt : Preußen wollte so wenig Macht wie möglich an das Reich abgeben und so viel wie möglich selbst behalten. Diese Grundidee entsprach der Intention der anderen deutschen Staaten. Sie wollten auch so wenig Macht wie möglich abgeben, schon um die Übermacht Preußens nicht noch mehr zu vergrößern. Das Reich war seiner Organisation nach ein unvollendeter Bundesstaat. Unvollendet war insbesondere die Verselbständigung des Reiches. Es war von seinen Kompetenz her schwach ausgestaltet, von seiner Organisation her kompromißhaft fundiert und von seinen Einnahmen her nur unzureichend vorhanden : Über ausreichende eigene Erträge aus Abgaben verfügte es nicht (Art. 70 RV). Vielmehr war es darauf angewiesen, sich als Kostgänger der Länder von diesen mitfinanzieren zu lassen. Würde man das Reich allein nach der Reichsverfassung von 1871 betrachten, so bliebe die deutsche Einheit eine unvollkommene Staatsgründung mit eng begrenzten Kompetenzen und schwach ausgeprägter institutioneller Eigenständigkeit. Und wo die Reichseinrichtungen einmal stark waren, waren sie nicht stark, weil sie Reichseinrichtungen waren, sondern weil sie – zugleich – preußische Einrichtungen waren. Das zeigte sich in Ministerien, Behörden und beim Militär.
10Die Schwächung des Reiches geschah insbesondere auf zwei Weisen. Da waren einerseits die Sonder- und die Reservatrechte der süddeutschen Staaten. Sie standen partiell nicht in der RV, sondern lagen ihr schon voraus10. Wichtige Zuständigkeiten des Reiches – nicht zuletzt auf militärischem Gebiet – galten in den süddeutschen Ländern nicht oder nur mit Einschränkungen. Sie behielten also einen Teil der Hoheiten, die anderswo das Reich wahrnahm. Das war gewiß wichtig, sollte sich aber in der Folgezeit nicht als Hauptproblem darstellen. Wichtiger waren andere Tendenzen:
11Die mangelhafte Kompetenzausstattung des Reiches und die preußische Hegemonie. Das Reich war ein Corpus ohne Unterbau. Es verfügte zwar über eine eigene Gesetzgebung und auch eine eigene Justiz. Aber diese hatten nur wenige Zuständigkeiten. Sie waren in der Verfassung aufgezählt und ursprünglich wohl abschließend gemeint. Nur in diesem schwachen Rahmen sollte das Reichsrecht denn auch dem Landesrecht vorgehen (Art. 2 S. 1 RV). Doch schon vier Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung zeigte sich bei der Gründung der Reichsbank, daß auf ungeschriebene Reichskompetenzen zurückgegriffen werden mußte. Diese Entwicklung deutet bereits einen Grundzug der Geschichte des Reiches bis 1918 an : Sie vollzog sich im Rahmen der Verfassung, aber immer mehr auch im Rahmen der Lücken der Verfassung. Die Entwicklung des Reiches war vom Verfassunggeber ganz sicher nicht so gewollt, aber ebenso sicher auch nicht verhindert worden. Ähnliches galt auch hinsichtlich der preußischen Hegemonie. Die RV hatte eigene Reichsorgane lediglich auf den Gebieten der Legislative und der Justiz vorgesehen. Insbesondere auf dem immer wichtiger werdenden Gebiet der Exekutive sollten die Reichsangelegenheiten von Preußen – und in geringem Umfang von den anderen Ländern – nebenbei miterledigt werden. Der König von Preußen war nebenbei Kaiser (Art. 11 RV), der preußische Kanzler regelmäßig nebenbei Reichskanzler11, die Landesregierungen nebenbei Reichsorgane im Bundesrat (Art. 6 RV). Das Reich hatte keine eigene Eisenbahn (Art. 41 ff RV), aber immerhin eine eigene Post (Art. 48 ff RV), ein eigenes Heer (Art. 63 RV) und eine eigene Marine (Art. 53 RV). Aus solchen und anderen Ansätzen entwickelten sich in der Folgezeit die obersten Reichsämter, welche sich immer mehr einer eigenständigen Regierung annäherten.
