Zusammenfassung
p. 315-319
Texte intégral
1 Jacques Verger
2Ursprünglich ist dieser Band, der Leben und wissenschaftlichem Werk von Franz Ehrle gewidmet ist, so konzipiert worden wie die jenem vorangegangene Tagung. Aus dieser ist der Band hervorgegangen und stellt somit in logischer Weise die Ergänzung und in gewisser Hinsicht den zweiten Teil eines Diptychons dar, das mit der Publizierung der Akten der Tagung zu Heinrich Denifle inauguriert worden ist. Tatsächlich war der Name von Ehrle, Freund und Mitarbeiter Denifles, nicht nur häufig in den Veröffentlichungen des letzteren begegnet, sondern auch unsere Erforschung der Persönlichkeit und der historischen Produktion des gelehrten Dominikaners hatte uns größtenteils von dem Interesse überzeugt, daß es sinnvoll wäre, uns mit einer weiteren großen Persönlichkeit der kirchlichen Gelehrsamkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu beschäftigen, die bis heute Einfluß auf die gesamte Geschichtsschreibung des religiösen und geistigen Lebens des Mittelalters ausgeübt hat.
3Jedoch haben wir auch schnell verstanden, daß Ehrle, obgleich er von bestimmten Blickwinkeln betrachtet nicht von Denifle zu trennen ist, keineswegs nur als einfaches alter ego des Dominikaners zu verstehen ist. Sein Leben, seine Persönlichkeit und sein Werk bieten in vielerlei Hinsicht eine tiefreichende Originalität. So ist es schließlich er selbst, um dessentwegen er vor allem in die Mitte der Forschungsbeiträge gerückt und hier vorgestellt wird. Doch versteht es sich, daß dies selbstverständlich immer im Kontext seiner Zeit und in Verbindung mit denen geschieht, die seine Lehrer, Freunde, Mitarbeiter, Anreger oder auch seine Kritiker waren.
4Der Name Ehrles war gewiß nicht den Historikern der mittelalterlichen Kirchen- und Kulturgeschichte unbekannt, die niemals aufgehört haben, seine Schriften in reichlicher Weise einzusehen und zu benutzen. Es ist denn auch nicht zu schwierig, die großen Phasen eines langen Lebens, das nicht ganz 90 Jahre währte und fast in Gänze im Dienst der Kirche und des Heiligen Stuhles stand, zu erfassen. Aber es bedurfte der Anstrengung, so schien es uns, zu versuchen, den Menschen wiederzufinden – den Gelehrten, den Priester und den Christen –, der sich hinter den Titeln einer beeindruckenden Bibliographie und den skandierten Daten eines Aufstiegs zu einem tadellosen cursus honorum verbarg. Wir beanspruchen im übrigen nicht, daß man in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes eine Antwort auf alle Fragen findet, die man heute noch im Blick auf Leben und Werk von Franz Ehrle stellen kann. Doch denken wir, daß wir immerhin genügend Elemente zusammengetragen haben, um eine große Persönlichkeit des religiösen und geistigen Lebens der Zeit aus dem Schatten der Geschichte heraustreten zu lassen.
5Vielleicht ist noch nicht alles gesagt worden, insbesondere über seine Herkunft, seine Familie, seine Geburt in der kleinen Stadt Isny, die religiösen Traditionen, die in seiner schwäbischen Heimat in den Jahrzehnten, welche der staatlichen Einigung Deutschlands vorausgingen, noch lebendig waren, über seine Berufung, sein Studium und seinen Eintritt in die Gesellschaft Jesu. Warum hat er ausgerechnet diesen Orden gewählt, der ihm sicherlich vieles gab, aber dessen geistiger Tradition er, jedenfalls nach Ausweis seiner historischen Arbeiten, kaum folgte, einer Tradition, die eher die frühneuzeitliche Geschichte oder die Hagiographie bollandistischer Prägung bevorzugte?
6Wie dem auch immer gewesen sein mag, sind wir Ehrles Karriere gefolgt und haben ihn schnell in Rom und der Vatikanischen Bibliothek wiedergefunden, wo sich die wissenschaftlichen Aktivitäten des Gelehrten größtenteils verorten lassen. Das Rom, das er damals entdeckte, war zu Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts das des Papstes Leo XIII. beziehungsweise der Vatikan dieses römischen Oberhirten. Es ergab sich eine ambivalente Situation: Auf der einen Seite zeigte sich das schwere Erbe des posttridentinischen und postrevolutionären Papsttums, auf der anderen Seite die anregende Atmosphäre des kulturellen Aggiornamento, das sich um den neuen Papst entwickelte, gleichsam auch als Reaktion auf die niederdrückenden Jahre des Pontifikatsendes von Pius IX., der von den Bedrohungen der „modernen Lebenswelt“ besessen und überdies vom Verlust der politischen Unabhängigkeit traumatisiert war.
