Autonomie anwendungsorientierter Forschung
p. 359-365
Résumé
Cet article examine les différentes représentations autour de la notion de recherche appliquée. L’argument développé est que la recherche appliquée est une activité essentiellement critique dont le potentiel au profit de la pratique ne peut se déployer que si elle adopte vis-à-vis de cette dernière une attitude de distance objectivante
Texte intégral
1An Fachhochschulen soll, so wollen es die gesetzlichen Bestimmungen, anwendungsorientierte Forschung betrieben werden. Zur Frage, was Forschung zu anwendungsorientierter Forschung macht, finden sich allerdings sowohl bei Forschenden, als auch auf Seiten derjenigen, die Forschung nachfragen, höchst unterschiedliche Auffassungen. Es lassen sich mindestens vier Erwartungsprofile unterscheiden, mit denen Einrichtungen der sogenannten Praxis – seien dies Amtsstellen, Trägerorganisationen oder Praxiseinrichtungen der Sozialen Arbeit im engeren Sinne – an Forschende herantreten.
2 (a) Adressierung als Forschende:Bei Vorliegen des ersten Erwartungsprofils hat der potentielle Auftraggeber in seiner – oder in der von ihm verantworteten – Praxis eine Krise festgestellt. Die Forschenden, an die er sich wendet, sollen klären, worin diese Krise besteht und wo ihre Ursachen liegen. Des Weiteren sollen sie ihm Möglichkeiten des Brechens mit eingeschliffenen Routinen aufzeigen, die geeignet erscheinen, die Krise zu überwinden. Sie sollen die Praxis des Auftraggebers einer problematisierenden und hinterfragenden Rekonstruktion mit offenem Ausgang unterziehen. Sowohl bei der Entwicklung eines angemessenen Forschungsdesigns als auch bei der Präzisierung der forschungsleitenden Fragen wird ihnen wie selbstverständlich jene Autonomie zugestanden, die Forschung für sich in Anspruch nehmen muss, wenn sie denn etwas anderes als ein verlängerter Arm von Verwaltung sein will. Wir haben es hier mit einem potentiellen Auftraggeber zu tun, der bereit ist, sich durch das, was ihm die Forschenden berichten werden, überraschen oder gar irritieren zu lassen.
3Damit sind einige zentrale Charakteristika eines klassischen Verständnisses sozialwissenschaftlicher Forschung, wie es etwa von Max Weber (1904) ausformuliert wurde, indirekt bereits benannt. Erstens handelt es sich bei ihr um eine genuin kritische Tätigkeit. Forschende Aktivitäten haben zum Ziel, und hierin liegt ihr innovatives Potential, etablierte Problemlösungsroutinen wiederkehrend einer radikalen Problematisierung zu unterziehen; und dies unter Umständen auch dann, wenn diese in der Praxis selbst noch weitgehend unproblematisch erscheinen. Im Kern ist Forschung nicht Dienstleistung, sondern Kritik: keine technologische oder unternehmerische Innovation, ohne dass zuvor die bisherigen Routinen radikal angezweifelt wurden; keine Innovation im Bereich professionalisierter Hilfeleistungen, ohne dass zuvor kritisch gefragt wurde, ob die bisher zum Einsatz gebrachten Mittel zielführend waren. Wesentlich für Forschung erscheint zweitens, dass sie keine Tabuzonen kennt. Um ihre innovativen Potentiale ausschöpfen zu können, lässt sie sich auf die Selbstexplikationen der etablierten Praxis zwar ein, tritt aber zugleich objektivierend hinter diese zurück. Dies kann sie deshalb, weil es sich bei ihr drittens um eine im Kern unpraktische Tätigkeit handelt. Gegenüber der Praxis besitzt sie das Privileg, statt zwecks Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit Komplexitäten abbauen zu müssen, Komplexitäten aufbauen zu dürfen. Was sie hervorbringt, sind keine Handlungsrezepturen und Problemlösungstools, sondern schlicht Erkenntnisse über den beforschten Gegenstand. Zugleich gibt es aber keinen Grund, weshalb Forschende, nachdem sie ihre eigentliche Arbeit geleistet haben, sich durch die Praxis nunmehr nicht auch in Entwicklungsprojekte einbinden lassen. Dieser Konnex von Forschung und Entwicklung ist indes keineswegs zwingend – auch da nicht, wo sogenannt anwendungsorientierte Forschung betrieben wird. Denn anwendungsorientiert ist Forschung allein schon dadurch, dass es sich bei der problematisierenden Auseinandersetzung mit praktischen Routinen (respektive Anwendungen) um ihr eigentliches Kerngeschäft handelt.
