Prädikate und Epitheta als Anrede und Selbstbezeichnung
Eine Untersuchung zu ihren Bedeutungen in der schriftlichen Kommunikation der Karolingerzeit
p. 49-58
Texte intégral
1Briefe gehörten im Frühmittelalter zu den Medien, die einen Dialog der Abwesenden ermöglichten1. Ein Brief ist deshalb nicht ohne weiteres als bloßes Medium des Absenders zu verstehen, durch das dieser dem Adressaten einseitig seine Botschaft mitteilte. Bei einer dialogischen Kommunikation war zu erwarten, dass der Empfänger des Briefes auf das Mitgeteilte reagierte, wobei es erwünscht war, dem Wunsch des Absenders zu entsprechen. Wie man seinen Briefpartner einschätzte und die Beziehung mit ihm wahrnahm, war dabei keineswegs ohne Bedeutung. In diesem Kontext ist danach zu fragen, welche Beziehung zwischen dem Briefsender und dem Adressaten durch die Selbstbezeichnung und die Anrede (auch fiktiv oder rhetorisch) hergestellt werden konnte. In den frühmittelalterlichen Briefen wurden —an die Tradition der römischen Kaiserzeit anschließend— neben den einfachen Pronomen verschiedene Abstrakta und Rangbezeichnungen als Anrede und Selbstbezeichnung verwendet2. Ein typischer Fall ist der vertikale Abstand, den der Absender durch Ehrenabstrakta zur Verherrlichung des Adressaten und durch Bescheidenheitsabstrakta zur Selbsterniedrigung des Absenders ausdrückte3. Ein gutes Beispiel der Karolingerzeit ist ein Brief des Lupus von Ferrières an Karl den Kahlen, den er vor seinem Amtsantritt als Abt verfasste. Durch diesen Brief, der eine außergewöhnliche Adresse mit ehrenvoller Anrede und demütigender Selbstbezeichnung enthält, wollte Lupus seine Treue gegenüber dem König ausdrücklich zeigen. Dies war politisch sehr sinnvoll, weil der König kurz vorher den vormaligen Abt Odo wegen Untreue seines Amtes enthoben hatte4.
2In diesem Beitrag werden Prädikate und Epitheta behandelt, die in den Briefen der Karolingerzeit als Anrede oder Selbstbezeichnung verwendet wurden. Der Gegenstand dieses Aufsatzes ist allerdings einerseits zu beschränken, denn hier können nicht alle Prädikate und Epitheta systematisch dargestellt werden. Vielmehr konzentriere ich mich hauptsächlich auf jene Prädikate, die aus Possessivpronomen und Abstrakta bestehen, wie nostra celsitudo, vestra clementia, mea parvitas. Diese Abstrakta scheinen ehrend oder demütigend auf die Eigenschaft der bezeichneten Person hinzuweisen. Andererseits ist eine breitere Perspektive nötig, um zu zeigen, ob und wie man eine solche abstrakte Personenbezeichnung als aktive Botschaft interpretieren kann. Dazu werde ich diese Ausdrücke in Briefen im Vergleich zu denen in Urkunden analysieren. Während wir aufgrund der Überlieferungslage in den meisten Fällen nur einen Teil des Briefwechsels untersuchen können, ist es bei den Herrscherurkunden möglich, sowohl aktive als auch reaktive Botschaften des Herrschers / des Hofes in kommunikativer Perspektive herauszuarbeiten5. Zeitgenössische Bedeutungen solcher Personenbezeichnungen in der schriftlichen Kommunikation sind wohl besser zu begreifen, indem die Befunde der Analyse der beiden Quellengattungen zusammengestellt werden.
