Horace Vernets Gemälde La prise de la smala d’Abd el-Kader
p. 23–27
Texte intégral
1Ab 1838 ließ der Vater des Herzogs, König Louis-Philippe I., den ersten Stock des Nordflügels von Schloss Versailles mit drei großen Galeriesälen ausstatten, die der Eroberung Nordafrikas gewidmet waren: die »Salles d’Afrique«. Er plante, die unter seiner Herrschaft erzielten Erfolge des französischen Militärs in Gemälden zu vermitteln, und verknüpfte damit Kolonialpolitik und Kunst.20 Der hierfür vom König ausgewählte Maler, Horace Vernet (1789–1863), hatte 1839 aus praktischen Gründen sein Atelier bereits direkt in den ersten Stock des Versailler Schlosses verlegt und malte in den zukünftigen Ausstellungsräumen des königlich-militärgeschichtlichen Museums. Am 3. August 1843, etwa drei Monate nach dem Überfall seines Sohnes auf die Smala Abd el-Kaders, besichtigten Louis-Philippe und Vernet im Versailler Schloss einen leeren Raum, der in Nachbarschaft zu der kurz vorher fertiggestellten, der Schlacht bei Constantine und damit der Eroberung Tunesiens gewidmeten »Salle de Constantine« lag. Der neue Raum seiner Nordafrika-Galerie war für die Eroberung der Smala vorgesehen und wurde fortan »Salle de la Smalah« genannt. Am 16. September 1843 beauftragte der König Vernet mit einem Gemälde für 220 000 Francs, das die mit Rahmen und Sockel 23 Meter lange und acht Meter hohe Westwand des Saales vollständig bedecken und den Titel La prise de la smala d’Abd el-Kader tragen sollte. Der Künstler nahm im Mai 1844 seine Arbeit an dem Bild auf und vollendete es zehn Monate später, im Februar 1845.21
2Vernet gehörte zu den offiziellen Malern, die König Louis-Philippe I. zur Begleitung der Truppen nach Algerien geschickt hatte. 1833 kam er zum ersten Mal nach Algier, erwarb Besitzungen und beobachtete bei seinen Reisen Bewohner des Landes mit größter Genauigkeit.22 Er entwickelte dabei die Auffassung, dass Gebärden und Kleidung insbesondere der Nomaden Nordafrikas mit denen der Menschen in der biblischen Antike identisch seien. Er sprach von »biblischen Gedanken«, die er beim Anblick algerischer Familien habe: »Nichts kann uns eine bessere Vorstellung von unseren Vätern im Lande Kanaan geben.«23 Für seine Malerei ergab sich daraus eine Abkehr vom traditionellen Darstellungsstil biblischer Figuren. Nicht nur trugen sie bei ihm nicht mehr die Züge hellhäutiger Nordeuropäer, sondern sie waren nun, auch in ihrer Kleidung, angelehnt an die Erscheinung algerischer Nomaden. Vernet musste sich vor der Akademie dafür verantworten und seine Auffassung mit Skizzen von seinen Algerienreisen belegen. Noch 1856 verfasste er zu seiner Rechtfertigung eine Streitschrift über die Beziehungen zwischen der Bekleidung der alten Hebräer und zeitgenössischer Araber.24
3Bei der Eroberung der Smala war Vernet nicht anwesend. Dokumentiert ist, dass der König bereits siebzehn Tage nach dem Ereignis den Herzog von Aumale um Skizzen vom Kampf um die Smala bat und ihn ersuchte, durch seinen persönlichen Augenzeugenbericht an einem Bild mitzuwirken. In seinem Gratulationsbrief zur Schlacht schrieb er am 2. Juni 1843 an seinen Sohn:
»Ich wünsche auch, dass Du mir von allen diesen Orten Skizzen machen lässt, die für ein großes Schlachtengemälde gebraucht werden sollen und für möglichst viele kleinere Bilder der verschiedenen Aktionen und Episoden. Ich hoffe, dass Du den Maler wirst selbst anleiten können.«25