12Wichtigstes Organ einer Verschränkung von Reich und Ländern war sicherlich der Bundesrat (Art. 6 ff RV). Funktionell war er Organ der Gesetzgebung (Art. 5 RV), der Vollziehung (Art. 7 RV) und Schiedsorgan bei bestimmten Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern (Art. 19 RV) zugleich12. Seine Kompetenzfülle wie seine Zusammensetzung machten ihn zugleich zu dem zentralen Organ, in welchem die Machtverhältnisse zwischen dem Reich, dem größten Einzelstaat Preußen und den anderen Ländern austariert werden sollten. Insbesondere seine Zusammensetzung sollte die damit zusammenhängenden schwierigen Vermittlungsaufgaben organisieren. Er bestand aus “Vertretern der Mitglieder des Bundes”, also der monarchischen Regierungen der Einzelstaaten. Das Stimmenverhältnis war nach der Größe der jeweiligen Länder abgestuft, wobei die kleinsten proportional über-, die größten dagegen unterrepräsentiert waren. Desungeachtet war der Bundesrat ein Organ der preußischen Hegemonie. Der Reichskanzler nahm zugleich in seiner Funktion als preußischer Außenminister den Vorsitz ein (Art. 15 RV). Preußen hatte mit Abstand die größte Stimmenzahl (knapp 30) und konnte zusätzlich kleinere Staaten regelmäßig dazu veranlassen, mit ihm zu stimmen, was seinen faktischen Anteil vergrößerte13. Und es hatte ein Vetorecht bei Verfassungsänderungen (Art. 78 RV). Aber der größte Einzelstaat konnte die anderen auch nicht nach Belieben majorisieren. Denn gemeinsam stand auch den süddeutschen Ländern Bayern, Sachsen und Württemberg ein Vetorecht zu.
13Die deutsche Nation fand in der Reichsverfassung nur einen unvollkommenen Ausdruck. So stark der nationale Gedanke war, so schwach war in der Verfassung sein staatlicher Ausdruck. Das Reich war eben keine Gründung der Nation “von unten”, sondern eine solche “von oben”. Es war nach seiner Verfassung als Kompromiß zwischen Staatenbund und Bundesstaat konzipiert. Ort der Erhaltung und Vermittlung dieses Kompromisses war der Bundesrat. Seine politische Bedeutung war Indiz für den Zustand des Bundesstaates. Daß jene Bedeutung in der Folgezeit tendenziell abnahm, zeigte aber auch : In der Praxis stellte sich die Entwicklung anders dar, als sie in der Verfassung angelegt schien. Die Entwicklung ging nicht hin zum Reich im Schlepptau Preußens, sondern zu Preußen im Schlepptau des Reiches. Die Gründung des Reiches war der Anfang vom Ende Preußens.
2. Gewaltenteilung : Konstitutionelle Gesetzgebung
14Der staatsrechtliche Konstitutionalismus war ein Kompromiß zwischen monarchischem, aristokratischem und demokratischem Prinzip. In der Frühzeit hatte man noch Reste des alten monarchischen Prinzips angetroffen : “Der König ist das Haupt des Staates, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den durch die Verfassung festgesetzten Bedingungen aus” (§ 4 Württembergische Verf. von 1817). Das war noch die alte Fürstensouveränität gewesen, wie sie sich im Absolutismus herausgebildet hatte. Dementsprechend beschränkten sich die “durch die Verfassung festgesetzten Bedingungen” auf Beratung und “Beistimmung’ (§ 88 ebd.). Anders ausgedrückt : Die Kammern hatten damals an der Staatsgewalt noch nicht teilgehabt. Sie hatten ihr nur Grenzen ziehen können.
15Dies hatte sich im Hochkonstitutionalismus geändert. Darin lag eine der zentralen Entwicklungen innerhalb des zeitgenössischen Systems. “Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammem ausgeübt.” (Art. 62 Preußische Verfassung 1850). Es war eben nicht mehr der Monarch allein, welcher die Staatsgewalt innehatte. Diese war vielmehr zwischen ihm und den Kammern geteilt. Aber sie war nicht vollständig verteilt. Die Kammern nahmen nicht an der ganzen Staatsgewalt, sondern nur an der Gesetzgebung teil. Grundlage des konstitutionellen Systems war demnach die Idee der Gewaltenteilung. Ihr Grundelement war die Aufteilung der Legislative auf mehrere soziale Träger : Monarch, Adel, Bürgertum. Das war erneut eine Ausprägung der Idee der Gewaltenteilung. Wahrscheinlich läßt sich kaum ein anderes politisches System finden, in welchem die Ideen der Gewaltenteilung derart exakt abgebildet sind wie der Konstitutionalismus. Es gehört nicht zu den RuhmesbIättern der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, dies entweder nicht erkannt oder zumindest nach außen verschwiegen zu haben. Allerdings waren jene Ideen nicht unmittelbar aus Frankreich übernommen worden. Sie kamen nach Deutschland auf dem Umweg über die Belgische Verfassung von 1831, welche in vielen Punkten Vorbild für die deutschen Verfassungen wurde.
