Von einer “Orientalisierung Roms durch die Etrusker”. Hans Mühlestein und seine Theorien zu den Etruskern1
p. 133-149
Texte intégral
1Die folgenden Überlegungen setzen sich mit dem Etruskerbild und der Rolle der Etrusker in den Theorien des Schweizer Kulturwissenschaftlers und Schriftstellers Hans Mühlestein auseinander. Wie das Eingangszitat bereits andeutet, sind die Thesen von Hans Mühlestein aus heutiger Sicht nicht haltbar. Zudem fanden seine Theorien und Schriften zu den Etruskern nur in geringem Maße Beachtung2. Dennoch erweist sich die bisher noch nicht vorgenommene Auseinandersetzung mit der Rolle der Etrusker in dem Weltbild und dem universalhistorischen Theorienkonstrukt von Hans Mühlestein als sinnvoll, da eben diese Theorien symptomatisch für ein bestimmtes Verhältnis zu den Etruskern und zu Kulturgeschichte überhaupt zu sein scheinen. Welche Rolle die Etrusker innerhalb dieses Weltbilds einnehmen und inwieweit eine solche Form der Rezeption typisch sein könnte, wird im Folgenden gezeigt.
Zur Biographie von Mühlestein3
2Hans Mühlestein wurde am 15.03.1887 in Biel (Kanton Bern) geboren. Nach dem Besuch der Volksschule und des Progymnasiums in Biel ließ er sich am Staatlichen Berner Lehrerseminar Hofwil (1902-1904) und am Oberseminar in Bern (1904-1906) zum Primarlehrer ausbilden. Anschließend arbeitete Mühlestein als Hauslehrer und Privatsekretär in Jena, Berlin, Göttingen und Frankfurt am Main, ab 1905 verfasste er auch erste literarische Arbeiten und Rezensionen für den “Berner Bund” und die “Neue Züricher Zeitung”4.
3Von 1907 bis 1919 studierte Mühlestein Geschichte und Philosophie in Zürich, Jena, Berlin, München, Göttingen und Frankfurt am Main. Während des 1. Weltkriegs entwickelte Mühlestein ein aktives politisches Interesse und schloss sich der Antikriegsbewegung von Leonard Nelson an. Seine zunehmend sozialistischen Ansichten zeigen sich auch darin, dass er sich 1918 aktiv an der Novemberrevolution beteiligte und Deputierter von Göttingen im Kongress der Arbeiter-und Soldatenräte in Berlin wurde. 1919 wurde Mühlestein aufgrund seiner politischen Aktivität aus Preußen ausgewiesen und kehrte in die Schweiz zurück5. Auch in den folgenden Jahren scheinen sich sein politisches Interesse und seine kommunistischen Ansichten nicht geändert zu haben. So urteilt der “Verein schweizerischer Literaturfreunde” 1924 über Ihn: Ist leider neuerdings politisch stark interessiert, wohl zum Schaden seiner literarischen Produktion6.
4In der Zeit von 1920 bis 1928 schien Mühlestein nicht mehr primär philosophische und kulturhistorische Studien zu betreiben, vielmehr waren nun prähistorisch-archäologische und soziologische Interessen bestimmend. Auf einer Italienreise im Jahre 1920 war Mühlestein so fasziniert von den Etruskern, dass sie fortan seinen neuen Schwerpunkt bilden sollten7. Für seine Studien hielt sich Mühlestein häufig und lange in Italien auf und bereiste planmäßig Etrurien zu Studienzwecken8. Außerdem forschte in Rom an der American Academy sowie mindestens sechs Monate im Deutschen Archäologischen Institut und besuchte zusammen mit seinem Doktorvater Otto Waser auch 1928 den I ° convegno nazionale Etrusco in Florenz und Bologna. Ebenso wurde Hans Mühlestein zum “corrispondente straniero” des neugegründeten “Comitato permanente per l’Etruria” (das spätere Istituto di Studi Etruschi ed Italici) ernannt9. Am 30.06.1928 erfolgte die Promotion bei Otto Waser10 in Kunstgeschichte an der Universität Zürich mit der Dissertation Über die Ursprungsepoche der etruskischen Kunst unter besonderer Berücksich tigung der “Herkunft” der Etrusker. Unterstützt wurde Mühlestein bei der Promotion für drei Jahre11 durch eine Fellowship der Laura Spelman Rockefeller-Stiftung12.
