Der Anruf
p. 43-46
Texte intégral
1 Mit dem Telefon ist Clemens Heller bekanntlich virtuos umgegangen. Wie er telefonisch Differenzen überwand und Verbindungen herstellte, möchte ich anhand zwei kleiner Geschichten illustrieren. Beide beginnen mit einer Frage von Clemens Heller.
2„Haben Sie denn mit Bourdieu gesprochen?“, fragte mich Heller am Ende meines ersten kurzen Aufenthalts an der „Maison des Sciences de l’Homme“ im Frühjahr 1988. Gesprochen? Meinte er tatsächlich „gesprochen“ im Sinne eines Gesprächs?
3Was für eine gefährliche Frage! Denn eigentlich hatte ich gerade drei Monate lang Louis Marin gelesen und Bourdieu etwas vergessen. Oder genauer: Bourdieu kannte ich so gut, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, mit ihm zu sprechen. Er war für mich in erster Linie ein Autor. Alle fortgeschrittenen Studenten in Zürich behaupteten, ohne rot zu werden, dass sie von ihm viel gelernt hätten. Um den eher feinen Unterschied zwischen Büchern und Person doch noch in Erfahrung zu bringen, ging ich auch einmal, aber eben nur einmal, in Bourdieus Vorlesung im Collège de France. Eine gute Stunde vor Beginn des Hochamts fand ich dort gerade noch einen Sitzplatz in der vorletzten Reihe. Niemand der Wartenden unterhielt sich mit dem Nachbarn oder der Nachbarin. Ich war offenbar in eine kollektive Andachtsstunde geraten. Für einen kurzen Moment unruhig wurde es erst, als um 11 Uhr ein großer, massiger Mann mit Schnurrbart vor die Zuhörerschaft trat. Ich hatte mir Bourdieu ganz anders vorgestellt, fand aber nicht die Zeit, die überraschende realkörperliche Erscheinung des berühmten Soziologen einzuordnen, da dieser bereits tief Luft holte und mit kräftiger Stimme verkündete: „Monsieur le professeur!“ Worauf ein zweiter Bourdieu hinter dem Rücken des ersten hervorhuschte und die Notizen seiner Vorlesung zu ordnen begann. An mehr erinnere ich mich nicht, außer an das Rattern, das genau 45 Minuten später durch die erste Reihe ging, wo die ganz eifrigen Jünger saßen und ihre Tonbandkassetten, so schnell es nur ging, wenden mussten.
4„Habn’s denn mit Bourdieu gesprochen?“, hörte ich Heller nochmals fragen. „Gesprochen nicht, aber seine Vorlesung besucht“, lautete mein ungeschickter Versuch, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Heller öffnete von seinem Stuhl aus die Bürotür. Nicht um mich rauszuwerfen, sondern um einen einfachen Aussagesatz aus dem Büro zu entlassen, der mir wie die Ankündigung großen Unheils vorkam: „Tu me passes Pierre Bourdieu au téléphone.“ Das war alles in einem: eine sachliche Feststellung, eine verbindliche Anordnung an vier oder fünf Sekretärinnen, eine erzieherische Maßnahme mir gegenüber, ein professioneller Vernetzungsversuch und selbstverständlich ein Angriff auf Bourdieus Kalender. „Allô Pierre, je t’embête (?)“, sagte (oder fragte) Heller in den Telefonhörer, als das Unvermeidliche eingetreten und die Verbindung hergestellt war. Es ist nicht auszuschließen, dass Bourdieu ein wesentlich kräftigeres, aber ähnlich klingendes Verb gehört hat. Es half nichts. Er musste Hellers Eröffnungsfrage verneinen und damit fast zwangsläufig dessen eigentliches Ansinnen bejahen. Heller reichte mir lächelnd den Hörer weiter und sagte: „Bourdieu will sich mit Ihnen treffen.“
5Heller und ich blieben in Kontakt. Und manchmal klingelte das Telefon in Zürich auf Französisch. Ich vernahm zunächst einen mit weiblich unterkühlter Stimme rasend schnell gesprochenen französischen Satz, der mit „un instant, s’il vous plaît“ oder so ähnlich endete. Nach einer Weile hörte ich dann Hellers Stimme: „Allô Gugerli, ruf ich Sie an oder Sie mich?“