16Die Reichsverfassung erging in dem Moment, in welchem das System von Gewaltenteilung und Kooperation in seine tiefste Krise geraten war : Nämlich unmittelbar nach der Beilegung des schon geschilderten preußischen Verfassungskonflikts. Von daher liegt es nahe, daß sie die dargestellten Zusammenhänge nur sehr undeutlich dargestellt hat. So nannte sie die Rechte des Kaisers nicht mehr in einer Generalklausel — wie noch § 4 Württembergische Verf. von 1817 —, sondern zählte sie enumerativ auf (Art. 11 ff RV). Weiter bestimmte sie über die erste Gewalt : “Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrat und den Reichstag. Die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend.” (Art. 5 RV). Damit ging die Reichsverfassung über andere konstitutionelle Verfassungen hinaus. Ein eigenes Vetorecht des Kaisers war in ihr nicht enthalten. Das Staatsoberhaupt wirkte an der Gesetzgebung lediglich mittelbar durch den ihm verantwortlichen Reichskanzler mit14. Staatsrechtlich kam ein Gesetz demnach zustande, wenn Bundesrat und Reichstag übereinstimmten. Dabei kam der Volksvertretung, dem Reichstag, die schwächste Position zu. Sie war die zweite und letzte Kammer. Sie konnte vom Kaiser einberufen, vertagt und mit Zustimmung des Bundesrates aufgelöst werden (Art. 24 ff RV). Und sie lebte in dem Bewußtsein der Niederlage im Verfassungskonflikt. Zu einer ähnlichen Konfrontation zwischen Volksvertretung einerseits und den übrigen Staatsorganen andererseits ist es in der Folgezeit nie mehr gekommen.
17Aber der Reichstag war nicht bloß rückständig und schwach. Er verfügte zugleich über ein ungeahntes Modernisierungspotential. Das lag an seinem Wahlrecht15. Das Parlament des deutschen Reiches war nahezu die erste Volksvertretung in Deutschland und Europa, welches aus allgemeinen, freien, geheimen und gleichen Wahlen hervorging. Insbesondere der Grundsatz der Wahlgleichheit unterschied sich fundamental von den andernorts noch anzutreffenden Zensus- oder Klassenwahlrechten. Hier war schon sehr früh der Gedanke staatsbürgerlicher Gleichheit trotz wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit festgeschrieben. Wahlberechtigt waren alle Männer ab dem vollendeten 25. Lebensjahr. Die Reichstagswahlen waren als Mehrheitswahlen in Wahlkreisen organisiert. Gewählt war, wer die absolute Mehrheit der Stimmen in einem Wahlkreis errang. Gelang dies keinem Bewerber, so fand eine Stichwahl statt. Gewiß war dies primär rechtliche Gleichheit. Bis zur vollständigen Chancengleichheit aller Bürger war es noch weit. Die Wahlkreise wurden nach der Reichsgründung nie mehr angepaßt, so daß die sich rasch vergrößernden Städte – wie etwa Berlin – benachteiligt, das Land hingegen bevorzugt war. Dann war da die Logik der Stichwahlen. Sie begünstigte Bewerber und Parteien der politischen Mitte, welche im zweiten Durchgang eher als Kompromißkandidaten in Betracht kamen als Kandidaten der Flügelparteien. Und schließlich fanden sich nicht selten Versuche, den Wahltag in die Arbeitszeit zu legen, so daß die Arbeitnehmer nicht oder nur unter Schwierigkeiten zur Abstimmungen kommen konnten. Aber dies alles änderte nichts daran : Das Reichstagswahlrecht war ein fortschrittliches Wahlrecht und wurde auch als solches angenommen. Das zeigte die Wahlbeteiligung : Sie begann bei 50 % (1871) und stieg fast kontinuierlich auf 84,5 % (1912) an. Seit 1887 lag sie nur noch einmal unter 70 %. Ganz anders verhielt es sich in Preußen, wo nach dem Drei-Klassen-Wahlrecht abgestimmt wurde. Dort verharrte die Beteiligung in der dritten Klasse stets auf einem niedrigen Niveau und sank um die Jahrhundertwende auf gut 20 % ab. Die Ursachen des vergleichsweise überaus modernen Reichstagswahlrechts liegen sicherlich nicht primär in der fortschrittlichen Haltung der Staaten. Sie war eine Folge der preußischen Politik gegenüber Österreich in den sechziger Jahren und nicht zuletzt eine der erwähnten Konzessionen an die süddeutschen Länder.
18Faktisch hat sich die Bedeutung der Volksvertretung im Rahmen der Verfassung bis zum Ende der Monarchie ständig vergrößert. Der Grund lag in einer erheblichen Zunahme der Gesetzgebungstätigkeit. Die Verfassung wies dem Reich zwar nur begrenzte Gesetzgebungsrechte zu. Doch bezogen sie sich auf Materien, welche in der Folgezeit an Bedeutung zunahmen : Zoll, Handel, Gewerbe, Geld und Währung und andere mehr (Art. 4 RV)16. Auf diesen Gebieten entfaltete das Reich eine rege Gesetzgebungstätigkeit.
19Und wo ein Gesetz erging, war auf den Reichstag Rücksicht zu nehmen. Dadurch verschoben sich die Gewichte unter den Staatsorganen. Faktisch emanzipierte sich die Volksvertretung in der Folgezeit zum zentralen politischen Gegenspieler der Regierung. Auch dies war in der Verfassung nicht angelegt, aber auch nicht untersagt.