3Zunächst sind einige Bemerkungen zum Forschungsstand zu machen. Für die Zeit der Antike und Spätantike sind Prädikate und Epitheta als Anrede und Selbstbezeichnung seit langem gut erforscht. Anders ist die Forschungslage in der Mediävistik. Als Achim Thomas Hack 2006 seine Habilitationsschrift veröffentlichte, schrieb er, dass es bis dato keine mit den Forschungsarbeiten über die Antike vergleichbaren, systematischen Forschungen über Anrede und Selbstbezeichnung im Mittelalter gegeben habe6. Ein Kapitel seiner Habilitation, das er der Analyse von Anrede und Selbstbezeichnung in den frühmittelalterlichen Papstbriefen widmete7, ist also bislang die einzige detaillierte Untersuchung in diesem Bereich und folglich von größter Wichtigkeit für weitere Forschungen: Hack zeigte, wie die Selbstbezeichnung eines Papstes und die Anrede für einen weltlichen Herrscher —wie etwa dem Frankenkönig— in den Papstbriefen Rückschlüsse auf die politischen Beziehungen erlauben. Sonst gibt es meines Wissens keine systematische Analyse, lediglich einige Bemerkungen darüber sind in weiteren Forschungsarbeiten zu finden. Carl Erdmann hielt es in seinem Aufsatz über die Briefe Kaiser Heinrichs IV. für wichtig, «die Ausdrucksgewohnheiten für die erste, zweite und dritte Person der Rede» zu beachten, wobei sein Ziel eine präzisere Erklärung «des eigentlichen Briefstils» war8. Ein anderer Kontext, in dem Personenbezeichnungen als Untersuchungsgegenstand eine Rolle spielten, ist die Erforschung der politischen Ideengeschichte, wobei nicht nur Briefe als Quelle herangezogen wurden. Eugen Ewig machte zum Beispiel eine kurze Bemerkung über den Rangunterschied zwischen den byzantinischen Kaisern und den Germanenkönigen im Frühmittelalter, der durch verschiedene, jeder Würde vorbehaltene Prädikate zum Ausdruck gebracht wurde9. Den von Ewig knapp dargestellten Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter10 schilderte Karl Ferdinand Werner in seinem Buch über die Genese des Adels detaillierter und in einem erweiterten zeitlichen Rahmen vom 4. bis zum 10. Jahrhundert, wobei er Kontinuität und Veränderungen in der Verwendung von Prädikaten und Epitheta für Herrscher und politische Große im Lauf der Jahrhunderte beschrieb, aber leider ohne Fußnoten11. Zu erwähnen ist außerdem, dass die Diplomatik —besonders die der Wiener Schule— im Rahmen der Intitulatio-Forschung einige Epitheta behandelte. Aber da sie nur als ein Teil der Intitulatio in Betracht gezogen wurden, blieben viele Prädikate und Epitheta (und ihre Verwendungsweise) im Kontext der Urkunden unerforscht12. Eine systematische Analyse der Selbstbezeichnungen und der Anreden ist also immer noch ein Desiderat in der Erforschung der frühmittelalterlichen Schrift- und Briefkultur13.
4Die vorliegende Arbeit möchte dabei einen neuen Interpretationsansatz für Anrede und Selbstbezeichnungen vorstellen. Von der bisherigen Forschung wurden Prädikate und Epitheta in Briefen und Urkunden hauptsächlich analysiert, um den Stil eines Verfassers oder Ausstellers zu klären oder die Formeln festzustellen. Meist war eine Auflistung beabsichtigt, wer, wen, mit welchem Attribut bezeichnete. Untersuchungen zu den spätantiken Prädikaten wie die von Ralph W. Mathisen haben gezeigt, dass ein Absender wie die kaiserliche Kanzlei die Adressaten —meistens senatorische Würdenträger— je nach der Rangordnung mit den ihnen ehrend zukommenden Epitheta anredete14. Wenn solche Anreden und Selbstbezeichnungen einmal in eine Liste aufgenommen waren, dann war es auch möglich, das Verhältnis zwischen einer gewissen Bezeichnung und einer bestimmten Würde in der damaligen politischen Ordnung zu sehen oder sogar über eine quasi usurpierende Übernahme einer Ehrenbezeichnung durch den politischen Aufsteiger zu sprechen, zum Beispiel indem ein bisher dem König vorbehaltenes Prädikat durch einen eher selbständig gewordenen Grafen verwendet wurde15.
5Nicht untersucht wurde bislang, was ein abstraktes Prädikat oder Epitheton in einem politischen Kontext konkret bedeutete, bedeuten konnte oder bedeuten sollte. Auch wenn die Frage danach bereits gestellt wurde, waren Forscher wie Hack hinsichtlich der Antwort darauf sehr skeptisch. Er schrieb:
Während in manchen Fällen der etymologische Sinn der Worte noch mitgeschwungen haben mag, werden die abstrakten Anreden in aller Regel […] nur ganz allgemein als dem fränkischen König angemessene Ehrenbezeugung verstanden worden sein. […] die abstrakten Anreden […] nehmen in emphatischer Weise auf die typischen Eigenschaften des Herrschers und vor allem auf die Erhabenheit seiner Person bzw. seiner Würde Bezug. […] Eine aktuell-politische Interpretation dieser Bezeichnungen scheint in den meisten Fällen nicht angebracht, wenn auch einige Ausnahmen diese Regel bestätigen16.