7Die gesamte Karriere – oder fast – von Franz Ehrle spielte sich in diesen Zusammenhängen ab. Nach dem Pontifikat Leos XIII. mußte er sich an das gespanntere Klima anpassen, welches die Zeit Pius‘ X. charakterisierte, der selbst von der antimodernistischen Reaktion geprägt war. Man kann sich vorstellen, daß er sich besser unter dessen Nachfolgern wohl fühlte, insbesondere unter Pius XI., dem er sich geistig näher verbunden wußte, schon aufgrund der gemeinsamen Tätigkeit als Bibliothekar in der Vergangenheit.
8Gleichwohl liegen die fruchtbarsten Jahre seines Wirkens im Pontifikat Leos XIII., die seine wesentlichen Forschungsbeiträge sahen. In einem anderen Rhythmus gingen die Studien Ehrles dann im dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts voran. Sein Œuvre wies vier bedeutende Themenschwerpunkte auf, die weit und zugleich klar konturiert waren:
- die Geschichte der scholastischen Theologie zwischen augustinischer und aristotelischer Ausprägung, wozu sein Interesse an der Geschichte der mittelalterlichen Universitäten und insbesondere der theologischen Fakultäten trat;
- die Geschichte des franziskanischen Ordens, wobei seine Studien von einer besonderen Aufmerksamkeit – und notwendigerweise einer gewissen Sympathie – für die dissidenten Bewegungen der „Spiritualen“ und bestimmten, ein wenig marginalen Persönlichkeiten wie derjenigen Olivis begleitet waren;
- die Geschichte der päpstlichen Bibliothek (und anderer Buchbestände, die auf die Päpste des späten Mittelalters zurückgehen), eine Geschichte, die ihn um so mehr interessierte, als er der direkte Erbe derselben war, nämlich als Präfekt, dann im Kardinalsrang als Bibliothekar und Archivar der römischen Kirche;
- schließlich die Geschichte des Papsttums, der Konzilien und vor allem des Großen Abendländischen Schismas, insbesondere in der letzten Phase desselbigen um die wirkmächtige Gestalt Benedikts XIII. (Pedro de Luna), des Papstes der Avignoneser Obödienz.
9Diese verschiedenen Teile des wissenschaftlichen Werkes von Ehrle sind in den Beiträgen des vorliegenden Bandes sorgfältig untersucht worden. Aus diesen ergibt sich, daß seine Forschungspositionen heute in gewissen Aspekten als diskutabel oder überholt erscheinen können, sich indes die Gesamtheit des Œuvres weiterhin durch Zuverlässigkeit und Kohärenz auszeichnet.
10Franz Ehrle ist also unbestritten ein großer Gelehrter gewesen, sehr gebildet und zugleich sehr streng in seinen gewählten methodischen Zugängen zum Forschungsgegenstand. Er war – ganz im Zeichen des „positivistischen Geistes“ seiner Zeit – stark auf das Studium der Quellen ausgerichtet, von denen er bis dahin unveröffentlicht gebliebene in großer Zahl tadellos ediert hat. Jedoch zeigt sich zugleich, daß die Wissenschaft in ihm nicht die religiöse Besorgnis unterdrückt hat. Die Frage stellt sich im Hinblick auf ihn als einen Menschen des Glaubens, der selbst im Herzen einer kirchlichen Institution lebte und einem stets für Anliegen der Gegenwart empfänglichen Orden angehörte: Hat er nicht die theologischen, spirituellen und pastoralen Implikationen seiner Themen mit starkem Aktualitätsbezug, wie die „franziskanische Frage“, das Problem der Armut, die Beziehungen zwischen Glauben und Vernunft, die Spannungen zwischen der Autorität des Papstes und derjenigen des Konzils, gesehen?