3. Die unvollkommene Modernisierung : Monarchische Exekutive
20Die Exekutive war in der Reichsverfassung nur ansatzweise geregelt. Passagenweise las sich der Text sogar so, als sei der Monarch nicht bloß oberstes Organ der Staatsgewalt gewesen, sondern habe diese zugleich selbst ausgeübt. Das entsprach in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in keinem größeren europäischen Staat der politischen Wirklichkeit. Doch bleibt festzuhalten : Durch die Regelungsabstinenz der Reichsverfassung war der Kaiser nur unzureichend in das konstitutionelle System eingebunden. Sie war unschädlich, solange er selbst seine Grenzen erkannte. Sie war problematisch, als Wilhelm II. immer wieder Versuche unternahm, in die aktive Politik einzugreifen. Hier zeigte sich insbesondere, daß die Stellung der Reichsregierung in der Verfassung zu wenig geklärt war. Der Reichskanzler war zwar erwähnt, aber über eine klar umrissene Rechtsstellung verfügte er gegenüber seinem Monarchen nicht. Das war in den Jahren 1867/71 auch gar nicht nötig gewesen, da sich eine selbstverständliche Arbeitsteilung zwischen Wilhelm I. von Preußen und Kanzler Bismarck herausgebildet hatte17. Die Probleme begannen, als beide nicht mehr amtierten. Auch hier verfehlte die Reichsverfassung ihren Zweck, Institutionen unabhängig von konkreten Personen zu stabilisieren.
21Das Reich verfügte nicht einmal über eine eigene Regierung18. Die Verfassung erwähnte nur den Kanzler. Er war Vorsitzender des Bundesrates (Art. 15 RV), der ursprünglich nebenbei Regierungsfunktionen haben sollte. Er zeichnete Anordnungen und Verfügungen des Kaisers gegen und übernahm dadurch die politische Verantwortung (Art. 17 RV). Und er vertrat diese im Reichstag. Der Reichskanzler wirkte danach wie der oberste Berater des Monarchen. Dementsprechend wurde er allein vom Kaiser ausgewählt, ernannt und entlassen. Die beiden Kammern wirkten daran bis 1918 nicht mit. Zugleich bewirkten die Inkompatibilitätsnormen der Art. 9 S. 2 ; 21 Abs. 2 RV, daß Mitglieder des Reichstags von der Kanzlerschaft ausgeschlossen waren. Es gab also keine rechtlich gesicherten Einwirkungsmöglichkeiten der Volksvertretung auf das Exekutivpersonal. Nach der Reichsverfassung war der Kanzler der einzige Minister, eine Reichsregierung gab es nicht. Der Grund hierfür lag am ehesten darin, daß es auch eine Reichsexekutive nur in Spurenelementen gab. Das Reich hatte eigentlich nur zwei wesentliche Zweige der Vollziehung : Das Militär – und hier insbesondere die Marine – und die Reichspost. Von diesen unterstand das Militär dem Kaiser persönlich (Art. 53, 63 RV). Es war damit den Einwirkungsmöglichkeiten der Reichsregierung ebenso entzogen wie denjenigen des Reichstags. Beide waren nur für den Haushalt der Reichswehr zuständig. Hier waren mehr als Restbestände eines persönlichen monarchischen Regiments vorhanden. Der Stellenwert des Militärischen für die Stellung des Kaisers läßt sich am ehesten daran ablesen, daß die Generäle zumeist wesentlich häufiger Zutritt zum Monarchen hatten als der Reichskanzler.
22Der Kanzler war also weitgehend auf den zivilen Sektor begrenzt. Hier bestand die Reichsexekutive aus dem Reichskanzleramt und einer langsam zunehmenden Zahl weiterer Reichsämter : Auswärtiges Amt, Eisenbahnamt, Postamt, Justizamt, Schatzamt, Marineamt. Sie waren dem Kanzleramt rechtlich nachgeordnet und wurden von weisungsabhängigen Beamten – den Staatssekretären – geleitet. Eine Reichsregierung mit einem Kollegialprinzip gab es nicht. In der Exekutive leitete der Reichskanzler seine Stärke daraus her, daß er zugleich preußischer Außenminister und – abgesehen von drei kurzfristigen Ausnahmen – stets preußischer Kanzler war. So leitete er nicht nur die bescheidene Reichsexekutive, sondern zugleich diejenige des weitaus größten Landes. Dieses verfügte seinerseits über eine voll ausgebaute Regierung mit allen wichtigen Ministerien, dem Kollegial- und dem Ressortprinzip. In Preußen besaß der Kanzler keine herausgehobene Stellung, er war im Kabinett einer unter gleichen. Damit war der Kanzler im Reich, wo die Exekutive schwach war, staatsrechtlich stark, in Preußen, wo die Exekutive stark war, staatsrechtlich schwach. Zur Verbesserung der Effektivität der Verwaltung wurden mehrfach Staatssekretäre im Reich zugleich zu preußischen Ministern ernannt. Dies verminderte die Reibungsflächen zwischen den beiden Berliner Regierungen, erhöhte aber die Spannungsfelder im Kabinett. Denn nun wurden die nachgeordneten Beamten des Reichskanzlers in Preußen zugleich seine Kollegen.