4Auf dem 4,89 Meter hohen und 21,39 Meter breiten Gemälde26 ist, geschichtet, gedrängt und sich teilweise überdeckend, eine Vielzahl von Szenen zu sehen, die ganz offensichtlich über die Schilderungen des Herzogs hinausgehen. Die Fülle der einzelnen Handlungen macht das Gemälde unübersichtlich, und beim ersten Anblick ist der gesamte narrative Gehalt nicht zu erfassen (Abb. 3). Vernet schöpfte bei der Herstellung des Bildes aus dem Skizzenfundus seiner eigenen Beobachtungen des Alltagslebens der algerischen Nomaden, bis hin zur exakten Abbildung ihres Küchengeräts bei der Zubereitung von Essen. Er stellte mit Präzision die Kleidung der Frauen dar, ihre Haartracht, den Aufbau der Sänften, in denen sie auf Kamelen ritten, die Webart und Muster ihrer Satteltaschen. Er schmückte die weißen Gewänder der Männer nicht aus, sondern zeigte die Burnusse der Wüstenbewohner in ihrer Schlichtheit; dafür aber malte er die komplizierten Faltenwürfe der Überhänge sicher und kenntnisreich. Vernet hatte also nicht nur mit größter Sorgfalt die französischen Uniformen studiert, sondern auch die von Abd el-Kaders cavaliers rouges. Er kannte die Fahnen der Gegenseite und den Schmuck ihrer Pferde. Im Hintergrund des Bildes schließlich leuchten die weißen Zelte Abd el-Kaders. Sie sind das eigentliche Ziel der französischen Expedition und des Wunsches, die Überlegenheit des faszinierenden, vor seiner Eroberung genau studierten Gegners zu brechen.
Abb. 3: Horace Vernet, La prise de la smala d’Abd el-Kader, 1845, Öl auf Leinwand, 4,89 × 21,39 m, Versailles, Schloss Versailles, Salle de la Smalah

Abbildungsnachweis: © Château de Versailles, bpk / RMN-Grand Palais, Foto: Thomas Garnier, Quelle: https://www.photo.rmn.fr/archive/19-546050-2C6NU0AH1K9R8.html.
5Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem Überraschungsmoment des Überfalls und den damit verbundenen Reaktionen der Bewohner der Smala auf deren Einnahme (»prise«). Die Spanne reicht von bewaffneten Kämpfern, die sich mit Entschlossenheit widersetzen, bis zu gebrechlichen Alten, die nicht wissen, was um sie herum geschieht. Dazwischen suchen Frauen ihre Kinder und versuchen zu fliehen. Tiere werden aufgescheucht, Hab und Gut verstreut und Zelte eingerissen.
6Der Umstand, dass der Herzog von Aumale im Gemälde nicht kämpfend, sondern in der friedlichen Geste der Gnade gezeigt wird, deutet auf einen Konflikt innerhalb des Bildprogramms: dass hier als Schlachtengemälde präsentiert wird, was tatsächlich ein Überfall auf weitgehend wehrlose Menschen gewesen ist. Vernet löste dieses Problem, indem er dem Herzog rechts den Übersetzer Ismaiil Thomas Urbain (1812–1884) zur Seite stellt, der in der Sprache des Stammes kommuniziert und bereitwillig eine Verbindung zwischen den sich ergebenden Familienmitgliedern der Marabouts zum Sohn des französischen Königs herstellt (Abb. 4).27 Durch die Haltung seines rechten Armes signalisiert der Herzog seinem anreitenden Reiterregiment, dass dieses die Klärung des Gnadengesuchs der verzweifelten Frauen abwarten solle. Dem Überfall wird das Element der Gerechtigkeit unterlegt: Die Grausamkeit halte inne, wo Algerier sich unterwerfen. Dagegen wird dort der Kampf ausgefochten, wo die Gegenseite als Herausforderer gezeigt wird, besonders zugespitzt im Falle des schwarzen Sklaven, der unbekleidet, mit nichts als einem Knüppel bewaffnet, ansetzt, einen französischen Soldaten zu erschlagen.
Abb. 4: Horace Vernet, La prise de la smala d’Abd el-Kader, 1845, Detail: Der Herzog von Aumale in einer Begnadigungsgeste gegenüber algerischen Frauen

Abbildungsnachweis: © Château de Versailles, bpk / RMN-Grand Palais, Foto: Franck Raux, Quelle: https://www.photo.rmn.fr/archive/18-531840-2C6NU0AC7MGO1.html.
