Schluss
p. 169–173
Texte intégral
1In De la critique postuliert Luc Boltanski die Notwendigkeit, die Wirklichkeit und die Welt, auf denen er das begriffliche Gerüst der Reflexion über die Möglichkeiten der Kritik aufbaut, auseinanderzuhalten:
»Die Frage der Beziehung zwischen einerseits dem, was sich zu behaupten vermag, und andererseits dem, was von Ungewissheit betroffen ist und somit der Kritik den Weg eröffnet, kann nicht vollständig entfaltet werden, wenn man sich auf einer einzigen Ebene situiert, welche die der Wirklichkeit wäre. Tatsächlich tendiert in einem zweidimensionalen Koordinatenraum die Wirklichkeit dazu, mit dem zu verschmelzen, was sich in gewissem Sinn aus eigener Kraft zu behaupten scheint, das heißt mit der Ordnung, in welchem Fall nichts die Infragestellung dieser Ordnung, wenigstens in ihren radikalsten Formen, zu verstehen erlaubt. Eben diese Anschauung war übrigens die tragende Säule der – breiten Erfolg versprechenden – Soziologien, die den Schwerpunkt auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit legten. Unter solchen Bedingungen von der Wirklichkeit zu sprechen, läuft aber darauf hinaus, ihre Reichweite zu relativieren und dadurch nahezulegen, dass sie sich vor einem Grund abhebt, von dem sie nicht aufgesogen werden kann. Diesen Grund werden wir die Welt nennen, betrachtet als – um Wittgensteins Formel aufzugreifen – ›alles, was der Fall ist‹. […] Genauso kann man sich zwar vornehmen, die Wirklichkeit zu erkennen und darzustellen, der Vorsatz aber, die Welt in ihrer vermeintlichen Gesamtheit zu beschreiben, liegt in niemandes Reichweite. Dennoch manifestiert sich etwas von der Welt immer genau dann, wenn Ereignisse oder Erfahrungen, deren Möglichkeit – oder, in der Sprache der modernen Gouvernementalität, deren ›Wahrscheinlichkeit‹ – nicht in den Wirklichkeitsentwurf eingebettet war, im Sprechen vergegenwärtigt werden und/oder ins Register der individuellen oder kollektiven Handlung Eingang finden […].«
2Die Kritik erwächst namentlich aus dem Widerspruch zwischen der etablierten Wirklichkeit und der Welt:
»Die Möglichkeit der Kritik leitet sich ab von einem im Kern der Institutionen sitzenden Widerspruch, den wir als hermeneutischen Widerspruch beschreiben. Die Kritik wird demnach in ihrer dialogischen Beziehung zu den Institutionen betrachtet, denen sie auf zwei Weisen entgegentritt: Entweder sie beweist, dass die Prüfungen [épreuves], so wie sie stattfinden (das heißt als Vorkommnisse oder, wie die analytische Sprachphilosophie sie nennt, als Token), nicht mit ihrem Format (oder ihrem Typ) übereinstimmen, oder sie schöpft aus der Welt der Beispiele und Fälle, die, zur Wirklichkeit, so wie sie etabliert ist, im Widerspruch stehend, gestatten, die Wirklichkeit der Wirklichkeit anzufechten und von daher ihre Konturen zu verändern.«302
3Der Gedankengang, den wir rund um das Begriffspaar »wirklich« und »Wirklichkeit« entfaltet haben, hat uns gleichfalls festzustellen erlaubt, dass sich die unterschiedlichen Beziehungen zwischen dem Werk und der Wirklichkeit auf zwei grundverschiedene Konzeptionen zurückführen lassen, die nichts mit Stil, Form und geografischem Raum zu tun haben. Diese Konzeptionen schreiben sich in die fortlaufende Auseinandersetzung um die Mimesis ein, die in Fortführung der Theorien seit Platon und Aristoteles zwei Modalitäten des Diskurses über die Wirklichkeit in ein Spannungsverhältnis zueinander versetzt hat.
