Demokratie und Soziale Arbeit
Zur Bestimmung eines weitgehend unbestimmten Verhältnisses
p. 40-51
Résumé
La contribution ci-dessous se propose de mettre en corrélation le phénomène de l’émergence historique du travail social en tant que profession et système sociétal et la naissance des sociétés démocratiques modernes.1 La thèse développée ici postule que le travail social est un enfant (tardif) du mouvement démocratique. La notion de « mouvement démocratique » marque sciemment la différence avec la « souveraineté démocratique ». En filigrane s’exprime l’idée que si le travail social affirmait avec assurance et détermination ses valeurs fondatrices dans lesquelles vient s’ancrer sa raison d’être, il réussirait à mieux imposer ses choix scientifiquement fondés, y compris dans les temps socialement difficiles, en période de crise (économique) dont les démunis sont seuls à subir les conséquences.
Texte intégral
Zur Entstehung der Sozialen Arbeit als Funktionssystem moderner, kapitalistischer und demokratisch verfasster Gesellschaften
1Die nachfolgende Grafik versucht in einem einzigen Bild den Übergang von der mittelalterlichen, ständisch organisierten, feudalen oder «stratifikatorischen» zur «funktional differenzierten» Gesellschaftsordnung darzustellen, wie sie Luhmann theoretisch gefasst hat (Luhmann 1977). Der für die Evolution des gesellschaftlichen Funktionssystems Soziale Arbeit entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Gesellschaftsordnungen besteht in der Form der Vergesellschaftung der Individuen. Das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft wird im ersten Fall durch Geburt determiniert. Die Geburt weist dem Individuum seinen Platz in der hierarchisch geordneten Gesellschaft zu. Damit wird zugleich eine Form der Herrschaft festgeschrieben, die auf der unanfechtbaren positionalen Macht beruht, ebenso wie die damit einhergehende soziale Ungleichheit.
2Gegen diese scheinbar unverrückbare Struktur hat sich die Grundidee der Demokratie gebildet. Diese soziale Bewegung war erfolgreich und es musste sich davon ausgehend nicht nur eine neue Form von Herrschaft, sondern eine völlig andere Gesellschaftsstruktur entwickeln, weil die positionale Struktur und damit das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft mit der Idee der Freiheit pulverisiert wurde. Die Individuen werden aus den alten Bindungen «freigesetzt», wie Marx dies schon für den Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft beschrieben hat und wie Beck dies aufgenommen und für die neueren gesellschaftlichen Phänomene zum Ende des 20. Jahrhunderts hin noch einmal zugespitzt (und vielleicht überzogen) hat (Beck 2001). Während in der alten Form die soziale Position des Individuums mit der Geburt festgelegt war (Bauer blieb Bauer, Adliger blieb Adliger) und damit auch eine vollständige Integration des Individuums inklusive seiner Privilegien, Pflichten und Tätigkeiten damit weitgehend gegeben war, ist der Ausgangszustand in der funktional differenzierten Gesellschaft «Exklusion» in der Luhmannschen Terminologie (Luhmann 1995), oder Freiheit, wenn wir hier die demokratisch-aufklärerische Begrifflichkeit verwenden wollen.
3Die grundlegende Differenz wird mit der Grafik hoffentlich deutlich: Die Individuen sind nicht mehr in gleichem Masse sozialräumlich fixiert, sondern müssen sich im sozialen Raum der Gesellschaft bewegen, um ihr Leben zu führen. Aus einer statischen und stabilen Form der Vergesellschaftung wird ein hochgradig dynamischer und in seinem Ausgang ungewisser, ergebnisoffener Prozess. Da die Menschen nicht mehr positional eingebunden sind, müssen sie je individuell ihre gesellschaftliche Position erwerben, die letztlich über den Grad und die Form ihrer Teilhabe an der Gesellschaft entscheidet. Diese aktive Rolle des Individuums bleibt aber abhängig von der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung. Diese gesellschaftliche Ordnung wird nun nicht nur durch die demokratische Semantik und die immanente Kraft der Modernisierung gebildet und in ihrer Entwicklung vorangetrieben, sondern zusammen mit dieser grundlegenden Veränderung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft verändert sich die Art und Weise des Wirtschaftens, also der Herstellung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Das Wirtschaften ist in jeder Gesellschaftsform ein zentraler Bereich, denn Gesellschaften dienen dem Überleben des sozialen Wesens Mensch. Die Herstellung von und die Versorgung mit Lebensmitteln, in einem weiten Verständnis dieses Begriffs, muss von jeder Gesellschaftsform gewährleistet werden.