Notes de fin
20 Vgl. John Zarobell, Empire of Landscape. Space and Ideology in French Colonial Algeria, University Park, PA 2010. Im Sinne Edward Saids zeigt Zarobell die Bedeutung der künstlerischen Repräsentation von Landschaft als entscheidenden Teil von Kolonialpolitik und berücksichtigt traditionell weniger untersuchte Kunstformen. Somit ist seine Studie auch hinsichtlich der Smala-Tapete relevant. Die Arbeit am Projekt der Versailler Säle dauerte zehn Jahre an und war beim Sturz Louis-Philippes 1848 noch nicht abgeschlossen. Vgl. Pierre Francastel, La création du musée historique de Versailles et la transformation du palais, 1832–1848, Paris 1930. Zu den »Salles d’Afrique« als Teil der Galerie des Batailles vgl. Thomas Gaehtgens, Versailles. De la résidence royale au musée historique, Antwerpen 1984. Zum Smala-Saal vgl. Michael Marrinan, »Schauer der Eroberung. Strukturen des Zuschauens und der Simulation in den Nordafrika-Galerien von Versailles«, in: Stefan Germer und Michael Zimmermann (Hg.), Bilder der Macht – Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, München/Berlin 1997, S. 267–296.
21 Inventarisations-Handakte zum Bild Nr. 8399, MV 2027, Schloss Versailles. Für ihre freundliche Unterstützung bei Recherchen im Archiv von Versailles danke ich Jérémie Benoît und Pascal Torres.
22 Für neuere Forschungen zu Vernet in Algerien vgl. Zarobell 2010 (Anm. 20). Grundlegend vgl. Horace Vernet (1789–1863), hg. von Yves Taralon und Jean-Marie Pupier, Ausst.-Kat. Rom, Academia di Francia a Roma/Paris, École nationale supérieure des Beaux-Arts, Rom 1980; Jeanne Soustiel und Lynne Thornton, Peintres et voyageurs en Turquie, en Égypte et en Afrique du Nord, Paris 1975, S. 35.
23 Zit. aus: John Ingamells, The Wallace Collection. Catalogue of Pictures, 4 Bde., London 1985–1992, Bd. 2 (1986): French Nineteenth Century, S. 257.
24 Vgl. Horace Vernet, Opinion sur certains rapports qui existent entre le costume des anciens hébreux et celui des arabes modernes, lu à Académie en 1847, Paris 1856.
25 Marrinan 1997 (Anm. 20), S. 292. Die kolonialpolitische Funktion des Monumentalbildes unter besonderer Berücksichtigung der Smala-Darstellung Vernets wurde analysiert von François Pouillon, »La peinture monumentale en Algérie: un art pédagogique«, in: Cahiers d’Études africaines 1141/142, 1996, S. 183–213. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Verknüpfung von bildlicher Repräsentation und französischem Kolonialismus in Nordafrika vgl. Roger Benjamin, Orientalist Aesthetics. Art, Colonialism, and French North Africa, 1880–1930, Berkeley, CA 2003. Benjamin kombiniert kunsthistorische Analyse mit Kontextualisierungen innerhalb der Kolonialpolitik, ohne allerdings den Werken eine eigenständige Wirkungsmacht (»agency«) zuzuschreiben, ein Ansatz, der hinsichtlich Algeriens auch von Zarobell (Anm. 20) vertreten wird.
26 Zu den Maßen des Bildes gibt es in der Literatur unterschiedliche Angaben. Übernommen wurden hier die ungerahmten Maße aus der Inventarisations-Handakte zum Bild Nr. 8399, MV 2027, Schloss Versailles.
27 Urbain nahm später Einfluss auf Napoléon III. und bewirkte die Freilassung Abd el-Kaders 1852, vgl. Un héros des deux rives: Abd el-Kader l’homme et sa légende, hg. vom Centre historique des archives nationales, Département à l’action culturelle et éducative, Ausst.-Kat. Paris, Musée de l’histoire de France, Paris 2003, S. 156.
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Marix und die Bildtapete La prise de la smala d’Abd el-Kader
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