5Spätestens seit Dezember 1927 wohnte Mühlestein in Frankfurt am Main, wie aus der Korrespondenz mit Alfons Paquet hervorgeht13. Im Zeitraum 1928-1932–wahrscheinlich 192814–hielt Mühlestein an einem 17. November einen Vortrag mit dem Titel Die Bildnerei der Etrusker im Vereinshaus der Rheinvereinigung, in welcher Mühlestein und Paquet Mitglied gewesen zu sein schienen15. Ab 1929, also unmittelbar nach der Promotion, erhielt Hans Mühlestein vom deutschen Kultusminister C. H. Becker einen achtsemestrigen Lehrauftrag für “Vorgeschichte der Kultur der Menschheit” an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Beckers Ziel war in Frankfurt der Aufbau eines Instituts für Kultur-und Urgeschichte unter der späteren Leitung (nach Ablauf des Lehrauftrags) von Mühlestein–wohl auch aus politischen Gründen16. Mühlestein selbst begründete das Interesse an ihn folgendermaßen:
“weil ich mit den Etruskern zugleich die ganze vorindogermanische Kulturwelt des Mittelmeers wieder ins Licht der Geschichte hob; eine Welt, die eben zu dieser Zeit vom Nazi-Kulturpapst Rosenberg in seiner Nazikulturbibel aus rassistischen Gründen in deren barbarischen Sumpf gezogen wurde (Rosenberg nannte mich: ‘der Wiedererwecker des mittelmeerischen Untermenschentums’)”17.
6Bis 1932 unterrichtete Mühlestein in Frankfurt am Main mit diesem Lehrauftrag. Als im Juni 1932 Nationalsozialisten die Universität überfielen, forderte er den Rektor auf, eine Protestveranstaltung unter dem Titel “Zur Wiederherstellung der Würde der Universität” gegen nationalsozialistische Gewalt an der Universität durchzuführen. Der Vorschlag wurde vom Rektor abgelehnt, aber von allen nichtfaschistischen Studentengruppen angenommen. Mühlestein war der einzige Dozent, der an dieser Studentendemonstration teilnahm, und wurde im Anschluss von Nationalsozialisten verfolgt und bedroht. Er verließ kurze Zeit später bereits das zweite Mal aus politischen Gründen Deutschland und kehrte in die Schweiz zurück18.
7In der Schweiz widmete er sich in den folgenden Jahren vor allem literarischen und politischen Tätigkeiten. So schrieb er mehrere Gedichte, Romane und Dramen, darunter auch das Stalin-kritische Stück “Menschen ohne Gott”, für welches er 1933 den Berner Dramenpreis bekam. Im gleichen Jahr engagierte sich Mühlestein sechs Monate lang für den Aufbau des “Schweizerischen Hilfswerk für deutsche Gelehrte” und der “Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland” für aus dem Deutschen Reich emigrierte Intellektuelle–wohl ohne großen Erfolg, da er von politischer Seite keine Hilfe bekam. In den Jahren 1935 bis 1937 hielt er in Zürich an der Volkshochschule und in Arbeiterbildungsvereinen Vorträge zu kulturellen und politischen Themen. Nachdem er am 04.08.1936 im Anschluss an eine Veranstaltung einen arbeitslosen Schweizer für die spanischen Freiheitskämpfer anwarb, wurde Mühlestein im Dezember als erster Schweizer wegen “Schwächung der Wehrkraft” zu einem Monat Gefängnishaft und zwei Jahren Einstellung in den bürgerlichen Rechten verurteilt. Daraufhin zeigte sich die Kommunistische Partei der Schweiz an ihm interessiert, so dass Mühlestein 1938 der Partei beitrat und die Leitung ihrer Kulturzeitschrift “Heute und Morgen” bis 1939 übernahm. Ebenso wurde Mühlestein zu einem Vortrag am 16.12.1937 über die “Geschichtsbedeutung der Etruskerfrage” vor der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion eingeladen19. Für die Jahre 1932 bis 1938 zieht Mühlestein dennoch folgendes Resümee: “1932 bis 1938 habe ich in meiner Heimat eine für deren Behörden wahrhaft schändliche Zeit verbracht. Keine Rede von Wiedereinstellung in meinen akademischen Beruf...”20.
8Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zum Konflikt zwischen Mühlestein und der Kommunistischen Partei der Schweiz, wohl aufgrund seiner offenen Kritik an Stalin und dem Stalinismus. Während Mühlestein in der Schweiz nie eine Stelle an einer Universität angeboten wurde, ernannte ihn die Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Leipzig 1948 zum ordentlichen Professor für Kulturgeschichte. Seine Berufung musste allerdings 1949 im Nachhinein widerrufen werden, da Mühlestein kein Einreisevisum erhielt. In den Jahren 1957 und 1969 (postum) wurden von ihm zwei weitere Bücher zu den Etruskern veröffentlicht. Hans Mühlestein verstarb am 25.05.1969 in Zürich21.
Mühlesteins etruskologische Schriften
9Wie aus Hans Mühlesteins Biographie ersichtlich wird, begann sein Interesse für die Etrusker etwa um 1920 und führte 1928 schließlich zu seiner Promotion mit einem etruskologischen Thema. Tatsächlich wurden von Mühlestein allerdings in den Jahren 1927-1929 parallel drei Monographien zu den Etruskern publiziert. Mühlestein schrieb die drei Monographien als sich ergänzende Werke, “die alle drei zusammen eine ideelle Einheit in drei verschiedenen Aspekten bilden”22. Einzelne Bestandteile dieser Bücher wurden an der Universität Zürich als Dissertation angenommen und parallel zu diesen drei Monographien veröffentlicht.
10Die Geburt des Abendlandes. Ein Beitrag zum Sinnwandel der Geschichte (Potsdam 1928)23 ist die erste der drei Monographien Mühlesteins zu den Etruskern. In diesem Band geht es vor allem um die (vermeintliche) Rolle der Etrusker für Europa. Es wird hier ein universalhistorischer Ansatz verfolgt, bei dem die Etrusker in ein größeres Konstrukt von Kulturkämpfen und von der Geburt Europas eingeflochten werden.
11Die Kunst der Etrusker. Die Ursprünge (Berlin 1929) war anfänglich als erster Band einer mehrteiligen Reihe geplant gewesen und ist der vor allem kunsthistorisch und stilistisch angelegte Versuch einer Deutung der frühen Etrusker vom Beginn bis zum 5. Jh. v. Chr. Die Interpretationen im ersten und zweiten Teil des Buchs werden in einem dritten Teil durch Tafeln und einen ca. 100 Seiten starken Katalog von Einzelobjekten ergänzt.
12Über die Herkunft der Etrusker (Berlin 1929)24 ist im Gegensatz zu Die Kunst der Etrusker. Die Ursprünge der Versuch, mit einer Analyse der historischen und philologischen Quellen die Herkunft der Etrusker zu klären. Dabei diskutiert er zunächst die verschiedenen antiken Überlieferungen und modernen Interpretationen, um anschließend auch die vermeintlichen ägyptischen Quellen zu den Etruskern (Turša-Tyrsenoi) mit Verweis auf Eduard Meyer25 heranzuziehen. Im Anschluss an die Schlussfolgerungen befinden sich außerdem drei Exkurse26. Bei der Monographie handelt es sich wohl um das einzige altertumswissenschaftlich rezensierte Werk Mühlesteins27.