4An dieser Stelle ist es notwendig, auf Karl Marx zurückzugreifen. Die Freiheit des Individuums und die daran ansetzenden historischen Prozesse der Freisetzung sind die Voraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise: «Zur Verwandlung von Geld in Kapital muss der Geldbesitzer also den freien Arbeiter […] vorfinden, frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft […] verfügt, dass er andererseits andere Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen» (Marx 1962: 183). Freisetzung meint also zunächst die Aufhebung der Leibeigenschaft, aber auch die damit einhergehende Auflösung traditioneller, ländlicher Lebensweisen und positional gegebener sozial-räumlicher Lebenszusammenhänge. Die Freisetzung aus der feudalen gesellschaftlichen Strukturierung der Lebensführung hat zur Folge, dass die Individuen zwar frei werden, dass sie damit aber auch die stabile und in gewisser Weise geschützte Position verlieren und nun ganz allein für sich selber sorgen müssen. Die Verelendung grosser Bevölkerungsgruppen ist in der Zeit der Industrialisierung die Folge und in gewisser Weise zugleich, wenngleich zeitlich versetzt, die Geburtsstunde der Sozialen Arbeit. Die besitzlosen Freigesetzten müssen nun das Einzige, über das sie verfügen, verkaufen, nämlich ihre Arbeitskraft. Die Veränderung im Modus der Vergesellschaftung besteht darin, dass die Vergesellschaftung der Individuen an den Verkauf ihrer Arbeitskraft (oder den Besitz von Kapital) gekoppelt wird. Erwerbsarbeit wird zum zentralen Integrationsmodus, der zugleich über die Positionierung eines Individuums, die Marx entlang der beiden strukturierenden Kategorien Kapital und Arbeit (zu einfach, wenngleich analytisch korrekt) als Zweiklassengesellschaft denkt, weitgehend entscheidet. Mit dem Begriff der Klassengesellschaft kommt ein weiterer, letzter Gesichtspunkt hinzu. Folgt man der marxschen Analyse in Das Kapital noch ein Stück weiter, dann beschreibt er auch den «Freisetzungsprozess von Arbeit» durch die fortschreitende Entwicklung der Produktivkraft und die Verwertungslogik des Kapitals (Marx 1962: 657ff). Ohne auf die Einzelheiten hier einzugehen: Marx beschreibt eine den wirtschaftlichen, also kapitalistisch strukturierten Prozessen innewohnende Gesetzmässigkeit hin zur Verknappung der Arbeit. Wenn nun aber der Modus der gesellschaftlichen Integration über Arbeit (oder Eigentum) läuft, und das heisst, dass alle Menschen für ihre Lebensführung Arbeit brauchen, dann konstituiert sich im Verhältnis von Arbeit und Kapital ein Machtverhältnis und ein konstitutiver Antagonismus. Die relativ statische positionale Machtstruktur der feudalen Gesellschaft wird also durch eine dynamische Machtstruktur abgelöst, die als weitere strukturierende gesellschaftliche Kraft mit der Idee der Freiheit nicht nur möglich, sondern ins Leben gerufen wird.