23Der öffentliche Dienst nahm im Kaiserreich eine ambivalente Entwicklung19. Da war einerseits der Fortbestand des traditionellen, monarchisch orientierten Berufsbeamtentums. Die Beamten waren regelmäßig besonders ausgebildet, in den höheren Funktionen hatten sie zumeist Jura studiert. Die lange Laufbahn, die wenig attraktive Bezahlung, die hohen Erwartungen an eine “standesgemäße” Lebensführung und eine fortdauernde Ämterpatronage prägten die Karrieren. In den höheren Positionen war der Adel deutlich überrepräsentiert, während der bürgerliche Anteil durch das Leistungsprinzip langsam, aber unterproportional anstieg. Besonderer Wert wurde auf Homogenität des öffentlichen Dienstes gelegt. Soziale Aufsteiger aus den unteren Schichten hatten es schwerer, politisch oppositionell denkende oder konfessionellen Minoritäten angehörende Bewerber waren stark benachteiligt, Sozialdemokraten und Juden vom öffentlichen Dienst praktisch ausgeschlossen. Dagegen nahm die Bedeutung der nicht juristisch-bürokratischen Tätigkeiten in der Verwaltung erheblich zu. Ingenieure, Techniker, Ärzte, Armen- und Krankenpfleger zogen in den öffentlichen Dienst ein und trugen so zu einer erheblichen Vermehrung von Laufbahnen und Karrieren bei. Noch wenig bemerkt, nahm der bürokratische Sektor an Bedeutung tendenziell ab, der dienstleistende Sektor der staatlichen Daseinsvorsorge unaufhaltsam zu. Dies machte sich zwar an der Spitze der Laufbahnen noch nicht bemerkbar : Hier dominierten weitgehend die alten Karrrieremuster. Aber in der Breite zeigte sich ein unaufhaltsamer Strukturwandel.
24Die politische Entwicklung des Reiches nahm auch auf dem Gebiet der Exekutive partiell einen anderen Verlauf, als es in der Verfassung anlegt war. Die Länder waren weder 1867 noch 1871 noch später bereit, nennenswerte Kompetenzen an das Reich abzugeben. Neue Zuständigkeiten des Reiches entwickelte sich am ehesten, wenn neue Staatsaufgaben entstanden. Solche waren als Folge der innen- und außenpolitischen Entwicklung nicht selten. Sie fanden sich etwa im Marine-, im Kolonial- und im Justizbereich, aber auch im staatsrechtlich äußerst konfliktträchtigen Elsaß-Lothringen. Gravierende Gewichtsverschiebungen brachte der Weltkrieg. Hier traf sich eine massive Vergrößerung des staatlichen Sektors mit einer parallelen Steigerung der Bedeutung des Militärs. Das Zusammentreffen beider Tendenzen führte zu einem erheblichen Aufgabenzuwachs des Reiches.
4. Rechtseinheit unterhalb der Verfassung : Die Justiz
25Justizfragen waren im 19. Jahrhundert ein zentraler Gegenstand der bürgerlichen Verfassungsbewegung gewesen. Wenn schon die Bürger im Staat nur bescheidene Rechte hatten, so sollten diese von unabhängigen Richtern geschützt werden. Nur leicht übertrieben ließe sich sagen : Die bürgerliche Bewegung in Deutschland wollte für ihre Rechte nicht selbst kämpfen, sondern diesen Kampf von anderen, eben den Richtern, führen lassen.
26Diese bürgerliche Forderung war wohl diejenige, welche in der Reichsverfassung am wenigsten berücksichtigt wurde. Die Justiz war dort gar nicht mit einem eigenen Abschnitt bedacht worden. Bezeichnenderweise erwähnte Art. 77 RV zwar den Fall der Justizverweigerung, aber nicht denjenigen der Justizgewährung. Doch stand dem Reich gem. Art. 4 Nr. 13 RV die Gesetzgebung über das “gerichtliche Verfahren” zu, und der Bundesrat bildete nach Art. 8 Nr. 6 RV einen ständigen Ausschuß für das Justizwesen. Immerhin schon sechs Jahre nach der Reichsgründung traten die Reichsjustizgesetze in Kraft, welche dem Reich sein erstes Gericht, das Reichsgericht, brachten20. Hier nun fanden sich die modernen Garantien des gerichtlichen Verfahren, die anderswo längst grundrechtliche Qualität besaßen. Unabhängigkeit der Gerichte (§ 1 GVG), gesetzlicher Richter (§ 16 Abs. 2 GVG), richterliche Mitwirkung bei der Verhaftung (§ 114 StPO). Zwar war das neu geschaffene Reichsgericht praktisch allein auf seine Bedeutung als letzte Instanz beschränkt und hier ganz überwiegend für die Auslegung des – noch kaum existierenden – Reichsrechts bestimmt. Doch läßt sich der von seiner Tätigkeit ausgehende Einigungsschub kaum unterschätzen. Eine moderne Wirtschaft braucht eine Rechtsordnung, welche nicht bloß kleinräumige Geltung aufweist. So konnte es nicht überraschen, daß die Materien, für welche das Reichsgericht zuständig war, die Rechtseinheit erheblich voranbrachten : Strafgesetzbuch (1870), Zivilprozeßordnung (1896), Handelsgesetzbuch (1897). Dabei leistete die Rechtsprechung des Reichsgerichts Pionierarbeit. Die Rechtseinheit in Deutschland wurde durch Justiz und Reichsgericht erheblich vorangebracht.
