Nachwort
p. 175–178
Texte intégral
1Der vorliegende Text schreibt die methodologischen Überlegungen perspektivisch fort, die das Projekt »OwnReality. Jedem seine Wirklichkeit. Der Begriff der Wirklichkeit in der Bildenden Kunst in Frankreich, BRD, DDR und Polen zwischen 1960 und 1989« in den sechs Jahren von 2011 bis 2017 belebten. Finanziert durch ein Starting Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC), kamen in diesem Projekt Doktorand/innen der Kunstgeschichte und Postdoktorand/innen der Philosophie zusammen, die zu den künstlerischen Beziehungen zwischen dem Osten und dem Westen Europas während des Kalten Krieges forschten und sich dabei insbesondere für die vier Länder Frankreich, BRD, DDR und Polen interessierten.
2Das so umrissene geografische Gebiet gestattete es, im Gesamtkomplex des Kalten Krieges ein erhebliches Spektrum an denen der damaligen Supermächte USA und UdSSR entgegengesetzten Haltungen in den Blick zu nehmen. In Frankreich sorgte die Bedeutung der Kommunistischen Partei für besondere Beziehungen zur UdSSR und nährte zugleich eine gewisse Furcht vor dem sowjetischen Regime. Gleichwohl hatte sich das Land nicht nach den Positionen der USA ausgerichtet, sondern immer wieder seine Autonomie bekräftigt. Deutschland, seit 1949 in zwei Staaten geteilt, erschien auf europäischem Gebiet als Inbegriff des Wettbewerbs zwischen distinkten soziopolitischen und ökonomischen Modellen, dem sich die beiden den Kalten Krieg orchestrierenden Supermächte verschrieben hatten. Die zum Teil von den USA besetzte BRD ließ das amerikanische Modell erstrahlen, derweil die DDR als einer der treuesten Vasallen Moskaus galt. Polen gab hinsichtlich der Verbindungen zu den beiden Blöcken ein anderes Bild ab. Wiewohl Satellitenstaat der UdSSR, hat man dort nach Stalins Tod immer wieder eine eigensinnige Deutung der von Moskau vorgeschriebenen Parteilinien an den Tag gelegt. Nach einer relativen Öffnung seit Mitte der 1950er-Jahre hatte das Anfang der 1980er-Jahre verhängte Kriegsrecht das Land im Würgegriff.
3Auch war anhand dieser vier Länder zu beobachten, dass der Austausch in Europa ausgesprochen unausgewogen verlief. Wurden aus Frankreich zahlreiche Blicke auf die Kunst in der BRD und ebenso viele aus der BRD auf die Kunst in Frankreich geworfen, so galt dies weitaus weniger für die Blicke des Westens auf die Länder des Ostens oder die der Letzteren untereinander. Polen galt bei DDR-Staatsangehörigen als sehr liberal, wussten sie doch, dass sie dort Schallplatten und Bücher kaufen konnten, die im eigenen Land zensiert waren. In Fragen der künstlerischen Praktiken wurden die Blicke gleichwohl weniger zwischen Polen und der DDR gekreuzt als vielmehr auf andere sozialistische Länder oder die Kunstszenen in den Ländern des Westens gerichtet.
4Im Rahmen von kunsthistorischen Forschungen nach den künstlerischen Beziehungen zwischen dem Osten und dem Westen während des Kalten Krieges zu fragen, stellte zu Beginn des Projekts im Jahr 2011 noch eine Ausnahme dar. Die exemplarischen Unternehmungen dieser Art waren noch an einer Hand abzuzählen, und die Konzeptualisierung möglicher Verbindungen zwischen den beiden Räumen war noch nicht so weit gediehen, wie es mittlerweile der Fall ist. Um die Beziehungen an konkreten Beispielen festmachen zu können, konzentrierten sich die Untersuchungen auf die Phase nach der Entstalinisierung, genauer auf die Zeitspanne zwischen dem Bau der Mauer 1961 und ihrem Fall 1989, in der das Verhältnis zwischen West- und Ostblock durch eine gewisse Lockerung gekennzeichnet war. Diese Auswahl sollte die Themenfindung für Fallstudien erleichtern und es zugleich erlauben, den Spuren Aufmerksamkeit zu schenken, die die Frühzeit des Kalten Krieges in den künstlerischen Konzeptionen und Debatten hinterlassen hat.
5Darüber hinaus hatten in der gewählten Periode die Begriffe des Wirklichen (réel) und der Wirklichkeit (réalité) besondere Bedeutung erlangt. Diese waren deshalb in den Forschungen des Projekts zur Kunst in Frankreich, der BRD, der DDR und Polen als Gegenstand wechselseitiger Auseinandersetzungen von hohem Interesse. Denn die oft mit Vehemenz aufgeworfene Realitätsfrage hat in den Diskussionen, die zwischen 1945 und 1960 die Denkarbeit an den Konzeptionen des Sozialistischen Realismus beziehungsweise der Abstraktionen befeuerten, erheblichen Raum eingenommen. Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre nahmen die Debatten im Osten wie im Westen neue Richtungen, die in unterschiedlichen Auffassungen vom Realen und von der Realität zum Tragen kamen. Diese verdienen besondere Aufmerksamkeit, da sie sämtliche Kunstschauplätze betreffen und auf ein programmatisches Anliegen hindeuten, die künstlerischen Praktiken in Zeit und Raum zu situieren – was es uns erlaubte, eine Kernfrage des Schöpferischen in den Mittelpunkt der Untersuchung der künstlerischen Beziehungen zu rücken.
6Die hier vorgelegten Reflexionen speisen sich auch aus den regelmäßigen Begegnungen der aus französischen, deutschen und polnischen Forschenden zusammengesetzten Gruppe. Einte deren Mitglieder das Studium der Beziehungen und des Begriffs des Wirklichen und der Wirklichkeit, so galt es in dem Projekt doch zugleich, ein ausgeprägtes Sensorium für jeweils eigene Ausdrucksformen und je nach akademischer Ausbildung unterschiedliche Interpretationsansätze zu entwickeln.
7Ferner ermöglichte das Projekt Forschungsaufenthalte in Frankreich, Deutschland und Polen, dank derer ich die Archives de la critique d’art in Rennes ebenso konsultieren konnte wie die Archive des Musée national d’Art moderne in Paris, des Musée d’Art moderne de la Ville de Paris und der Akademie der Künste in Berlin, die Bibliotheken von Leipzig und Dresden, die Archive der Galeria Foksal und des Instytut Sztuki Pan, beide in Warschau, sowie das des Kunstmuseums in Łódź. Bis dato unveröffentlichte Quellen auf Französisch, Deutsch und Polnisch konnten so ans Licht gehoben werden; Beispiele dafür wurden in diesem Buch in Gestalt einiger Texte von deutschen, französischen und polnischen Kunstkritikern, Galeristen und Künstlern zur Ansicht gebracht.
8Die vorliegende Publikation versteht sich weniger als ein vollendetes Werk, sondern will vielmehr anhand einer Reihe ineinandergreifender Beobachtungen den Stand der Reflexionen präsentieren und dazu einladen, die Wege zu erkunden, auf denen sich die künstlerischen Beziehungen zwischen dem Osten und dem Westen im Europa des Kalten Krieges ins Auge fassen lassen. Jeder hier referierte Fall eröffnet eine Perspektive, legt eine Facette eines Gegenstands frei, ein Unterfangen, das sich unendlich fortschreiben lässt.
9Paris, September 2017
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