5Und dies hat unmittelbar auf der sozialstrukturellen Ebene Folgen: Die hier kurz eingeführte dynamische Machtstruktur, die sich daraus ergibt, erzeugt systematisch Ungleichheit, und zwar in einem Ausmass, wie es in den Zeiten feudaler Herrschaft unvorstellbar gewesen wäre. Der neue, demokratisch ermöglichte, oben beschriebene Modus der Vergesellschaftung hat eine vertikale Differenzierung zur Folge, die – würde man sie in die Grafik oben einbauen – sozusagen hinter dem Bewegungsspielraum suggerierenden Bild der funktionalen Differenzierung eingezogen werden müsste.
6Der Ausgangszustand ist also Freiheit. Jeder Mensch wird frei geboren. Diese Freiheit hat nun ihre Schattenseiten. An dieser Stelle wird das Werk von Pierre Bourdieu relevant. Bourdieu hat den marxschen Gedanken der Klassengesellschaft aufgegriffen, aber angesichts der Verhältnisse der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften als unzureichend kritisiert. Er hat sich die Frage gestellt, wie sich die soziale Ungleichheit herstellt und wie sie sich vor allem entgegen der Erwartung relativer Mobilität stabil reproduziert. Damit ist nicht nur das Phänomen der sozialen Schichtung ganz allgemein angesprochen, sondern auch, dass es zu einer Unterschichtung kommt, zu einem Segment der Gesellschaft also, in dem die gesellschaftliche Teilhabe massiv eingeschränkt ist (Kuhle 2001).
7Wiederum hier sehr verkürzt wiedergegeben, beschreibt Bourdieu Folgendes: Die Position eines Individuums ergibt sich aus dem Gesamt seiner Bewegungen im sozialen Raum, der vertikal (Schicht), aber auch horizontal (Kultur) differenziert ist (Bourdieu 1989). Eine Veränderung der Position im sozialen Raum ist nur über Aktivität und Zeit erreichbar, wenn überhaupt. Denn: Der Bewegungsspielraum jedes Individuums ist dabei nicht ganz so frei, wie es die Grundidee der Demokratie suggeriert, sondern hängt vom sozialen Feld ab, in das ein Mensch geboren wird, und den Kapitalien, die dieser Mensch im Laufe seines Lebens erwirbt. Der Erwerb dieser Kapitalien ist wiederum feldabhängig. Bourdieu bestätigt einerseits das bisher gezeichnete Bild des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Das Individuum muss seine Position durch seine eigene Aktivität erwerben beziehungsweise herstellen. Zugleich zeigt er aber auch, dass dies in Abhängigkeit der sozialstrukturellen, ergo gesellschaftlichen Verhältnisse geschieht, die systematisch Ungleichheit erzeugen.
8Damit haben wir die theoretische Basis gelegt, um nunmehr die Entstehung der Sozialen Arbeit darin zu verorten. Der auf Freiheit gründende, kapitalistisch überformte Modus der Vergesellschaftung hat zur Folge, dass die Individuen durch ihre Lebensführung ihre Integration in die Gesellschaft selbst herstellen müssen. Diese Realisierung des Selbst in sozialen Bezügen und in Abhängigkeit des zugänglichen sozialen Raums stellt eine komplexe Entwicklungsaufgabe vor dem Hintergrund dar, dass der individuelle Integrationsprozess prinzipiell riskant ist, weil keine Position einfach gegeben ist. Und das heisst, dass der individuelle Integrationsprozess systematisch vom Scheitern bedroht ist. Diese dynamische Form der Integration wird noch gesteigert, weil auch eine einmal erworbene Position weitgehend abhängig vom Verkauf der Arbeitskraft bleibt und damit auch soziale Risiken und Abstiege nicht nur zur gesellschaftlichen Normalität gehören, sondern prinzipiell (fast) alle Individuen im Laufe ihres Lebens betreffen können. Die Begriffe «Prekarität» und «Vulnerabilität» wie sie Castel ausgearbeitet hat (Castel 1992; Castel & Dörre 2009) veranschaulichen diese riskante Integrationsdynamik. Der dominante Modus der Vergesellschaftung erzeugt strukturell Prekarität für die Individuen. Prekarität ist der Schwager von Freiheit, zumindest unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen.