6Erdmanns pauschale Terminologie für abstrakte Personenbezeichnungen in Herrscherbriefen und Diplomen, «Majestätsumschreibung», weist in eine ähnliche Richtung, da er verschiedene Ehrenprädikate des Herrschers unter einem Begriff der «Majestät» subsumierte, obwohl dieser Begriff nur eines der dem Herrscher zukommenden Ehrenattribute war17.
7Ich verneine Hacks Aussage nicht völlig. Die Zeitgenossen dürften nicht immer jede abstrakte Personenbezeichnung in einer recht spezifischen Bedeutung verstanden haben. Ein Ausdruck in den Briefen und Urkunden wurde oft formelhaft verwendet und scheint dann gewisse Nuancierungen verloren zu haben. Es ist in der Tat nicht immer möglich, Gründe für die Wortwahl eines Briefschreibers und das Repertoire solcher Ausdrücke zu erklären. In den Herrscherdiplomen Karls des Kahlen kann man beispielsweise das breiteste Repertoire der abstrakten Prädikate unter den Karolingern finden. Die Abstrakta wie altitudo, praecellentia, reverentia wurden in den Diplomen der vorangehenden fränkischen Könige nicht als Selbstbezeichnungen verwendet. Diese Begriffe waren aber nicht unbekannt in der früheren Karolingerzeit. Die Geistlichen verwendeten zum Beispiel das Prädikat praecellentia und das Epitheton praecellentissimus als Anrede eines Herrschers in ihren Briefen. Die reverentia, Ehrfurcht, wurde dagegen für Geistliche und Heilige verwendet18. Ich kann hier nicht gut erklären, wie und warum diese Begriffe in das Repertoire der Selbstbezeichnung Karls des Kahlen Eingang fanden. Die Begriffe scheinen während seiner Regierungszeit konstant verwendet worden zu sein, so dass es schwierig ist, ihre Verwendung mit konkreten politischen Umständen zu verbinden. Möglich ist nur die Vermutung, dass Karl und sein Hof aus dem Briefverkehr zwischen dem Hof und der Geistlichkeit den Sprachgebrauch dieser Worte kennengelernt und sich angeeignet haben, —so wie eine päpstliche Fremdbezeichnung nach dem Briefverkehr als eine Eigenbezeichnung des fränkischen Herrschers aufgenommen werden konnte19. Dieser Sprachgebrauch dürfte für die These Ildar H. Garipzanovs sprechen, dass der Einfluss der Geistlichen, besonders der Bischöfe, im Bereich der «symbolischen Sprache der Autorität [symbolic language of authority]» in der Regierungszeit Karls des Kahlen stärker war als früher20. Auf der Quellenbasis lassen sich aber kaum weitreichendere Vermutungen anstellen.
8Die von Hack erwähnten «Ausnahmen» scheinen mir durchaus bedeutsam, um die Wichtigkeit der Wortwahl beim Abfassen von Briefen und der Urkundenausstellung in der frühmittelalterlichen schriftlichen Kommunikation besser zu verstehen. Die Einführung eines neuen Wortes oder eine Abweichung vom «Stil» dürften, wenn auch nicht immer, mit einer konkreten Absicht verbunden gewesen sein. Ein Stil und eine Formel haben ihre Geschichte. Bevor ein Ausdruck bei einem bestimmten Verfasser formelhaft wurde, gab es wahrscheinlich einen konkreten Grund für seine Einführung, wobei ein bestimmter, wahrscheinlich etymologisch erklärbarer Sinn des Ausdrucks im damaligen politischen Kontext aktuell und erwünscht gewesen sein könnte.