13Die an der Universität Zürich angenommene Dissertation Über die Ursprungsepoche der etruskischen Kunst unter besonderer Berücksichtigung der “Herkunft” der Etrusker (Leipzig 1928 = Diss. Universität Zürich 1928) setzt sich aus Teilen von zwei der drei oben genannten Bücher zusammen. Die Einleitung (S. 1-61) und Exkurse (S. 120-130) der Dissertation entsprechen der kompletten Monographie “Über die Herkunft der Etrusker”, während der Hauptteil der Dissertation (S. 62-119) mit dem zweiten Kapitel (S. 40-97) von “Die Kunst der Etrusker. Die Ursprünge” übereinstimmt.
14In den späten Jahren seines Lebens publizierte Mühlestein zwei weitere Bücher zu den Etruskern und ihrer Rolle in der europäischen Geschichte. In dem Band Die verhüllten Götter. Neue Genesis der italienischen Renaissance (München 1957) verfolgt Mühlestein einen stark universalhistorischen Ansatz und postuliert einen etruskischen und einen iranischen Geschichtsimpuls, welche Europa seiner Meinung nach bis in die Renaissance beeinflussen und prägen sollten. Ein großer Teil der Monographie behandelt dabei die Etrusker und das “Aufgehen des Etruskertums im Italienertum”28.
15Mühlesteins letztes Werk Die Etrusker im Spiegel ihrer Kunst (Berlin 1969) ist dagegen eine Darstellung der etruskischen Kultur anhand ihrer Kunsterzeugnisse. Das Buch erschien in der DDR beim Deutschen Verlag der Wissenschaften und wurde von diesem als im Manuskript bereits vor längerer Zeit abgeschlossenes Alterswerk bezeichnet29. Wahrscheinlich beruht diese Publikation stark auf dem ungedruckten Manuskript, von dem Mühlestein 1957 berichtet30. Tatsächlich erlebte der am 25.05.1969 verstorbene Hans Mühlestein die Publikation seines letzten Werks nicht mehr31.
16Der Großteil von Mühlesteins Publikationen wurde 1927-1929 gedruckt und beruht sicherlich auf seinen Studien und Forschungsaufenthalten in Italien in den 1920er-Jahren. Doch auch die beiden späteren Veröffentlichungen nehmen einen starken Bezug auf die frühen Werke und folgen grundsätzlich denselben Thesen, was anhand der Zitate jener frühen Publikationen deutlich ersichtlich wird32. Insofern lassen sich sämtliche Werke grundsätzlich als ein Thesenkomplex verstehen, wobei der Kern dieser Thesen vor allem in den Studien der Jahre 1927-1929 liegt.
Die Thesen zu den Etruskern
Allgemeine Ansichten und Vorbilder
17Mühlestein verfolgte stets einen universalhistorischen Ansatz und besaß ein allumfassendes Welt-und Geschichtsbild, in welches er zahlreiche Kulturen und historische Prozesse als bis in die heutige Zeit relevante Faktoren einzufügen versuchte. Entsprechend schreibt Mühlestein: “So soll hier nicht Totes der Geschichte, sondern Urlebendiges, hinter ihrer starren Maske immer Gegenwärtiges herauf beschworen werden”33.
18Nach Mühlestein ist die europäische Geschichte schon vor dem Beginn der Antike bis in die heutige Zeit von Kulturkämpfen (von ihm als “Psychomachien” bezeichnet) geprägt gewesen. Die Psychomachien definieren laut Mühlestein die Geschichte und führen zu massiven kulturellen Umwälzungsprozessen:
“Alle innere Geschichte,… kann nun begriffen werden als ein einziger ungeheurer Prozeß wachsenden Ineinander-Ringens und Ineinander-Wachsens, wechselseitiger Abstoßung und Anziehung und schließlich unlöslicher gegenseitiger Durchdringung und Verschmelzung des ersten in der Weltgeschichte auftretenden Teils der Nord-Menschheit mit der Gesamtheit der autochthonen Mittelmeer-Völker”34.