11Die Antwort hierauf – zumindest im Ansatz – ist ohne Zweifel in der Beachtung der feingliedrigen Beziehungen zu suchen, die zwischen Ehrle und dem allgemeinen Kontext seiner Zeit bestanden, sowohl in kirchlicher als auch kultureller oder politischer Hinsicht. Er ist sicherlich empfindsam für die Veränderungen des religiösen und geistigen Klimas im Vatikan unter den Gestalten der aufeinander folgenden Päpste von Leo XIII. bis zu Pius XI. gewesen. Das bedeutet nicht, daß er sich leicht darin tat, den eventuell divergierenden Ausrichtungen, die mit deren Namen verbunden waren, zu folgen. Er besaß eine so gefestigte Persönlichkeit und eine so wache Intelligenz, daß er sich eine gewisse Unabhängigkeit im Denken, wenn nicht auch in der Haltung bewahrte. Gewiß ist er nicht dem Einfluß entgangen, der von der politischen Situation seiner Zeit ausging. Wie alle kirchlichen Würdenträger der römischen Kirche war er sicherlich besorgt um die „römische Frage“, welche die Kurie von 1870 bis zu den Lateranverträgen umtrieb. Nichts deutet darauf hin, daß er die offensichtliche frankophile Einstellung seines Freundes Denifle teilte und folglich wie dieser die unausweichliche Entwicklung hin zu der Trennung von Kirche und Staat im Frankreich des Jahres 1905 als so schmerzlich erlebte. Im Gegenteil dazu hat er wohl aufmerksam die Spannungen in der deutschen Geschichte verfolgt, hervorgerufen durch den Kulturkampf im ausgehenden 19. Jahrhundert und durch den Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf er übrigens nach Deutschland zurückkehrte und die Schriftleitung der jesuitischen Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ übernahm, die Weimarer Republik und schließlich den Aufstieg des Nationalsozialismus, wovon er die ersten Wegstrecken erlebte. Seine Verbundenheit mit Deutschland und dem deutschen Katholizismus ist unbestreitbar, wie seine Bindungen an die Görres-Gesellschaft und sein Einsatz für die Gemeinschaft der jungen deutschen in Rom ausgebildeten Priester während der Zeit als Kardinalprotektor des Campo Santo Teutonico zeigen. Gleichfalls war er ein guter Kenner der britischen Lebenswelt, wo er in seiner Jugend gewesen war.
12Dennoch war die ihn am beständigsten prägende Umgebung selbstverständlich die Vatikanische Bibliothek, wo er jahrzehntelang arbeitete, die höchsten Verantwortlichkeiten ausübte und die engsten Bande, die dauerhaftesten Freundschaften knüpfte. Es ist gewiß, daß er nicht nur ein gewissenhafter, sondern auch ein strenger, wirkungsvoller und innovatorischer Bibliothekar war, wenn es darauf ankam. Er hatte die Gabe, im Team zu arbeiten, und unterhielt herzliche Beziehungen mit den scriptores. Seine Zusammenarbeit mit Heinrich Denifle war, man hat es gesehen, eng und vertrauensvoll, diejenige mit Giovanni Mercati zuweilen etwas gespannter, aber in gleicher Weise dauerhaft.
13Es bleibt noch ein Wort von Franz Ehrle als Kardinal zu sagen. Gewiß wurde ihm die Kardinalswürde erst im hohen Alter von 77 Jahren zuteil. Gleichwohl blieb er in diesem kardinalizischen Rang – dank eines guten allgemeinen Gesundheitszustandes – noch zwölf Jahre und erwies sich als aktiver Amtsträger. Aufgrund seiner Vergangenheit und seiner Persönlichkeit wurde er ohne jeden Zweifel eher mit geistigen, kulturellen und liturgischen Sendungen als mit politischen oder diplomatischen Aufträgen von seiten des Kardinalskollegs betraut. Selbstverständlich kam ihm nicht eine so herausgehobene Rolle wie den Kardinälen Gasparri und Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII., zu. Doch war er auch keinesfalls eine ephemere Gestalt, denn er ist wohl Papst Pius XI. geistig und persönlich ziemlich eng verbunden gewesen.
14Aufs Ganze betrachtet bietet der vorliegende Band mit Sicherheit keine erschöpfende Untersuchung der Gedankenwelt und des Werkes von Franz Ehrle. Jedoch wird jener, so ist zu hoffen, einige tiefergehende Einsichten von diesem Menschen und dieser großen Gestalt vermitteln, die ein wenig erstarrt und körperlos erscheinen mag. Auch wird der Band erlauben, hinter dem Gelehrten und kirchlichen Amtsträger der römischen Kurie das kraftvolle Temperament und den lebendigen Glauben, vielleicht sogar die zuweilen naive Frömmigkeit des Menschen und des Christen zu entdecken. Letzten Endes zeichnet sich ein ganz ausgeglichenes Porträt Ehrles ab: Er war weniger ungeduldig und intransigent als Denifle, weniger zerrissen als Mercati. Er schien eher optimistisch und heiter gewesen zu sein, vielleicht mit ziemlich traditionellen, aber tragfähigen religiösen Überzeugungen, ein unermüdlicher Arbeiter, ein brillanter Historiker und zugleich ein gewissenhafter Forscher, ein Gelehrter, der nicht immer den Vorurteilen seiner Zeit entging, aber der letztlich gemäß dem Ideal seines Mentors Leo XIII. Wissenschaft und Evangelium, Geschichte und Wahrheit, Glauben und Vernunft miteinander zu vereinbaren wußte.
Auteur
Professor em. Dr. Jacques Verger, Universität Paris IV-Sorbonne, Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres – Membre de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, Professeur émérite à l’Université Paris IV-Sorbonne.
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