4So konnten wir einerseits eine Konzeption erkennen, die die nachgeahmte Sache und deren getreue Wiedergabe in der Darstellung in den Vordergrund rückt: Die Mimesis wird demnach verstanden als Streben des Künstlers nach Identität zwischen Darstellung und Vorlage (oder zwischen Abbild und Vorbild). Diese Konzeption macht das Wirkliche und die Wirklichkeit zu einem dem Werk äußerlichen Bezugsfeld, das eigenen Regeln gehorcht und in dem das Werk als ein Ersatz fungiert. In Das Ende der Kunstgeschichte? veranschaulicht Hans Belting dies anhand eines skizzierten Verzeichnisses der Bezugnahmen auf die Wirklichkeit, aus denen die Werke schöpfen:
»Künstlerische Nachahmung heißt demnach, erfahrene Realität oder Erfahrung von Realität zu artikulieren. [Dieser Realitätsbezug besteht selbst im Fall extremer ästhetischer Camouflage oder Verschlüsselung. Dies gilt für die Kunst des 20. Jahrhunderts in einem Maße, das sich nicht vorhersehen ließ. Ich denke an den geradezu mystischen Realitätsanspruch in der abstrakt genannten Kunst, an ihre Bestrebungen, das Unsichtbare sichtbar zu machen oder die Naturgesetze zur Anschauung zu bringen, die unter der vertrauten Oberfläche der Dinge verborgen sind.] Wenn Max Beckmann davon sprach, ›die Magie der Realität in Malerei zu übersetzen‹, und Paul Klee sagte, ›Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar‹, [so bezogen beide die Kunst auf die Realität. Realität ist nie das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Selbst die augenscheinliche Antithese zur Abstraktion, der Hyperrealismus, ist nur eine weitere Wahrnehmungsstrategie und als solche nicht grundlegend anders. Denn die Abbildung der Realität ist nicht allein eine Sache technischen Geschicks. Nicht einmal die Fotografie, das Medium des objektiven Dokuments schlechthin, hat seine Versprechungen gehalten: In den Händen und durch die Augen der Fotografen ist sie zu einem in höchstem Maße persönlichen Mittel der Realitätsdeutung geworden.]«303
5So kann die Wirklichkeit von jeglicher Beschaffenheit sein: materiell, immateriell, statisch, in Bewegung oder prozessual, einzigartig oder vielfältig. Sie kann sowohl ein Objekt sein als auch marxistisch-leninistische Dialektik oder Spiritualität. Die Konzeption, die das Werk zu einem Ersatz innerhalb dieses Bezugsfelds macht, befragt das Werk nicht hinsichtlich dessen, was es ist und was es bewirkt. Vielmehr wird das Werk von der ihm äußerlichen Wirklichkeit kolonisiert. Es legt von diesem Äußeren Rechenschaft ab. Eine solche Konzeption findet sich in den Diskursen des Ostens wie in denen des Westens gleichermaßen.
6Diese Konzeption, die die Wirklichkeit so setzt, als könne sie für gegeben gelten und als könne die Kunst auf sie verweisen, hat der deutsche Kunsttheoretiker Konrad Fiedler 1887 als »naiven Realismus« bezeichnet. In seiner Abhandlung Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit kolportiert er die »Einsicht, daß wir ein Wirkliches immer nur als Resultat eines Vorganges besitzen können, dessen Schauplatz wir selbst als empfindende, wahrnehmende, vorstellende, denkende Wesen sind«.304 Demnach kann andererseits vor der Folie der instituierenden und normativen Diskurse die Wirklichkeit auch im Zentrum von Diskursen stehen, die die Wirklichkeit der gegebenen Wirklichkeit, so wie sie etabliert ist, infrage stellen. Vermittels der Wirklichkeit bekundet sich die Notwendigkeit, das zu befragen, was sich im Werk ereignet.