9Im Bereich der Herrscherdiplome dürfte diese Hypothese nachweisbar sein. Die karolingischen Herrscher des ix. Jahrhunderts verwendeten jeweils in einer bestimmten politischen Situation eine bestimmte abstrakte Selbstbezeichnung besonders häufig in ihren Herrscherurkunden. Die konkrete Bedeutung des verwendeten Abstraktums scheint dabei dem zu propagierenden Herrscherbild entsprochen zu haben. Ich habe in einem anderen Aufsatz diese These erörtert und wiederhole deswegen die Argumentation hier nicht. Im Folgenden werden die drei Ergebnisse meiner Quellenanalyse vorgestellt:
- Ludwig der Fromme verwendete die römisch-kaiserliche maiestas-Selbstbezeichnung seit 834 intensiv. Unter den vor diesem Jahr ausgestellten Diplomen enthalten nur zwei dieses Prädikat, während der Kaiser sich zwischen 834 und 840 in 15 von 67 Diplomen mit dem Prädikat maiestas bezeichnete. Dies könnte als Betonung seiner kaiserlichen Würde, also als Bestandteil seiner Herrschaftsinszenierung verstanden werden, denn im Jahr 834 überwand Ludwig die von seinem ältesten Sohn Lothar I., der auch den Kaisertitel innehatte, geführte Rebellion und kehrte auf den Thron zurück21;
- Ludwig der Deutsche begann im Dezember 840, unmittelbar nach dem Tod seines Vaters, das kaiserliche Prädikat serenitas und allmählich auch das kaiserliche Epitheton serenissimus als Selbstbezeichnung in seinen Diplomen zu verwenden, während er bis dahin dieses Prädikat und dessen Ableitung/Derivation ganz bewusst seinem Vater vorbehalten hatte. Diese «Aneignung» eines kaiserlichen Attributs durch den ostfränkischen König dürfte im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Lothar I. gestanden haben, der schon den Kaisertitel innehatte22;
- Karl der Kahle verwendete das Prädikat sublimitas nach seiner Königserhebung im Juni 848 sehr viel häufiger: Vor diesem Zeitpunkt erschien dieses Prädikat nur in vier von 96 Urkunden, während in den folgenden zehn Jahren etwa ein Drittel der Herrscherdiplome mit dieser Hoheitsbezeichnung ausgestellt wurde. Eine wortgeschichtliche Untersuchung klärt die Bedeutung dieses Prädikats, die damals aktuell gewesen sein könnte. In der fränkischen Geschichtsschreibung war es üblich, eine Königserhebung mit der Wahl durch die Großen des Reichs mit der Formel sublimare in regno auszudrücken. Das bedeutet, dass der neue König auf den Thron erhoben wurde (sublimatus). Dass Karl 848 in Orléans mit der Zustimmung der fränkischen und aquitanischen Großen zum König gewählt wurde, wird in einem unter seinem Namen verfassten Dokument auch mit dieser Formel zum Ausdruck gebracht. Merkwürdigerweise wurde diese Formel im 9. Jahrhundert auch dazu verwendet, die Königserhebung des humilis David durch Gott zu beschreiben. Das Wort sublimitas bedeutete also auch diese von Gott gegebene königliche Erhabenheit, deren Verleihung für Karl bei dem Ritual von 848 durch die Salbung sichtbar gemacht wurde. Das Prädikat sublimitas dürfte die durch das Ritual von 848 inszenierte doppelte Erhabenheit/Erhobenheit im fränkischen und christlichen Sinn repräsentieren, so dass es die Legitimität seiner Königsherrschaft im ganzen westfränkischen Raum gegen seinen kurz zuvor entmachteten Konkurrenten und Neffen Pippin II. von Aquitanien und seine Anhänger sichtbar machen könnte23.
10Alle diese Beispiele könnten also darauf hinweisen, dass diese Herrscher jeweils die der politischen Situation entsprechenden Herrscherbilder propagierten, indem sie die dazu geeigneten abstrakten Begriffe als Selbstbezeichnung verwendeten.
11Es ist außerdem zu fragen, welche Beziehung zwischen einer durch eine abstrakte Selbstbezeichnung propagierten Eigenschaft des Herrschers und Herrscherbildern außerhalb des Hofs bestand. Einerseits wird die Frage danach gestellt, ob und wie die vom Hof propagierten Herrscherbilder in den Regionen aufgenommen wurden, andererseits ist auch die Frage möglich, ob nicht sogar der Impuls dafür aus einer Region kam. Um das zu erörtern, ist es sinnvoll, Anreden in den Briefen an die Herrscher zu analysieren.
12Wie oben erzählt, bezeichnete sich Ludwig der Fromme ab 834 in seinen Diplomen häufig mit dem maiestas-Begriff. Es ist nicht zu übersehen, dass dies gewissermaßen eine Innovation war. Die merowingischen und karolingischen Herrscher vor ihm verwendeten niemals das kaiserliche Abstraktum maiestas zur Selbstbezeichnung. Alle den Merowingerkönigen zugeschriebenen Diplome mit dem Prädikat maiestas haben sich als spätere Fälschungen erwiesen24. Der Begriff selbst ist zwar nicht vollkommen in Vergessenheit geraten, die maiestas war in den Briefen und Diplomen allerdings in der Regel Gott vorbehalten25. Gelegentlich wurde von der Verletzung der Majestät —crimen laesae maiestatis oder reus maiestatis— gesprochen, wobei allerdings nicht klar ist, ob dieser klassische Begriff die Person des Herrschers oder eher das Gemeinwesen bezeichnete26.