19Für die mediterranen Kulturen der Antike spricht Mühlestein außerdem “…von der Psychomachie zwischen der Zeuswelt des Nordmenschentums und den orphisch-demetrischen Gewalten der chthonischen Religion der Autochthonen…”35. Grundsätzlich ist die Antike für ihn von einem Kulturkampf zwischen zwei Impulsen, den autochthonen Mittelmeervölkern und neu hinzutretenden Völkern, geprägt. Diese beiden zentralen Impulse, welche den Antrieb für die mediterranen Kulturen bilden sollten und die europäischen Kulturen bis in die moderne Zeit beeinflussen sollten, benennt Mühlestein als den “etruskische[n] Impuls: das geschichtsältere vordereuropäische, mutterrechtliche, mittelmeerisch-etruskische Prinzip hochkünstlerischer Sinnenkultur”36 und als den “iranische[n] Impuls: das geschichtsjüngere indoeuropäische, vaterrechtliche, iranische Prinzip autonomer Geisteskultur”37.
20Da diese beiden Impulse nach Ansicht Mühlesteins die europäische Geschichte langfristig prägten, stellen die Etrusker folgerichtig für ihn eines jener wenigen zentralen Völker dar, welche die europäische Geschichte als “Kulturstiftervolk” bis in die Neuzeit prägten:
“Die Etrusker sind ein ausgesprochenes Kulturstiftervolk, und zwar eines jener wenigen Völker, die als Same ausgestreut wurden, um im Schoße fremder Völker unterzu gehen und dennoch eine weltgeschichtliche Mission zu erfüllen: indem sie in einem gewissermaßen zweiten unter-oder übergeschichtlichen Dasein geistesgeschichtliche Folgewirkungen von ganz unkontrollierbarer Kraft und Dauer auslösen.... Schon allein die Tatsache, daß ‘Rom’ eine etruskische Gründung ist,… zeigt die gar nicht zu überschätzende Bedeutung der Rolle, die diesem–während langer Zeiten unserem weltgeschichtlichen Bewußtsein spurlos entschwundenen–Volk für die Entstehung und dadurch für alle Folgezustände des von Rom geführten Abendlandes zukommt”38.
21Für Mühlestein sind die Etrusker deshalb so zentral und interessant, weil sie Kultur in den mediterranen Raum und in das “Abendland” gebracht hätten und trotz–oder gerade wegen–ihres Aufgehens im Römischen Reich enorme geistesgeschichtliche Folgewirkungen ausgelöst hätten. Daher nehmen die Etrusker als eines jener “Kulturstiftervölker” eine zentrale Rolle in den übergeordneten kulturhistorischen Überlegungen von Mühlestein ein.
22Für das übergeordnete Geschichtsbild und die Theorien von Kulturkämpfen wurde Mühlestein vor allem von den beiden Kulturwissenschaftlern Johann Jakob Bachofen39 und Oswald Spengler geprägt:
“Bachofen ist der grundlegende und abgrunderschließende Blick in die Essenz, in das Ineinandersein zweier Weltalter, in die früheste unserer Psychomachien gelungen, aus der unser Abendland sich zum Eigensein losrang – Spengler ist berufen, die geschichtliche Epopöe dieses Ringens auf dem Hintergrund der ältesten Jahrtausende dieses Geschichtsraums aufzurollen. Erst mit beiden zusammen werden wir die ganze Geschichte... besitzen,...”40.