4 (b) Adressierung als Spezialisten:Bei Vorliegen eines zweiten Erwartungsprofils erblickt der Auftraggeber in der Forschungsabteilung einer Fachhochschule ein Kompetenzzentrum für die Erbringung spezialisierter Analysedienstleistungen, für die er aus betriebswirtschaftlichen Gründen keine eigenen Kapazitäten aufgebaut hat. Er adressiert die Forschenden also nicht als Forschende, sondern als externe Spezialistinnen und Spezialisten, die er gegen Entgelt für sich arbeiten lässt. Es gibt keinen Grund, weshalb Fachhochschulen Dienstleistungen etwa in den Bereichen der Datenerhebung, der Datenauswertung oder der Modellbildung nicht auch anbieten sollten. Um Forschung im oben skizzierten Sinne handelt es sich bei Dienstleistungen dieser Art indes nicht. Angesichts dessen ist die sowohl innerhalb als auch ausserhalb von Fachhochschulen verbreitete Tendenz, in der Erbringung solcher Dienstleistungen die Einlösung des Desiderats nach anwendungsorientierter Forschung zu erblicken, hochgradig problematisch. Denn erstens kann Forschung, die keine ist, auch keine anwendungsorientierte Forschung sein. Und zweitens bedürfen auch Praktiken in universitär wenig beforschten Handlungsfeldern (wie denjenigen der Sozialen Arbeit) jener Form der externen Dauerproblematisierung, die allein durch Forschung gewährleistet werden kann – womit wiederum nicht behauptet wird, die Praxis könne partiell nicht auch aus sich selbst heraus innovativ sein.
5 (c) Adressierung als Experten: Im Rahmen eines dritten Erwartungsprofils adressiert der Auftraggeber FH-Forschende als Expertinnen und Experten. Das Ziel der Auftragsvergabe kann dabei erstens darin bestehen, die eigene Praxis einer externen Expertise zu unterwerfen. Ob aus dieser offenen Auftragsformulierung eine im obigen Sinne forschende Tätigkeit erwächst, hängt dann hauptsächlich vom Auftragnehmer ab. Er kann sich gegenüber dem Auftraggeber entweder als ein Experte oder als ein Forschender positionieren. Tut er ersteres, gebärdet er sich als derjenige, der über die ideale Ausgestaltung der Praxis im zu untersuchenden Feld vermeintlich immer schon Bescheid weiss. Positioniert er sich hingegen nicht als ein wissender Experte, sondern als ein noch nicht wissender Forscher, unterzieht er die zu untersuchende Praxis und deren Konsequenzen zuerst einmal einer präzisen Rekonstruktion (Oevermann 2000). Zweitens kann an die Kontaktaufnahme mit einem Experten direkt die Erwartung geknüpft sein, dieser möge die zu begutachtende Praxis einer (quasi-) offiziellen Beglaubigung oder Zertifizierung unterziehen. Bei der Verteilung von Gütesiegeln handelt es sich nun freilich von Anfang an um ein gänzlich forschungsfremdes Metier. Wenn Neugier Forschende dazu antreibt, gerade auch das unproblematisch Erscheinende wiederkehrend einer kritischen Durchleuchtung zu unterziehen, muss es ihnen zutiefst widerstreben, sich an der Produktion des Scheins zu beteiligen, es gebe Praktiken, die sich für immer einer künftigen Kritik entziehen liessen. Und drittens kann sich der Auftraggeber von der Adressierung von Experten einen Daueraustausch mit Personen erhoffen, die er für besonders interessant oder renommiert hält – wobei es ihm hierbei weniger um eine externe Problematisierung der eigenen Praxis, als vielmehr um deren symbolische Aufwertung durch vorzeigbare Expertenkontakte geht. Das vertraglich vereinbarte Arrangement läuft dann beispielsweise unter dem Label der «wissenschaftlichen Begleitung». Spielen die beigezogenen Experten hier mit, treten sie als Forschende unter Umständen gar nie in Erscheinung.