13In der Zeit Karls des Großen hat meines Wissens nur Alkuin —und nur einmal in seinem Brief von 802 an Karl— vestra imperialis maiestas als Anrede des Kaisers verwendet27. Hack konstatierte, dass ein Papst in einem Brief weder den fränkischen Herrscher noch den byzantinischen Kaiser dieser Zeit mit dem Prädikat maiestas anredete28. Sonstige frühere Beispiele der maiestas als kaiserliche Personenbezeichnung stammen aus der Zeit Ludwigs des Frommen, aber dieser Sprachgebrauch scheint zuerst außerhalb des Hofs und nur allmählich üblich geworden zu sein. 826 schrieb Agobard von Lyon einen Brief an Ludwig über die damaligen Juden-Probleme in Lyon, wobei er den Kaiser mit dem Prädikat maiestas anredete. Interessanterweise findet sich diese Anrede gerade im Kontext der Klage über die kaiserlichen missi, nämlich Ludwigs Stellvertretern29. Die sogenannten Formulae imperiales enthalten drei Formulare, die die kaiserliche (oder königliche) maiestas erwähnen. Zwei von diesen sind Formulare für Freilassungsurkunden, sie sind allerdings keine Kaiserurkunden. Ihr Aussteller ist ein Bischof oder ein Abt. In diesen beiden ist die maiestas regia als eine Instanz erwähnt, welche neben der kirchlichen Autorität ein Freilassungsverfahren genehmigte. Hier scheint es also nicht unbedingt um die Person des Königs zu gehen, so dass man die Formulierung maiestas regia nicht einfach als Anrede für Ludwig verstehen darf30. Jedenfalls ist zu beobachten, dass man in diesen Formularen für Urkunden, die außerhalb des Hofs geschrieben werden sollten, die herrscherliche Hoheit mit dem Begriff der maiestas bezeichnete. Das dritte Formular ist für eine Kaiserurkunde, die die Wiederherstellung der Freiheit betraf. Da dieses Formular die reichsweite Absendung der missi dominici nach dem Tod Karls des Großen erwähnt, wurde es auf das Jahr 814 datiert31. Aber es muss noch offenbleiben, ob dieser Sprachgebrauch wirklich den des Jahres 814 widerspiegelt, oder den der Zeit der Entstehung der Formulae imperiales, weil keine auf diesem Formular basierende Urkunde überliefert ist32. Die beiden ersten uns überlieferten Diplome mit der maiestas-Selbstbezeichnung wurden 833 für das Kloster St-Denis ausgestellt33. Diese sollen nach den neuesten Erkenntnissen Theo Kölzers die Empfängerausfertigungen in St-Denis gewesen sein34. Könnte die maiestas eine vor 834 von außen an den Kaiser durch die Briefe und die Entwürfe der Urkunden herangetragene Ehrenbezeichnung gewesen sein und damit auf eine außerhalb des Hofs erwartete Kaisertugend hinweisen? Die wiederholte Selbstbezeichnung als maiestas ab 834 dürfte jedenfalls auf die bewusste Aufnahme der kaiserlich-römischen Tradition an Ludwigs Hof hinweisen, obwohl die direkte «Quelle» dafür hier nicht zu ermitteln ist. Man könnte sich außerdem Folgendes vorstellen: Wenn Ludwigs legati 834 reichsweit ausgesendet wurden, um seine Rehabilitation zu verkünden35, dann konnten sie auch vielleicht —schriftlich oder mündlich— diese neuaufgenommene kaiserliche Personenbezeichnung (oder eine mit dieser bezogenen Vorstellung) zur Wiederherstellung des positiven Bildes vom Kaiser verwenden.
14Es ist nicht leicht anhand der Quellen zu verfolgen, wie die Leute außerhalb des Kaiserhofs gerade nach 834 auf diese monarchische Propaganda reagiert haben. Spätestens in den 840er Jahren scheint die Verwendung dieses kaiserlichen Prädikats in der karolingischen Welt üblicher geworden zu sein. Nach dem Tod Ludwigs des Frommen nannte Kaiser Lothar I. sich in seinen Diplomen nostra maiestas36. In den fragmentarisch überlieferten Briefen Papst Leos IV. finden sich zwei Stücke, in welchen der Papst Lothar I. vestra maiestas nannte37. Diese Aufnahme des Begriffes könnte auf eine positive Reaktion der Zeitgenossen auf Ludwigs propagandistische Einführung dieses kaiserlichen Prädikats hinweisen. Wenn die Zeitgenossen diese Innovation in Ludwigs Urkunden nicht bemerkt hätten, wäre dieses kaiserliche Prädikat wohl nicht verbreitet worden38.