9In diese Form der Gesellschaft ist also ein Integrationsproblem strukturell eingelassen. Nicht jede Integration eines Individuums gelingt. Scheitern an diesen gesellschaftlichen Bedingungen ist sozusagen strukturell angelegt und manifestiert sich in unterschiedlichsten Ausprägungen. Dies wäre nun an und für sich kein Problem, ausser für die Betroffenen. Wenn da nicht diese verflixte demokratische Semantik wäre. Das von einer demokratischen Gesellschaft anzustrebende Minimum der Umsetzung des Gleichheitsgebots ist die prinzipiell zu gewährleistende Teilhabe aller an der Gesellschaft. «Die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohle der Schwachen», heisst es treffend in der Präambel der Schweizer Verfassung. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind grundlegende semantische Bezugspunkte des Politischen, die das Kräftespiel der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und Interessen auf der semantischen Ebene strukturieren. Deshalb geht von der gesellschaftlich erzeugten Unterschichtung systematisch eine Bedrohung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse aus, nicht weil dort ein revolutionäres Potential heranreifen würde, sondern weil die demokratische Gesellschaft in ihrem Zentrum, dort wo sich die herrschende Ordnung bildet und reproduziert, permanent mit dieser Spannung auseinandersetzen muss beziehungsweise diese als Teil ihrer basalen Systemdynamik wirkt.
10Die moderne, kapitalistische, funktional differenzierte und demokratische Gesellschaftsform trägt also ein dynamisches Strukturprinzip in sich, das als Spannung zwischen der materiellen Ungleichheitsproduktion und dem ideellen Gleichheitsgebot gefasst werden kann. Die Soziale Arbeit entwickelt sich aus diesem Kraftfeld der modernen Gesellschaft und differenziert sich als «sekundäres Funktionssystem» (Fuchs & Schneider 1995; Sommerfeld 2000) denn sie setzt an dem durch die primäre Differenzierung und die Umstellung auf diese neue Gesellschaftsordnung entstehenden Folgeproblem bezüglich der Integration der Individuen an. Die Soziale Arbeit ist in der hier entfalteten Perspektive also ein Kind der Demokratie und zwar sozusagen ein Nachzügler. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen kann die Soziale Arbeit als Institution gewordener Ausdruck des Zentralwertes der Brüderlichkeit angesehen werden, allerdings nicht in der Form persönlicher Hilfe von Mensch zu Mensch, von Bruder zu Bruder, sondern in der Form Profession, also der Form, die typisch ist für die Moderne und die auch in den anderen Funktionssystemen als treibende Kraft und somit auch als ein Motor der Modernisierung angesehen werden kann (Stichweh 1994). Mit dem Fortschreiten des gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses, also dem Aufblühen der Moderne, wird «Helfen zum Beruf» (Luhmann 1973). Die Soziale Arbeit als Profession entsteht. Sie ist die Funktion gewordene Brüderlichkeit. Und damit nicht genug, denn um diese Funktion im Sinne der demokratischen Semantik erfüllen zu können, muss sie auch zu den beiden anderen Zentralwerten einen Bezug herstellen. Auf eine