7Diese zweite Konzeption rückt im Werk die erfinderische, prozessuale, wirklichkeitserzeugende Dimension einer Beziehung nach außen in den Vordergrund, sodass sich ein direkter Zusammenhang zwischen der Mimesis und der Poïesis – demjenigen, das die Kunst hervorbringt – zu erkennen gibt.305 Die Kunst wird im Hinblick auf dasjenige betrachtet, was sie an äußeren Referenzen transformiert und was sie an Einzigartigem erfindet in jener Kluft, die sie auf dem Gebiet des Etablierten eröffnet – und eben auf diesen performativen Aspekt zielt der Begriff der Wirklichkeit in dieser zweiten Konzeption.306
8Kann man zwischen der Unterscheidung von Wirklichkeit und Welt, wie wir sie Boltanski haben verwenden sehen, und den beiden genannten Konzeptionen, deren eine als etabliert erscheint und deren andere destabilisierenden Charakter hat, Parallelen ziehen,307 so haben wir im Zusammenhang der Analyse der Diskurse über die Kunst dem Begriffspaar »Wirkliches« und »Wirklichkeit« den Vorzug gegeben, um die verschiedenen Konzeptionen kenntlich zu machen. Dieses Vorgehen verpflichtet dazu anzuerkennen, dass während des Kalten Krieges Konzeptionen eines Zusammenspiels von Mimesis und Poïesis mit solchen koexistiert haben, die auf dem Gegensatz der beiden Termini beruhten. Beide konnten mitunter in ein und demselben Diskurs miteinander verwoben sein, und beide waren im einen wie im anderen der Blöcke durchaus lebendig.
9Je nachdem, ob Kunst als Widerspiegelung der Gesellschaft verstanden, in ihrer poïetischen Dimension gesehen oder in Kombination verschiedener Größenordnungen betrachtet wird, zeichnen sich andere Beziehungen ab. Nationalen Grenzen, ideologischen und stilistischen Beschränkungen sowie geteilten Erfahrungen kam in Abhängigkeit von der Herangehensweise eine jeweils eigene Stellung zu. Anhand solcher vermittels des Begriffs getroffener Unterscheidungen lässt sich in den Blick nehmen, was einer Suche nach Normen und Kategorisierungen geschuldet ist und was der Aufmerksamkeit für das, was im und durch das Werk geschieht. Entsprechend der jeweiligen Sicht auf die Beziehung zwischen der Kunst und der Realität sind die künstlerischen Diskurse und Praktiken anders ausgerichtet, oftmals ambivalent und veränderlich im Laufe der Zeit. Indem man es unternimmt, die zugrunde liegenden Auffassungen zu befragen, rücken Aspekte ins Zentrum der Untersuchung, die für die Definition von Kunst maßgeblich sind und durch die es möglich sein wird, erneut zu erkunden, was künstlerische Beziehungen ausmacht.
Notes de fin
302 Boltanski 2009 (Anm. 87), S. 14 f.
303 Belting 1983 (Anm. 88), S. 30. Anm. d. Übers.: Gegenüber dem veröffentlichten deutschen Text abweichender Wortlaut der französischen Ausgabe (L’Histoire de l’art est-elle finie?, Paris 1989, S. 56 f.) wurde von mir übersetzt und durch eckige Klammern gekennzeichnet.
304 Konrad Fiedler, Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit, Leipzig 1887, S. 9, online: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/fiedler_kuenstlerische_1887/?hl=naiven&p=21.
305 Winfried Nerdinger, »Zur Entstehung des Realismus-Begriffs in Frankreich und zu seiner Anwendung im Bereich der ungegenständlichen Kunst«, in: Städel-Jahrbuch, 5, 1975, S. 227–246; Klaus Herding, »Mimesis und Innovation. Überlegungen zum Begriff des Realismus in der bildenden Kunst«, in: Klaus Oehler (Hg.), Zeichen und Realität. Akten des 3. Semiotischen Kolloquiums der Deutschen Gesellschaft für Semiotik e.V. Hamburg, 3 Bde., Hamburg 1981, Bd. 1, S. 83–113; Maria Poprze̜cka (Hrg.), Rzeczywistość – realizm – reprezentacja (Beiträge zu Ehren von Mięczysław Pore̜bski), Warschau 2001; Catherine Perret, Les porteurs d’ombre. Mimesis et modernité, Paris 2001; Andreas Beyer und Dario Gamboni (Hg.), Poiesis. Über das Tun in der Kunst, Berlin und München 2014; Mathilde Arnoux, »Le thème de la réalité dans les expositions d’art contemporain organisées par les musées de RFA dans les années 1970«, in: Revue germanique internationale, 25: Mimesis. Perspectives allemandes, 2015, S. 115–129, online: http://rgi.revues.org/1563.