15Eine positive Reaktion auf die herrscherliche Propaganda könnte vielleicht auch in den Briefen des Hrabanus Maurus zu finden sein. Anders als in seinem früheren Brief an Ludwig den Deutschen, redete Hrabanus in zwei Widmungsbriefen zwischen 842 und 846 diesen ostfränkischen König mit dem Prädikat serenitas an39. Diese Widmungen seiner Schriftwerke sind in der Forschung als Zeichen der Versöhnung zwischen dem König und Hrabanus interpretiert worden, weil der Letztere in der Zeit des Bruderkriegs auf der Seite Lothars I. stand und auf die Abtswürde von Fulda verzichtete. Die Aufnahme der von Ludwig propagierten «kaiserlichen» Personenbezeichnung als serenitas könnte als zusätzliches Zeichen dafür gedeutet werden, dass Hrabanus Ludwigs Herrschaft anerkannte —sofern die zeitliche Nähe nicht nur zufällig ist.
16Zum Schluss wiederhole ich meine Hypothese: Die Einführung eines neuen Ausdrucks oder eine Abweichung vom üblichen Stil in Briefen und Urkunden könnte zumindest in einigen Fällen mit einer konkreten Absicht vorgenommen worden sein. Der Wortschatz für abstrakte Anrede und Selbstbezeichnung in der Karolingerzeit war zwar in der antiken Tradition verwurzelt, aber nicht alle Ausdrücke wurden konstant in Briefen und Urkunden zur Personenbezeichnung verwendet. Eine «Wiederentdeckung» eines als Personenattribut geeigneten Begriffs als Prädikat ist ohne bestimmten Grund schwer vorstellbar. Bevor ein Ausdruck formelhaft wurde, gab es wahrscheinlich eine «bewusste» Einführung aus einem bestimmten Grund, wobei ein konkreter, wahrscheinlich wortgeschichtlich erklärbarer Sinn des zur Personenbezeichnung verwendeten Ausdruckes für die Herstellung der neuen persönlichen Beziehungen im damaligen politischen Kontext aktuell und keineswegs banal gewesen sein könnte, wie die Beispiele der drei karolingischen Herrscher zeigen. Natürlich musste diese Vermittlung eines Personenbildes durch Prädikate und Epitheta auf Empfänger stoßen, die das Mitgeteilte verstehen und gegebenenfalls darauf reagieren konnten. In solcher Kommunikation war es auch möglich, dass ein Anlass zur Einführung eines neuen Begriffs als Herrscherbezeichnung von außen an den Hof —ich möchte betonen—durch einen Brief gegeben wurde. In diesem Beitrag versuchte ich zu zeigen, wie man beispielsweise die Legitimität der Herrschaft behauptete und anerkannte, indem man Prädikate und Epitheta verwendete. Eine neue Interpretation von Anrede und Selbstbezeichnung dürfte dann möglich werden, wenn man ihre kommunikative Dynamik beachtet. Die vorliegende Studie soll ein erster Schritt in diese Richtung sein.
Notes de bas de page
1 Die vorliegende Arbeit ist ein Teilergebnis des Forschungsprojekts, das durch das Japan Society for the Promotion of Science (JSPS), Grant-in-Aid for Young Scientists (B), Nr. 26770252 finanziert wurde. Ich danke Herrn PD Dr. Georg Strack (München) herzlich, der freundlicher-weise das Manuskript gelesen und mir geholfen hat, inhaltlich und sprachlich diesen Beitrag zu verbessern. Für alle verbleibenden Fehler bin ich natürlich allein verantwortlich. Als alternative (und ergänzende) Möglichkeit der Fernkommunikation sind Boten zu erwähnen, die ich in diesem Beitrag nicht thematisiere. Zu den frühmittelalterlichen Boten und deren Verhältnis zur Schriftlichkeit, d. h. den Briefen, siehe Constable, 1976, pp. 52-55; Freund, 2001; Scior, 2005; Id., 2006.
2 Hack, 2006, t. I, p. 361.
3 Werner, 1999, p. 262; Hack, 2006, t. I, p. 342. Ein ähnliches Schema der vertikalen Differenzierung ist auch in den Herrscherdiplomen zu beobachten, wobei verschiedene Prädikate den Kontrast zwischen der königlichen Hoheit und Großzügigkeit einerseits und der Demut und Bescheidenheit des Bittenden andererseits ausdrücken: Koziol, 1992, p. 48; Keller, 2004, pp. 313-314.
4 Excellentissimo domino judicioque sapientium multis et maximis regnis dignissimo, summa veneratione nominando, inclyto regi Karolo devotissimus per omnia Lupus (Loup de Ferrières, Correspondance, n° 22 [nach dem 13. Dezember 840], t. I, p. 112). Siehe Böhmer, Fees, 2007, nos 131, 133, 134, 143.