kurze Formel gebracht: Die Soziale Arbeit ist die gesellschaftliche Institution, die für die Bearbeitung der Folgen sozialer Ungleichheit vor dem normativen Hintergrund der Gleichheit, also vor dem Hintergrund aktueller Konzepte sozialer Gerechtigkeit und sozialen Ausgleichs im Hinblick auf den Zielhorizont des guten Lebens oder der Teilhabe aller und der freiheitlichen Idee der Autonomie der Lebenspraxis, also in einem emanzipatorischen Sinne, zuständig ist. Das Problem, an dem sich die Soziale Arbeit vor dem Hintergrund der demokratischen Semantik ausdifferenziert und als Funktionssystem bildet, ist in der hier entfalteten Perspektive also das strukturelle Integrationsproblem dieser Gesellschaft. Dieses zeigt sich unter anderem konkret als Deprivation, als Devianz, als Desintegration (Sidler 2004), die oft mit Arbeitslosigkeit einhergehen, und die sich wiederum als Kumulation von psycho-sozialen Problemlagen auf der Ebene von Individuen und Gruppen vergegenständlichen. Die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit besteht entsprechend darin, das gesellschaftsstrukturell induzierte Integrationsproblem zu bearbeiten, das sich in gesellschaftlich randständigen, psycho-sozial problembeladenen, im Sinne von eingeschränkter Teilhabe und Ressourcenausstattung unterprivilegierten Lebenslagen und Lebensformen zeigt. Und in einem fortgeschrittenen Stadium dehnt sie ihre Zuständigkeit auf problematisch gewordene Formen der Lebensführung aus, die auf Dauer zu einem Abstieg in die Randbezirke der Gesellschaft führen würden. Die Soziale Arbeit bearbeitet also soziale Folgeprobleme der modernen Gesellschaft, die unmittelbar mit den Integrationsmodalitäten dieser Gesellschaft gekoppelt sind und einen strukturellen Widerspruch zum demokratischen Universalprinzip und der Idee des guten Lebens und der guten Gesellschaft bilden.
Diskussion Soziale Arbeit als Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft oder als Beitrag zur Stabilisierung sozialer Ungleichheit
11Das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Demokratie ist nunmehr in der hier entfalteten Perspektive theoretisch bestimmt. Ich habe für die Strukturierung der Diskussion die alte Frage noch einmal gewählt, ob die Soziale Arbeit nun einfach einen Beitrag zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse leistet, indem sie die faktische Ungleichheit bearbeitet und damit zur Befriedung gesellschaftlicher Konflikte beiträgt, die die gesellschaftliche Entwicklung letztlich bremst und eine bessere (im Sinne von gutes Leben für alle) und somit demokratischere Gesellschaft dadurch verhindert. Oder umgekehrt, ob sie nicht doch entsprechend der Intention der (mutmasslich) meisten Fachpersonen einen Beitrag zur Lösung der sozialen Probleme leistet, die im Zusammenhang mit dem hier herausgehobenen strukturellen Integrationsproblem dieser Gesellschaft entstehen und dadurch im hier vertretenen Demokratieverständnis einen Beitrag zur Demokratisierung und einer besseren Gesellschaft durch die Verbesserung der konkreten Lebensverhältnisse des unterprivilegierten Teils dieser Gesellschaft leistet.