6 (d) Adressierung als Repräsentanten der Forschung: Bei Vorliegen eines vierten Erwartungsprofils adressiert der Auftraggeber den Auftragnehmer als einen forschungserfahrenen Sachverständigen, dessen Auftrag darin besteht, sich an laufenden Entwicklungsprozessen zu beteiligen und seine spezifische Expertise in sie einzubringen. Wir bewegen uns hier in dem weiten Feld dessen, was in der neueren Wissenschaftsforschung etwa unter dem Begriff «Modus 2» (Gibbons et al. 1994) zum Normalmodell der Generierung von Wissen in der Gegenwartsgesellschaft erklärt, mitunter auch stilisiert wird. Akteure unterschiedlicher wissenschaftlich-disziplinärer und praktisch-professioneller Provenienz generieren – so die Vorstellung – im Rahmen projektförmig organisierter Kooperationen gemeinsam ein Wissen, das von Beginn weg auf praktische Implementierung oder Umsetzung ausgerichtet ist. Es stellt sich allerdings die Frage, ob in Teams, in denen Forschende und Praktiker von Anfang an miteinander kooperieren, für Forschung im oben skizzierten Sinne überhaupt ein Platz vorgesehen ist. Die genuin sehr unterschiedlichen Herangehensweisen an Problemstellungen – die forschende und die praktische, die Komplexität abbauende und die Komplexität aufbauende, die genuin kritische und die genuin pragmatische, die entscheidungsentlastete und die systematisch auf Entscheidungen zusteuernde – lassen sich möglicherweise nicht so komplikationsfrei miteinander verbinden, wie es das Modell unterstellt. Weil Forschung und Entwicklung grundlegend unterschiedlichen Logiken folgen, kann die Nicht-Etappierung und vorschnelle Konfusion der beiden Praktiken zur Folge haben, dass Forschung – letztlich zu Ungunsten eines Weiterkommens in der Sache – ihren kritischen Impetus vorschnell preisgibt.
7Im Aufsatz Die «Objektivität» sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis arbeitet Max Weber (1904) systematisch heraus, was Forschung der Praxis zu bieten hat, wenn sie sich gegenüber dieser konsequent als eine autonome Tätigkeit positioniert. Forschung kann erstens darauf ausgerichtet sein, der Praxis die «letzten Axiome», an denen sich diese orientiert, zum Bewusstsein zu bringen (151). Für Anbieter von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung – um dies am Beispiel einer eigenen Forschungsarbeit zu exemplifizieren (Schallberger & Wyer 2010) – kann es beispielsweise hilfreich sein, durch Forschende die Erkenntnis zurückgespiegelt zu erhalten, dass sich die professionelle Praxis in solchen Programmen an höchst unterschiedlichen Leitparadigmen orientieren kann; denjenigen der Disziplinierung, der Rettung, der Rehabilitation, der Qualifizierung oder der Verwertung. Bestimmungen dieser Art ermöglichen es den Programmanbietern, die eigene Praxis selbstreflexiv und selbstkritisch im Raum des Möglichen zu verorten. Forschung kann zweitens im Sinne einer «formallogische Beurteilung» (Weber 1904: 151) danach fragen, ob die Handlungsorientierungen der Praxis überhaupt praktikabel, das heisst ohne innere Widersprüche sind. Die genannte Untersuchung zeigt etwa, dass das gleichzeitige Einnehmen einer helfenden und einer kontrollierenden Haltung, wie die Gesetzgebung dies vorsieht, in der praktischen Umsetzung erhebliche Tücken aufweist. Forschung kann sich drittens mit der Rekonstruktion der historischen