6Ich glaube, dass sich dieser kuriose Sprechakt auf eine wissenschaftspolitische Unwägbarkeit bezieht, die Heller produktiv gemacht hat und die seine Gesprächspartner in Ministerien, Stiftungen, Universitäten und Instituten gerade soweit verunsicherte, dass er sein multilaterales Verhandlungsspiel eröffnen konnte. „Ruf ich Sie an oder Sie mich?“ war das Angebot einer fiktiven Gleichstellung. Ansinnen, Aufforderung, Absicht und Auftrag wurden auf beiden Seiten der Verbindung für einen kurzen Moment nebeneinandergestellt. Heller hätte beide theoretisch möglichen Antworten auf seine Frage zugelassen. Er wusste aber ganz genau, dass er noch etwas Anderes auslöste. Die Antwort „Sie mich!“ hätte entweder ein völlig deplatziertes „Strammstehen in Zürich“ signalisiert, oder sie hätte Heller ganz ungebührlich in die Position des Bittstellers versetzt. Diese Antwort kam also nicht in Frage. Die gegenteilige Antwort aber wäre nicht wahr gewesen und hätte mich zudem in die unangenehme Lage versetzt, ein Anliegen ad hoc ersinnen zu müssen. Es blieb nichts anderes übrig, als das schwebende Verhältnis aufrecht zu halten und zu sagen: „Ich glaube, Sie mich.“
7Die kommunikative Mikromechanik eines solchen Anrufs war geprägt von einem feinen Sinn für die Frage, wer in der Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsverwaltung das Sagen hat, wer wen beauftragen kann, wer wen ins Gehör nimmt und wer wen anruft, und dass sich diese Verhältnisse, jedenfalls für Heller, jederzeit auch wieder anders darstellen können. Hellers Frage „Ruf ich Sie an oder Sie mich?“ hieß auch, dass es ihm weder um klientelistische Strukturen noch um das feudalistische Prinzip von Schutz gegen Gehorsam ging. Vielmehr ging es ihm um die Pflege einer wechselseitigen, produktiven Abhängigkeit zwischen Partnern, die zwar unterschiedlichen Systemzwängen unterliegen mochten, aber gemeinsame Leistungen erbringen konnten, wenn sie ihre Affinität für intellektuelle Risiken teilten.
8Darüber hinaus rechnete ein Anruf, der mit „Ruf ich Sie an oder Sie mich?“ begann, ganz grundsätzlich mit vielen möglichen Anrufen, die in viele Richtungen gingen und aus vielen Richtungen kamen – solchen, die noch heute anstanden, solchen, die es später zu veranlassen galt, solchen, die längst erwartet wurden und solchen, die man getrost weiterleiten konnte.
9Clemens Heller hat sein intellektuelles Engagement gerne hinter dem Titel des Administrateur kaschiert und hätte wohl nicht viel mit der Nobilitierung zum „intellektuellen Entrepreneur“ anfangen können. Er selber hätte sich eher einen Titel aus der Welt des Theaters besorgt, war Intendant, Regisseur und Souffleur zugleich. Am Telefon jedenfalls war er, wie im direkten Gespräch, ein virtuoser Operateur mitten im Stimmengewirr einer europäischen Wissenschaftslandschaft, die sich seit den frühen 1990er Jahren leider ohne sein Zutun verändert hat. Heute würde Hellers Frage wenig Sinn machen, und das liegt nicht an den jeden Anrufer sofort verratenden Displays. Es könnte aber sehr wohl daran liegen, dass Anrufe zwischen Funding Agencies und Universitäten vornehmlich die Form von Anträgen angenommen haben, die eine Unzahl von Calls beantworten – calls for papers, calls for proposals und calls for projects. Eher selten geht es dabei um intellektuelle Neugier, Lust und Partnerschaft. Im Vordergrund steht vielmehr ein überstrukturiertes Überangebot von Calls und Proposals, bei denen weitgehend klar ist, wer im harten Wettbewerb um das Klingeln der Kassen auf wen zu hören hat und wer dafür wen anrufen muss1.
Notes de bas de page
1 Ich danke Joachim Nettelbeck für den Einblick in die erste Langfassung seiner noch immer unveröffentlichten Studie über „Clemens Heller und die Maison des Science de l’Homme“. Sie zeigt, dass die eben wiedergegebenen Telefon-Anekdoten nicht singuläre Erfahrungen mit Heller einfangen. Meine erste Begegnung mit Nettelbeck ergab sich im Übrigen, ganz untelefonisch, auf dem Flur vor Hellers Büro, wo ich ihn in Begleitung von Rudolf Vierhaus antraf.
Auteur
Professeur d’histoire de la technique à la Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (École polytechnique fédérale de Zurich). Premier séjour de recherche à la Maison des sciences de l’homme en 1988.
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