23Insbesondere Johann Jakob Bachofen scheint einen besonders großen Einfluss auf Mühlestein ausgeübt zu haben, da Mühlestein dessen Konzepte zum Matriarchat bei den Etruskern übernimmt und wie Bachofen eine “innere” spirituelle Geschichte und keine reine Faktengeschichte anstrebt. Ebenso schreibt Mühlestein von einer “Orientalisierung Roms durch die Etrusker” – eine deutliche Orientierung an Bachofens “etruskologischem” Hauptwerk Die Sage von Tanaquil. Eine Untersuchung über den Orientalismus in Rom und Italien (Heidelberg 1870)41. Mühlestein schätzt für die Geschichtsschreibung “Bachofens Genieblick”42 und die “Adaption der Bachofenschen Wahrheit”43, also die Kenntnisnahme einer sogenannten “inneren Geistesgeschichte” und der Bedeutung von “väterlichen und mütterlichen Elementarkräften”44. Die Idee Bachofens von einem “seelischen Ringkampf zweier Geisteswelten”45 wird von Mühlestein offensichtlich stark durch den iranischen und etruskischen Impuls rezipiert.
24Da es Mühlestein vor allem um eine universalhistorische, ideengeschichtliche (und letztlich unwissenschaftliche) Sichtweise geht, missfallen ihm die traditionelle Altertumswissenschaft und ihre detaillierten Materialstudien sehr. Insbesondere kritisierte Mühlestein Theodor Mommsen46 und “die Schule Mommsens, des rationalistischen Mythenzerstörers und Götterzertrümmerers”47. Er spricht gar von “Mommsens Diktatur”48 in Bezug auf seine Stellung innerhalb der Altertumswissenschaft und im Zusammenhang mit den Etruskern von “dem etruskophoben Zerrbild Mommsens”49. Da Theodor Mommsen die für Mühlestein zentrale Frage nach der Herkunft der Etrusker für unlösbar und völlig uninteressant hält und ein rationales Material- und Quellenstudium betreibt, stellt er eine klare Gegenposition zu Hans Mühlestein und seiner “inneren, spirituellen Geschichte” dar. Die historischen Quellen, die von der Herkunft der Etrusker berichten, von Mommsen aber nicht zur Rekonstruktion benutzt werden, benennt Mühlestein entsprechend als Schriftquellen, “die Mommsen, mit Ausnahme natürlich des Dionysios von Halikarnaß, mit stillschweigender Verachtung übergeht”, “die Mommsen als Ammenmärchen behandelte” oder “die Mommsen zeitlebens–gestorben 1903–ignoriert hat”50.
25Ähnlich negativ äußert sich Mühlestein zunächst zu Eduard Meyer51:
“Denn was wir von Eduard Meyer darüber besitzen, ist zwar eine immense, mit vielleicht noch nie dagewesener Spezialkenntnis aufgehäufte Materialienkunde, die jedoch nicht einmal bis zu einer logozentrischen, geschweige zu einer biozentrischen Einheit durchgestoßen ist und daher jeder lebenserweckenden, elementar-religiösen Sinngebung ermangelt”52.
26Da Eduard Meyer 1893 noch ein entschiedener Gegner einer Einwanderung der Etrusker und überzeugter Anhänger der “Autochthoniethese” bzw. der “Raetertheorie” (der Einwanderung aus der Po-Ebene bzw. aus dem Norden) ist, wird er – wie Theodor Mommsen – von Mühlestein zunächst massiv kritisiert und abgelehnt. Weil Meyer aber auch die Schriftquellen, welche eine Einwanderung der Etrusker beschreiben, aufführt und die Inschriftenstele von Lemnos sowie 1921 schließlich auch die “Turša-These”53 in seinen Überlegungen berücksichtigt, werden ihm von Mühlestein eine gewisse Objektivität und Gewissenhaftigkeit zugestanden. Als Eduard Meyer 1928 in der zweiten Auflage seiner Geschichte des Altertums seine Meinung ändert und von einer Einwanderung der Etrusker aus dem Osten ausgeht, steht Mühlestein Meyer positiv gegenüber und sieht seine neue Sichtweise als eine Bestärkung seiner Argumentation54. In der Sichtweise von Mühlestein ist schließlich “Eduard Meyer vom Saulus zum Paulus bekehrt worden”55.