27Dies stieß aber auch auf Widerstand in den Einzelstaaten. Mit dem Erlaß der Reichsjustizgesetze war der Vereinigungsschwung weitgehend erlahmt. Zur Schaffung des vielfach geforderten Reichsverwaltungsgerichts21 ist es in der Folgezeit nie gekommen. Es blieb bei einzelnen rudimentären, auf Spezialgebiete begrenzten Vorläufern der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf der Reichsebene. Die Rechtsvereinheitlichung im öffentlichen Recht ist nicht von Instanzen des Reiches geleistet worden. Hier war es eher die Lehre und die Ausbildung, welche zu erheblichen Vereinheitlichungsschüben führte. Es war insbesondere das Preußische Oberverwaltungsgericht, dem dabei eine führende Rolle zukam.
28Erst recht fand sich kein Reichsverfassungsgericht. Offenbar scheuten die an der Reichsgründung beteiligten Fürsten und ihre Regierungen den dadurch zu erwartenden Souveränitätsverlust. Stattdessen ist die Aufgabe der Beilegung von Streitigkeiten über die Reichsverfassung einer politischen Instanz, nämlich dem Bundesrat, überantwortet worden (Art. 76 RV). Es war bezeichnend für die Bedeutung der rechtsstaatlichen Bewegung in der deutschen Einigung, daß die Reichsgründer die Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten lieber einer politischen Instanz, die preußisch dominiert war, als einer Reichsinstanz, die richterliche Unabhängigkeit besessen hätte, übertragen wollten.
5. Der unbekannte Bürger: Die Grundrechte
29Grundrechte waren das zentrale Anliegen der bürgerlichen Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts gewesen. Gerade in Deutschland war es neben der politischen Mitwirkung am Staat zentral der Schutz von Freiheit und Eigentum im Staat, welcher die Verfassungsbewegungen des 19. Jahrhunderts dominierte.
30Unter diesem Aspekt war in der Reichsverfassung nahezu vollständige Fehlanzeige zu vermelden. Die Bürger kamen im Verfassungstext nur ganz am Rande vor. Dabei konzentrierte sich die Verfassung auf die staatsbürgerliche Gleichheit : Alle Angehörigen eines Bundesstaates waren in allen anderen Bundesstaaten als Inländer zu behandeln. Damit war es untersagt, daß ein Land die Angehörigen eines anderen als Ausländer behandelte. Die Inländergleichbehandlung war umso wichtiger, als es bis zum Jahre 1913 keine gemeinsamen Regelungen über die Staatsangehörigkeit gab22. Auch fortan waren die Deutschen also zunächst Preußen, Bayern, Württemberger oder Sachsen ; und als solche waren sie im Reich und in den anderen Ländern gleich zu behandeln. Als solche genossen sie auch alle denselben diplomatischen Schutz gegenüber dem Ausland. Es war dies neben dem Wahlrechtsartikel (Art. 20 RV) die einzige Bestimmung, welche unmittelbar die Bürger betraf. Und dort waren die Wahlrechtsgarantien nicht als Bürgerrechte, sondern als Eigenschaften der Wahl formuliert.
31Die Reichsverfassung erwähnte zwar sämtliche an der Reichsgründung beteiligten Fürsten, die Bürger hingegen kamen nur ganz am Rande vor. Dies mag auch damit zu erklären sein, daß man dem Reich nur ganz beschränkte Kompetenzen zuerkennen wollte, welche kaum je die Rechtssphäre der Bürger tangieren konnte. Manche Zeitgenossen waren sensibler. Der führende Staatsrechtler der Monarchie23 bezeichnete das Reich als einen Bund der deutschen Fürsten, nicht als einen solchen der deutschen Völker. Tatsächlich : Die Völker und ihre Rechte blieben bei der Reichsgründung außen vor. Die zweite große Niederlage der bürgerlichen Verfassungsbewegung, diejenige aus dem preußischen Verfassungskonflikt, wurde in der Reichsverfassung ratifiziert.