12Es ist natürlich zunächst eine rhetorische Frage. Denn faktisch ist beides wahr. Es ist kein sich gegenseitig ausschliessendes entweder oder sondern ein oder, das im formal logischen Sinne beide Alternativen einschliesst. Und doch macht diese Gegenüberstellung aus meiner Sicht Sinn, weil sie den Blick schärft auf durchaus bedeutsame Unterschiede in den Akzentsetzungen in der sozialarbeiterischen Praxis. Und nur dort wird letztlich entschieden, wie viel Gewicht die Stabilisierung der Ungleichheit oder die Lösung der Probleme im Sinne der weiter zu verfolgenden Demokratisierung der Gesellschaft bekommt. Dabei kann sich die Praxis auf die Theorie der Sozialen Arbeit stützen. Insbesondere an normativen Orientierungen, die im Einklang mit der hier entfalteten Position sind, besteht kein Mangel. Thierschs «lebensweltorientierte Soziale Arbeit» (Thiersch 2009) ist nur ein, wenngleich prominentes, Beispiel, wie in einer Theorie der Sozialen Arbeit Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, im Sinne von Emanzipation von Benachteiligung erzeugenden sozialen Verhältnissen, aufeinander bezogen werden (vgl. auch Böhnisch, Schröer & Thiersch 2005). Die derzeit aktuelle und sehr wahrscheinlich weit führende Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Martha Nussbaum (Nussbaum 1999) und Armatya Sen (Sen 2008) und ihrem Zentralbegriff der «Capabilities» bezhiehungsweise der «Verwirklichungschancen» sind ein weiteres Beispiel, dass die Wissenschaft der Sozialen Arbeit sich notwendig mit der Frage nach dem guten Leben auseinandersetzen muss und dies auch tut (Otto & Ziegler 2010). «Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession» von Silvia Staub-Bernasconi ist ein anderes Beispiel, das hier zu nennen wäre (Staub-Bernasconi 1998), bei dem der Bezug zur französischen Revolution sozusagen unmittelbar ins Auge springt, denn die Menschenrechte sind wie die Verfassungen der demokratischen Staaten eine ausdifferenzierte Form der demokratischen Semantik.
13Warum nun diese Verweise im Zusammenhang mit der oben gestellten, rhetorischen Frage? Auf der normativen Ebene ebenso wie auf der theoretischen Ebene sind diese allgemeinen Orientierungen am guten Leben, um es der Einfachheit willen in diese Formel zu packen, unbestritten. Es ist theoretisch geklärt, dass die Soziale Arbeit nur Sinn macht, wenn sie ihre Funktion im Sinne des guten Lebens aller wahrnimmt, womit sie einen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft leisten würde. Die Praxis der Sozialen Arbeit sieht oftmals und vor allem in letzter Zeit durchaus anders aus, zumindest beschleicht den (wissenschaftlichen) Beobachter diese Einschätzung zunehmend. Denn die Praxis der Sozialen Arbeit ist unmittelbar der demokratischen Herrschaft ausgesetzt. Wenn die hier entfaltete Analyse zutrifft, dass die Soziale Arbeit aus einem Kraftfeld entsteht, das im Zentrum demokratisch verfasster Staaten angesiedelt ist und die Legitimation der Herrschenden unmittelbar berührt, dann ist es verständlich, dass die Praxis der Sozialen Arbeit sich auch unmittelbaren Steuerungsversuchen ausgesetzt sieht, wie wir das beispielsweise mit dem «Aktivierungsdiskurs» (Dollinger 2006) oder der Debatte um die «Ökonomisierung» (z.B. Spatscheck 2008) oder um die Einführung von Sozialdetektiven, oder dem Missbrauchsdiskurs bis hin zur Risikoorientierung in der Bewährungshilfe, deren Erfolg sich zumindest teilweise einem zutiefst antidemokratischen Sicherheitsdiskurs verdankt, und dergleichen mehr verfolgen konnten.
14Bedeutsamer und gefährlicher als die unmittelbare Einflussnahme des politisch-administrativen Systems auf die Soziale Arbeit scheint mir, dass die genannten Diskurse und einige mehr, einen Kampf um die Semantik der Demokratie anzeigen, bei dem die Soziale Arbeit nur ein Kampffeld neben anderen ist, bei der es aber primär gar nicht um die Soziale Arbeit geht, sondern darum, die Sprengkraft der demokratischen Semantik zu entschärfen. Wenn es gelingt, die Semantik in Bezug auf soziale Gerechtigkeit so zu verändern, dass der mit der demokratischen Idee verknüpfte Anspruch auf ein gutes Leben für alle delegitimiert werden kann, dann kann die soziale Frage an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden (vgl. zum Kampf um die Semantik sozialer Gerechtigkeit z. B. Dabrock 2010: 19 ff; Kronauer 2010). Dann sammelt sich am Rand der Gesellschaft eine Population der Unwürdigen, der Unfähigen, der Überflüssigen, der Fremden, eine Art underclass, um die man sich zwar im Sinne der «Exklusionsverwaltung» (Bommes & Scherr 1996) auch noch kümmern muss, die aber nicht (mehr) die Legitimität der Herrschaft und damit der festgeschriebenen (sic!) Ungleichheit in Frage stellt. Der Kampf um die Semantik dieser Gesellschaft als demokratische Gesellschaft ist längst im Gange und, so wie es aussieht, in einem reaktionären Sinn weit fortgeschritten.