Die Herkunftsthese
27In den Werken Die Geburt des Abendlandes. Ein Beitrag zum Sinnwandel der Geschichte und Über die Herkunft der Etrusker beschreibt Hans Mühlestein seine Vorstellungen und Konstruktionen bezüglich der Herkunft der Etrusker. Das Mittelmeer ist für Mühlestein die Wiege des Abendlandes; darin ließen sich seiner Meinung nach zwei mediterrane, “vorindogermanische” ethnische Gruppen ausmachen: eine westliche, ältere und eine östliche, jüngere Gruppe. Die westliche Gruppe habe ihr Zentrum im westlichen Nordafrika gehabt und zöge sich bis nach Ägypten. Diese ethnische Gruppe inspirierte dann die frühe Gräberkultur Mittelitaliens, welche von Mühlestein als “Ligurer” bezeichnet wird56. Die östliche Gruppe stamme dagegen aus dem Kaukasus und sei westlich vor allem in Kleinasien und in der Ägäis zu finden gewesen. Mit dieser Gruppe verbindet Mühlestein die Argonautensage und die Fahrt nach Kolchis. Diese östliche Gruppe breitete sich bis zum Balkan aus und wird von Mühlestein als “Pelasger” bezeichnet. Sie gelangte als zweite Schicht nach Etrurien wie auch nach Latium und brachte neue Technologien (Töpferei und Mauertechnik), von Mühlestein wird diese zweite Schicht “Rasenna” genannt57. Zuletzt gelangten die “Tyrrhener” laut Mühlestein aus Kleinasien auf dem Seeweg nach Etrurien, übernahmen die Sprache, erschufen aber sonst als eine neue Oberschicht über die alteingesessenen Stämme eine neue Gesellschaft. Diese Einwanderung würde durch die Invasion von Indogermanen (Hethiter oder dorische Stämme) in Kleinasien verursacht worden sein und gleichzeitig die Bewegung der Seevölker nach Ägypten sowie die der Philister in die Levante ausgelöst haben58. Es handelt sich bei den Etruskern nach Mühlestein also um eine ausgeprägte Mischkultur aus drei Volksgruppen, die durch zwei Einwanderungswellen regelrecht orientalisiert wurde:
“Die konstituierenden ethnischen Komponenten dieses Mischvolks sind folgende:
1. Das westmittelmeerische (iberische und nordwestafrikanische) Element der “Ligurer”, von denen der Urkeim zu der großartigen Gräberkultur der späteren Etrusker abstammt;...
2. Das ostmittelmeerische (frühkleinasiatische, “pelasgische”) Element der “Rasenna”, die vielleicht noch im 3. Jahrtausend v. Chr., jedenfalls vor dem Vorstoß der ersten Indogermanen... durch Landwanderung über den Balkan, die Donauländer und die Ostalpen nach Mittelitalien gelangt sein müssen....
3. Das ebenfalls ostmittelmeerische (spätkleinasiatische, “lydische”) Element der “Tyrrhener”, die durch Seewanderung, jedenfalls noch vor der letzten vorchristlichen Jahrtausendwende, als seeräuberische Wikinge an die “tyrrhenische” Küste, den Sitz uralter Stammverwandter, gelangten. Sie erst sind die Begründer der “etruskischen Nation” als solcher, die Träger des feudalen Herrentums, das staatenbildend wirkt, und des Orientalismus...”59.
28Die Überlegungen und Thesen zu komplexen Bewegungen, Beeinflussungen und Wanderungen im gesamten Mittelmeergebiet hat Mühlestein in einer Übersichtskarte zusammengetragen (Abb. 4.5). Die zentralen Wanderungen in den Vorstellungen Mühlesteins, welche die Etrusker betreffen, wurden von mir in einem Schema dargestellt (Abb. 6).