III. Die unzeitgemäße Reichsverfassung
32Die Reichsverfassung hat die deutsche Einigung staatsrechtlich besiegelt. Die innere Entwicklung des Reiches hat sie selbst staatsrechtlich kaum vorangebracht. Daran änderte die Ungleichzeitigkeit ihres Inhaltes kurzfristig nur wenig. Insgesamt war sie keine angemessene Antwort auf die Regelungsbedürfnisse ihrer Zeit. Insoweit war sie eine unzeitgemäße Verfassung. Sie war selten den Forderungen ihrer Zeit voraus und blieb im übrigen – fast überall – hinter den Bedürfnissen ihrer Zeit zurück.
33Mit diesem Befund wäre allerdings die Reichsverfassung nicht vollständig und nicht zutreffend charakterisiert24. Sie hat nämlich in der Folgezeit die Herausbildung politisch angemessener Formen und Verfahren auf Dauer nicht verhindern können. Hier erwies sich ihre Regelungabstinenz als Stärke. Indem die Verfassung die Anliegen ihrer Zeit aussparte, gab sie auch keine negative Antwort. Zentrale Probleme blieben ungeregelt und daher unentschieden. Es war deshalb nur eine Frage der Zeit, bis die bürgerliche Verfassungsbewegung sich von ihrer Niederlage ansatzweise erholte und innerhalb des neuen staatsrechtlichen Rahmens die alten Fragen ein weiteres Mal stellte. Das war nicht verfassungswidrig, denn die Verfassung enthielt ja gerade keine Aussage. Von daher machten sich Teile der politischen Öffentlichkeit und der Staatsrechtswissenschaft nach 1890 daran, das innovatorische Potential der Verfassung auszuloten und zu nutzen. Dabei erwies sie sich durchaus als ausdeutbar und ließ Raum für reformerische Ansätze. Im politischen Prozeß war die Reichsverfassung eine offene politische Form, welche die Aufgabe der Gestaltung des Reiches in weitem Umfang dem Gesetzgeber überließ. Die Folgen sind bekannt. Nach der Jahrhundertwende unterschied sich im Rahmen derselben Verfassung die politische Ordnung fundamental von derjenigen von 1871. Diese Geschichte war auch eine Folge von Verfassungskrisen, welche nachholten, was nicht erst im Jahre 1871 versäumt worden war. Unter den Verfassungskrisen war der Weltkrieg mit Abstand die schwerste. An seinem Ausbruch und seinem Ausgang hatte die Verfassung sicher keinen Anteil. Aber sie hat dazu beigetragen, jenes politische System zu organisieren, dessen Mängel den deutschen Anteil am Kriegsausbruch und Kriegsverlauf hervorgebracht haben. Daß dabei Mängel auch im deutschen Verfassungssystem sichtbar wurden, ist kaum bestreitbar. Daß die Mängel wesentlich auch an den beteiligten Personen hingen, ist ebenso unbestreitbar. Ob jene Mängel durch eine andere Verfassung wirksam hätten vermieden werden können, wird stets eine offene Frage bleiben.
34Die verspätete Nation fand auch ihre angemessene politische Form erst mit Verspätung. Das Verdienst der Reichsverfassung bestand ganz sicher nicht darin, diese Entwicklung hervorgebracht zu haben. Ihr Hauptverdienst bestand aber immerhin darin, sie nicht auf Dauer verhindert zu haben.
IV. Zusammenfassung
35Die Reichsverfassung von 1871 (RV) war in wichtigen Punkten ein Dokument des Ausklammerns und Verschweigens. Aber auch ihr positiver Inhalt war ein Dokument der Ungleichzeitigkeit : Hier standen fortschrittliche Ideen neben Passagen, welche hinter den Anforderungen ihrer Zeit und dem Stand der Verfassungsdiskussion weit zurückblieben.
36Im Jahre 1871 war es nicht die bürgerlich-nationale Bewegung, welche die Einheit hervorbrachte. Die Reichsgründung war ein Werk von Adel und nationalem Bürgertum und damit eine Niederlage für die rechtsstaatlichen und sozialen Forderungen der Bürger.
37Wie die Reichsgründung war auch die Reichsverfassung kein Erfolg der bürgerlichen Bewegung. Die Reichsverfassung enthielt kaum Elemente bürgerlicher Verfassungsforderungen.
38Das Reich war ein unvollendeter Bundesstaat. Würde man das Reich allein nach der Verfassung betrachten, so bliebe es eine unvollkommene Staatsgründung mit eng begrenzten Kompetenzen und schwach ausgeprägter institutioneller Eigenständigkeit. Und wo die Reichseinrichtungen stark waren, waren sie nicht stark, weil sie Reichseinrichtungen waren, sondern weil sie zugleich preußische Einrichtungen waren.
39Grundlage des konstitutionellen Systems war die Idee der Gewaltenteilung. Ihr Grundelement war die Aufteilung der Staatsgewalt auf mehrere soziale Träger : Monarch, Adel, Bürgertum. Dabei ging Art. 5 RV über andere konstitutionelle Verfassungen hinaus. Er übertrug die Gesetzgebung staatsrechtlich allein dem Bundesrat und dem Reichstag.