15Für die Soziale Arbeit heisst dies aus der hier vertretenen Perspektive heraus, die eigene Position und Funktion selbstbewusst zu vertreten. Das heisst unter anderem, sich gegen Zumutungen sozialpolitischer Steuerung zu verteidigen, wenn aufgrund des eigenen fachlichen Urteils die professionellen Werte (insbesondere der Wert der Freiheit, Autonomie der Lebenspraxis) verletzt werden, aber auch wenn sich die Soziale Arbeit an Praktiken beteiligen soll, die das Fach als nicht zielführend im Sinne der Emanzipation und der Demokratisierung beurteilt. Dieser Standpunkt schliesst unmittelbar an ähnlich gelagerte Aussagen von Staub-Bernasconi zum «Tripelmandat» an, mit dem sie auf die Notwendigkeit aufmerksam macht, den eigenen Auftrag erst einmal klar zu bekommen und ihn dann in die Verhandlungen mit den Adressaten und Adressatinnen und dem politisch-administrativen System einzubringen (Staub-Bernasconi 2007: 198ff).
16Vor dem Hintergrund des Kampfes um die demokratische Semantik, wie er hier dargestellt wurde, wird plötzlich die rhetorische Frage, ob die Soziale Arbeit einen Beitrag zur Herrschaftsstabilisierung oder zur Demokratisierung der Gesellschaft leistet, zu einer wieder zentralen, wieder zu debattierenden Frage. So formulieren auch Markert & Otto, dass angesichts der Individualisierung von Armut und dem Ausblenden struktureller sozialer Ungleichheit «Politisierungsnotwendigkeiten der Sozialen Arbeit (einmal mehr) virulent [werden]. Ihren sichtbaren Ausdruck findet diese Anforderung tagtäglich in den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Thematisierungen von Armut und Vorschlägen zu ihrer Regulierung - sei es zu den Gründen und Folgen der Hartz-Gesetzgebungen, sei es im Kontext der Diskussionen zur ‘neuen’ Unterschicht» (Markert & Otto 2008: 447).
17Soweit ich es sehe, wird die Soziale Arbeit sich in diesem Zusammenhang positionieren müssen. Wenn sie sich als Profession in diesem gesellschaftlichen Prozess behaupten will, dann gilt es, einen fachlichen Diskurs der Sozialen Arbeit in Bezug auf die hier explizierten demokratischen Werte zu führen und diese in der Praxis zu einer bedeutsamen Grundlage für Entscheidungen zu machen und klare Positionen auch gegenüber der Politik zu beziehen. Wenn schon nicht im Interesse der Demokratisierung und der Emanzipation der Adressaten und Adressatinnen, was für mich der entscheidende Bezugspunkt wäre, dann wenigstens vielleicht im eigenen Interesse der Behauptung eines Minimums an Professionalität.
Bibliographie
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1 Es handelt sich bei diesem Beitrag um einen Auszug aus anderen Publikationen, um eine verkürzte Fassung eines Gedankengangs, der einerseits historisch auf die Ideengeschichte der Demokratie reflektiert (Sommerfeld 2013) und andererseits in eine allgemeine Theorie der Sozialen Arbeit eingebettet ist (Sommerfeld, Hollenstein & Calzaferri 2011).
Auteur
Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit – Dozent, peter.sommerfeld@fhnw.ch, www.fhnw.ch/personen/peter-sommerfeld
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