306 Mit Blick auf die Poetik des Aristoteles beschreibt Catherine Perret in ihrem Buch Les porteurs d’ombre. Mimesis et modernité von 2001 (Anm. 305), S. 278 f., sehr präzise die poetische Dimension der Mimesis: »Man muss Aristoteles’ Text aus seinem Rahmen lösen, ihn nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der tragischen Wirkung lesen, sondern in der Perspektive der mimetischen Tätigkeit, um gleichzeitig den Sinn dieser Tätigkeit und ihre besondere Modalität wahrzunehmen. Die mimetische Tätigkeit, das heißt die durch die Kunst ins Werk gesetzte Tätigkeit, zielt darauf, die der eigentlichen Tätigkeit innewohnende Wiederholung zu mobilisieren und diese Wiederholung in das Dispositiv einer Einschreibung umzuwandeln, das einen Sockel, einen Grundstein zu bilden vermag. Die Mimesis bezieht somit aus der Wiederholung ein symbolisches Dispositiv, dessen Besonderheit es ist, auf einer Logik von Taten, auf einer Logik des Handelns zu beruhen. In diesem Sinne ist die mimetische Tätigkeit selbst keine Tätigkeit, sondern eher eine Artikulation, eine Komposition von Tätigkeiten, die die Wiederholung von vornherein verdoppelt und ihr Komplexität verleiht. Die Mimesis zu erfassen, besteht darin, diese artikulatorische Komplexität zu erfassen, und die Erzeugnisse der Mimesis sind so zu begreifen, wie Claude Lévi-Strauss möchte, dass man sich den Mythen nähert: nicht als einem von links nach rechts zu lesendem und in Entzifferungseinheiten zu zerlegendem Text, sondern wie eine Orchesterpartitur von oben nach unten, und dabei zu berücksichtigen, dass ›alle Noten auf derselben Vertikalen eine große Teileinheit, ein Beziehungsbündel‹ bilden. Das mimetische Objekt ist buchstäblich eine Struktur, die es aus der Vielfalt ihrer Operationen zu denken gilt.« Vgl. Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, Frankfurt am Main 1967, S. 233.
307 Verwiesen sei hier auch auf Blaise Benoits differenzierende Bezugnahme auf die Verwendung der Begriffe »Realität« und »Wirklichkeit« bei Friedrich Nietzsche, Ausdruck auch sie einer Spannung zwischen einer Art konstruierter Fiktion zwecks Stabilitätsfindung in der Welt und der als ungreifbares und chaotisches Werden aufgefassten Wirklichkeit, zu der die Erfahrung gleichwohl Zugang gewährt; Blaise Benoit, »La réalité selon Nietzsche«, in: Revue philosophique, 131, 4, 2006, S. 403–420, hier S. 405 f; zitiert in: Boltanski 2009 (Anm. 87), S. 403–420, online: https://0-www-cairn-info.catalogue.libraries.london.ac.uk/revue-philosophique-2006-4-page-403.htm#.
Le texte seul est utilisable sous licence Licence OpenEdition Books. Les autres éléments (illustrations, fichiers annexes importés) sont « Tous droits réservés », sauf mention contraire.
Juger des arts en musicien
Un aspect de la pensée artistique de Jean-Jacques Rousseau
Marie-Pauline Martin
2011
Reims, la reine des cathédrales
Cité céleste et lieu de mémoire
Willibald Sauerländer Jean Torrent (trad.)
2018
La réalité en partage
Pour une histoire des relations artistiques entre l’Est et l’Ouest en Europe pendant la guerre froide
Mathilde Arnoux
2018
Marix und die Bildtapete La prise de la smala d’Abd el-Kader
Mit Théophile Gautiers Bericht über seinen Besuch im Herrenhaus Ludwigsburg 1858
Moya Tönnies
2020
Peindre contre le crime
De la justice selon Pierre-Paul Prud’hon
Thomas Kirchner Aude Virey-Wallon (trad.)
2020
Geteilte Wirklichkeit
Für eine Geschichte der künstlerischen Beziehungen zwischen Ost und West im Europa des Kalten Krieges
Mathilde Arnoux Stefan Barmann (trad.)
2021
Krieg als Opfer?
Franz Marc illustriert Gustave Flauberts Legende des Heiligen Julian
Cathrin Klingsöhr-Leroy et Barbara Vinken
2021
Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre de Charles Le Brun
Tableau-manifeste de l’art français du XVIIe siècle
Thomas Kirchner Aude Virey-Wallon (trad.)
2013
Heurs et malheurs du portrait dans la France du XVIIe siècle
Thomas Kirchner Aude Virey-Wallon (trad.)
2022