40Der Reichstag verfügte über ein erhebliches Modernisierungspotential. Das lag an seinem Wahlrecht : Das Parlament des deutschen Reiches war nahezu die erste Volksvertretung in Deutschland und Europa, welches aus allgemeinen, freien, geheimen und gleichen Wahlen hervorging.
41Die Stellung des Monarchen in der Exekutive war wenig in die Verfassung eingeordnet. Der Reichskanzler war erwähnt, aber nicht geregelt. Seine Stärke bezog er nicht aus der Verfassung, sondern aus seiner Personalunion mit der preußischen Regierung. Diese löste aber nicht nur Probleme, sondern war zugleich geeignet, neue zu schaffen.
42Menschen- und Bürgerrechte enthielt die Reichsverfassung nicht. Die Justiz war nicht einmal erwähnt. Dabei ging von ihr ein praktisch äußerst wichtiger Einigungsschub aus.
43Die Verfassung von 1871 hat die innere Entwicklung des Reiches kaum gefördert. Aber sie hat sie auch nicht verhindert. Darin bestand ihre größte Leistung.
Notes de bas de page
1 Zu den Verfassungsbewegungen im 19. Jahrhundert Böckenförde in : ders., Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, 1981, S. 13 ff. Zur nationalen Bewegung Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland, 1993, S. 78 ff, 122 ff (zu 1848/49), 137 ff (zur Reichsgründung). Zur Einheit von bürgerlicher und nationaler Verfassungsbewegung im Frühliberalismus Böckenförde a.a.O., S. 27 ff.
2 Zu den Ursachen der Niederlage Griewank in : Böckenförde (Anm. 1), S. 40 ff.
3 Zum preußischen Verfassungskonflikt einerseits Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte 3, 3. A., 1988, S. 275 ff ; andererseits Wahl in Böckenförde (Anm. 1), S. 208 ff.
4 Verfassung vom 16. 4. 1867, Bundesgesetzblatt, S. 2
5 Das war unter den Zeitgenossen die vorherrschende Meinung ; Nachw. und Kritik bei Huber (Anm. 3), S. 760 ff.
6 Dazu näher Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. II, 1992, S. 75 ff, insbes. S. 77 f.
7 Endgültige Fassung: RV vom 16. 4. 1871, RGBI 63. Dazu Huber (Anm. 3), S. 766 ff ; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, 1990, S. 168 ff ; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. A., 1992 S. 256 ff ; Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte, 1988, S. 79 ff, 92 ff.
8 Zum Verfassungstyp des Konstitutionalismus eingehend Böckenförde in : Böckenförde (Anm. 1), S. 146 ; Huber ebd., S. 171. Zu den Entwicklungsstufen des Konstitutionalismus in Deutschland eingehend Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776‑1866, 1988, S. 110 ff, 142 ff, 175 ff, 208 ff ; zur mittleren Phase eingehend Näf in Böckenförde (Anm. 1), S, 127.
9 Dazu näher Grawert, in : Schnur, Staat und Gesellschaft, 1978, S. 245.
10 § 1-3 Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. 4. 1871, RGBl 63.
11 Dies war in der Verfassung nicht explizit festgelegt, entsprach aber der nahezu ständigen Staatspraxis bis auf 3 kurzzeitige Ausnahmen. Dazu Huber (Anm. 3), S. 825 ff.
12 Zum Bundesrat als Reichsverfassungsgericht Huber (Anm. 3), 1064 ff.
13 Nipperdey (Anm. 6), S. 90.
14 Zum Meinungsstand Huber (Anm. 3), S. 922 ff.
15 Dazu Art. 20 RV ; Reichswahlgesetz vom 31. 5. 1869, Bundesgesetzblatt 145. Dazu Huber (Anm. 3), S. 860 ff; Nipperdey (Anm. 6), S. 497 ff.
16 Zu den Ursachen Born in: Böckenförde (Anm. 1), S. 485.
17 Das “System Bismarck” beschreibt Stürmer, Regierung und Reichstag im Bismarck-staat 1871-1880, 1974 ; die Entwicklung nach Bismarcks Sturz Nipperdey (Anm. 6), S. 699 ff.
18 Zu den Verfassungsfragen Huber (Anm. 3), S. 820 ff.
19 Zur Beamtenpolitik des Kaiserreichs Fenske, Bürokratie in Deutschland, 1985, S. 10 ff; Morsey, in: Demokratie und Verwaltung, 1972, S. 101 ff.
20 Gerichtsverfassungsgesetz vom 27.1.1877, R,'jB1 41 ; Zivilprozeßordnung vom 30.1.1877, RGBI 83 ; Strafprozeßordnung vom 1.2.1877, RGBI 253.
21 Dazu Kohl, Das Reichverwaltungsgericht, 1991, S. 41 ff.
22 Reichs‑ und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. 7. 1913, RGBI 69.
23 Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches 1, 5. A., 1911, S. 97.
24 Zum folgenden Boldt in : Der Staat, Beiheft 10, 1993, S. 151.
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