Macht von Ideen und «praktischen Wertsetzungen» befassen (ebd.). Nur im Wissen um historische Traditionen der Sozialdisziplinierung und Normalisierung ist es Anbietern von Beschäftigungsprogrammen überhaupt möglich, die eigene Praxis von früheren Praktiken der anstaltsförmigen Internierung zu Zwecken der Isolierung, der Arbeitserziehung oder der Bestrafung systematisch abzugrenzen. Viertens kann Forschung «technische Kritik» im Sinne der Überprüfung der Geeignetheit der Mittel zur Erreichung gegebener Zwecke sein (ebd.: 149). Sie liefert, um beim Beispiel zu bleiben, den Anbietern von Beschäftigungsprogrammen Antworten auf die Frage, welche Instrumente sich unter unterschiedlichen Bedingungen zur Erreichung des Reintegrationsziels am ehesten eignen. Fünftens lässt sich mittels Forschung klären, welche einerseits beabsichtigten und andererseits unbeabsichtigten Folgen mit eingeschliffenen Handlungsmustern verbunden sind (ebd.: 150). So lässt sich beispielsweise zeigen, dass die Einnahme einer pädagogisierenden Haltung gegenüber Programmteilnehmenden zusätzliche Demoralisierungen zur Folge hat, die dem Ziel der Stärkung der Arbeitsmarktfähigkeit systematisch zuwiderlaufen. Mit dem Postulat der Werturteilsfreiheit vereinbar ist gemäss Weber sechstens eine Forschungspraxis, die im Sinne einer «dialektischen Kritik der Wertsetzungen» (ebd.: 149) sich problematisierend mit den Zielen auseinandersetzt, an denen die Praxis ihr Handeln ausrichtet. Die forschungsleitende Frage kann dabei sein, ob diese Ziele «nach Lage der gegebenen Verhältnisse» überhaupt noch «sinnvoll» oder ob sie historisch «sinnlos» geworden sind (ebd.). Lässt sich beim gegenwärtigen Stand der technologischen Entwicklung Vollbeschäftigung sinnvollerweise überhaupt noch anstreben? Ohne sich zwingend auf das Terrain des Weltanschaulichen begeben zu müssen, kann empirische Forschung zur Klärung auch derartiger Fragen einen spezifischen Betrag leisten (Franzmann 2009).
8In keinem der aufgelisteten Punkte – so die hier vertretene These – könnte Forschung die Potentiale, die sie für die Praxis besitzt, ausschöpfen, wenn sie es sich in der Primärphase einer vereinbarten Kooperation nicht herausnehmen würde, gegenüber der Praxis eine radikal distanzierte und objektivierende Haltung einzunehmen.
Bibliographie
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Literatur
Franzmann, M. (Hrsg.). (2009). Bedingungsloses Grundeinkommen: als Antwort auf die Krise der Arbeitsgesellschaft. Weilerswist: Velbrück.
10.4135/9781446221853 :Gibbons, M. et al. (1994). New production knowledge: dynamics of science and research in contemporary societies. London: Sage.
Oevermann, U. (2000). Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In K. Kraimer (Hrsg.), Die Fallrekonstruktion (S. 58-153). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Schallberger, P. & Wyer B. (2010). Praxis der Aktivierung: eine Untersuchung von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung. Konstanz: UVK.
Weber, M. (1988). Die «Objektivität» sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 146-214). Tübingen: Mohr.
Auteur
Fachhochschule St. Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit - Professor Doktor, peter.schallberger@fhsg.ch, www.peterschallberger.ch
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