5 Keller, 2005.
6 Zur Forschungsgeschichte über Selbst- und Fremdbezeichnung in Briefen im Allgemeinen, siehe Hack, 2006, t. I, pp. 339-345.
7 Ibid., pp. 339-429.
8 Erdmann, 1939, pp. 204-207.
9 Ewig, 1954, pp. 17-18.
10 Siehe die knappe Darstellung von Classen, 1977, pp. 75-76.
11 Werner, 1999, pp. 259-328.
12 Wolfram, 1967; Id., 1973.
13 Um diese Lücke zu füllen, bereite ich ein Forschungsprojekt über Prädikate und Epitheta in der frühmittelalterlichen schriftlichen Kommunikation vor.
14 Mathisen, 2001.
15 Werner, 1999, pp. 318-324.
16 Hack, 2006, t. I, pp. 395, 404, 426.
17 Erdmann, 1939, p. 205.
18 Hierzu siehe Kikuchi, 2013, p. 193.
19 Hack, 2006, t. I, p. 409.
20 Garipzanov, 2008, pp. 307-312.
21 Kikuchi, 2013, pp. 192-193.
22 Ibid., pp. 189-192.
23 Ibid., pp. 194-202.
24 Zu majestas: Die Urkunden der Merowinger, t. I, n° 55, pp. 137-140; n° 63, pp. 155-158; n° 109, pp. 280-282; n° 112, pp. 288-289. Hierzu siehe ibid., p. xxii: «Von sich selbst spricht der König nur als nus (nos) und gebraucht das einfache Possessivpronomen noster. Nur für den Adressaten vorgetragener Bitten ist die Rede von der clementia regni nostri […]. Andere herrscherliche Selbsttitulaturen fehlen und sind folglich —wie z. B. serenitas…— ein untrügliches Indiz für spätere Textmanipulationen».
25 Ewig, 1954, p. 18, n° 44a. Auch in den päpstlichen Briefen des viii. Jahrhunderts wird der maiestas-Begriff nicht für einen weltlichen Herrscher sondern ausschließlich für Gott gebraucht. Hack, 2006, t. I, pp. 380-381.
26 Weitzel, 2002.
27 Alcuin, Epistolae, n° 257, pp. 414 sqq. Die lobenden Ausdrücke für Karl in Alkuins Briefen sind tabellarisch zusammengefasst von: Veyrard-Cosme, 2003, p. 138. Während sie die verehrenden Bezeichnungen mit Adjektiven (Epitheta) wie excellentisssmus thematisiert, führt sie dort die abstrakten hoheitlichen Prädikate wie vestra excellentia nicht an, zu denen die maiestas auch zählt. Außerdem beschrieb Alkuin die königliche Hoheit des erneut inthronisierten Königs Æthelred I. von Northumbria mit dem Abstrakt maiestas: Nuper Aedelredus […] processit in solium et […] in maiestatem (Alcuin, Epistolae, n° 8, p. 33). Dies ist allerdings keine Anrede.
28 Hack, 2006, t. I, pp. 362-397. Ihm zufolge ist kein Formular mit diesem Prädikat im Liber diurnus, eine Art Formelbuch für die frühmittelalterliche päpstliche Urkundenausstellung, aufgenommen.
29 Agobard de Lyon, Opera omnia, n° 11, pp. 191-192.
30 Formulae imperiales, nos 33, 35, pp. 311-313.
31 Ibid., n° 14, p. 296. Siehe Böhmer, Mühlbacher, Lechner, 1966, n° 560.
32 Ibid., n° 561 = Cartulaire de Saint-Vincent de Mâcon, n° 539, pp. 316-317 = Die Urkunden Ludwigs des Frommen, n° 80, t. I, pp. 196-197, wurde wahrscheinlich nach der umfangreichen Aussendung der missi noch 814 oder im nächsten Jahr für die Kirche von Mâcon ausgestellt, weil diese Restitutionsurkunde eine Untersuchung durch den kaiserlichen missus Laidrad von Lyon erwähnt. Aber diese Urkunde basiert nicht auf dem betroffenen Formular und enthält keine kaiserliche Selbstbezeichnung mit dem Prädikat maiestas. Der Codex Paris BNF lat. 2718, der diese Formularsammlung enthält, soll außerdem in den 820er Jahren als «private notebook» entstanden sein. Siehe Rio, 2009, pp. 45-46, 132-137.
33 Böhmer, Mühlbacher, Lechner, 1966, nos 905, 918 = Die Urkunden Ludwigs des Frommen, nos 315, 324, t. II, pp. 774-779, 801-805.
34 Ibid., pp. 774-775, p. 802.
35 Annales de Saint-Bertin, pp. 12-13 (zum Jahr 834).
36 Die Urkunden Lothars I., n° 62, p. 17; n° 69, p. 183; n° 84, p. 207; n° 88, p. 213; n° 90, p. 221; n° 98, p. 237; n° 103, p. 244; n° 104, p. 245; n° 138, p. 309.
37 Epistolae selectae Leonis IV., n° 2, pp. 585-586; ibid., n° 12, pp. 590-591. Aber der in der MGH Edition gedruckte Text gibt vielleicht nicht unbedingt den Wortlaut der originalen Papstbriefe wieder, denn die zwei hier betroffenen Brieffragmente Leos IV. sind nur durch die Collectio Britannica überliefert. Zu den quellenkritischen Problemen der Collectio Britannica, siehe Herbers, 1996, pp. 49-91. Während Herbers den Brief n° 2 für echt hält, betrachtet er die Echtheit des Briefs n° 12 skeptisch. Böhmer, Herbers, 1999, n° 242 (= Brief n° 2, datiert auf 851-855), 239 (= Brief n° 12, datiert auf 851?).
38 Im Westfrankenreich wurde auch König Karl der Kahle mit diesem Prädikat angeredet: Loup de Ferrières, Correspondance, n° 22, t. I, p. 112 (siehe oben Anm. 4). In Karls Königsurkunden finden sich mehrmals das Prädikat maiestas als Selbstbezeichnung: Recueil des actes de Charles II le Chauve, n° 3, t. I, p. 11 (seine erste Urkunde mit der Selbstbezeichnung als maiestas wurde merkwürdigerweise ausgestellt für Lupus am 10. Mai 841, also wenig später als sein Brief an Karl); n° 13, t. I, pp. 33-34; n° 30, t. I, p. 77; n° 60, t. I, p. 172; n° 178, t. I, p. 474; n° 191, t. I, p. 497; n° 192, t. I, p. 500; n° 370, t. II, p. 324. Siehe auch ibid. n° 131, t. I, p. 345 (regiae majestatis consuetudini); n° 132, t. I, p. 350 (regiae majestatis opera); n° 136, t. I, p. 361 (majestate regni culminis); n° 353, t. II, p. 286 (decus regie majestatis). In seinen Urkunden ist auch die kaiserliche maiestas seines Vaters erwähnt. Ibid., n° 21, t. I, p. 52.
39 Raban Maur, Epistolae, n° 34, pp. 467-469; n° 37, p. 472.
Auteur
Aoyama Gakuin University, Tokyo
Le texte seul est utilisable sous licence Licence OpenEdition Books. Les autres éléments (illustrations, fichiers annexes importés) sont « Tous droits réservés », sauf mention contraire.
La gobernanza de los puertos atlánticos, siglos xiv-xx
Políticas y estructuras portuarias
Amélia Polónia et Ana María Rivera Medina (dir.)
2016
Orígenes y desarrollo de la guerra santa en la Península Ibérica
Palabras e imágenes para una legitimación (siglos x-xiv)
Carlos de Ayala Martínez, Patrick Henriet et J. Santiago Palacios Ontalva (dir.)
2016
Violencia y transiciones políticas a finales del siglo XX
Europa del Sur - América Latina
Sophie Baby, Olivier Compagnon et Eduardo González Calleja (dir.)
2009
Las monarquías española y francesa (siglos xvi-xviii)
¿Dos modelos políticos?
Anne Dubet et José Javier Ruiz Ibáñez (dir.)
2010
Les sociétés de frontière
De la Méditerranée à l'Atlantique (xvie-xviiie siècle)
Michel Bertrand et Natividad Planas (dir.)
2011
Guerras civiles
Una clave para entender la Europa de los siglos xix y xx
Jordi Canal et Eduardo González Calleja (dir.)
2012
Les esclavages en Méditerranée
Espaces et dynamiques économiques
Fabienne P. Guillén et Salah Trabelsi (dir.)
2012
Imaginarios y representaciones de España durante el franquismo
Stéphane Michonneau et Xosé M. Núñez-Seixas (dir.)
2014
L'État dans ses colonies
Les administrateurs de l'Empire espagnol au xixe siècle
Jean-Philippe Luis (dir.)
2015
À la place du roi
Vice-rois, gouverneurs et ambassadeurs dans les monarchies française et espagnole (xvie-xviiie siècles)
Daniel Aznar, Guillaume Hanotin et Niels F. May (dir.)
2015
Élites et ordres militaires au Moyen Âge
Rencontre autour d'Alain Demurger
Philippe Josserand, Luís Filipe Oliveira et Damien Carraz (dir.)
2015