Das Mutterrecht und die etruskische Gesellschaft
29Mühlestein besaß deutlich von J. J. Bachofen inspirierte Vorstellungen zur etruskischen Gesellschaft und Religion. So schreibt Mühlestein in Die Geburt des Abendlandes von “Bachofens Entdeckung der zentralen Bedeutungdes Maternitätsprinzips für die Gesamtheit der etruskischen Kultur... und also die Einordnung der Etrusker – und mit ihnen des gesamten vorindogermanischen Italiens – in ihren wahren Lebenszusammenhang, in den eines eigenen vorindogermanischen Weltalters,...”60. Im gleichen Band beschreibt Mühlestein die Religion als dualistisch in Hinblick auf chthonische Fruchtbarkeits-und Muttergottheiten und indogermanischen Himmelsgöttern mit Tinia an der Spitze. Diese Vatergottheiten seien nach Mühlestein allerdings lediglich vollziehende Gewalten eines über ihnen stehenden Gremiums – des “Rats der verhüllten Götter”. Mühlestein deutet dies als Ausdruck einer Verehrung des Schicksals, welche sich auch in Northia und der saeculum-Lehre widerspiegeln würde61. Mühlestein unterscheidet deutlich die indogermanischen und vorindogermanischen Gesellschaften anhand der etruskischen und griechischen Religionen. Während die griechische Religion nach Mühlestein von der Macht freier Himmelsgötter ausginge, würden die Etrusker im Gegensatz dazu einen kosmischen Schicksalsglauben und Vorstellungen von der absoluten Macht unabänderlicher Schicksals-Gesetze besitzen62.
30Auch etwa 30 Jahre später geht Mühlestein für die von ihm postulierte autochthon-mediterrane Phase davon aus, dass “... alle Mittelmeervölker der Vorzeit ohne jede Ausnahme durch ein in sich geschlossenes System mutterrechtlicher Kultur zusammengehalten wurden”63. und bezieht sich dabei auf J. J. Bachofen. Von der frühen Eiszeit bis zur etruskischen Kultur gebe es ein durch das Matriarchat zusammengehaltenes kulturelles und gesellschaftliches Kontinuum, in den griechisch-römischen (= indogermanischen) Gesellschaften würden einige mutterrechliche Elemente weiterleben64. Entsprechend sei nach Mühlestein die etruskische Gesellschaft die letzte Instanz der vorindogermanischen Matriarchate gewesen. Der etruskische Mythos von der Offenbarung der “Disciplina Etrusca” durch Tages wird von Mühlestein in diesem Sinne als ein mutterrechtlich-chthonischer Mythos interpretiert. Die Blitzlehre stamme entsprechend aus Kreta, der lydische Zeus Targunnos und der anatolische Gewittergott Tarku bzw. der kretische Tarkomn werden von ihm mit dem etruskischen Tarchon gleichgesetzt65. Diese und weitere “Hinweise” bezieht Mühlestein auf orientalische, vorindogermanische Einflüsse, die durch die oben erläuterten Wanderungen nach Etrurien gelangt seien. Das Matriarchat und der mutterrechtliche Geschichtsimpuls bilden für Hans Mühlestein also den “Mutterboden” für die folgenden, produktiven Kulturmischungen und damit auch die Grundlage für die europäische Kultur bis in die italienische Renaissance66.
Untergang und Nachleben der Etrusker
31Der Untergang der Etrusker ist ebenfalls ein zentrales Thema von Hans Mühlestein. Ausgelöst wird dieser seiner Meinung nach durch die Einwanderung der Indogermanen in mehreren Wellen67:
“Senkrecht auf die Achse dieses vielleicht jahrtausendelangen westöstlichen und ostwestlichen Völker-und Kulturaustausches innerhalb der autochthonen Mittelmeer-Völkergemeinschaft stößt nun der Vorstoß der Nordvölker, der Hellenen und Italiker”68.
32Die neu hinzutretenden und indogermanischen Italiker – auch Rom – versteht Mühlestein als Bauernstämme und Bauernkulturen, die der etruskischen Kultur deutlich unterlegen gewesen seien. Erst um 500 v. Chr. schüttelte Rom in Mühlesteins Sichtweise die etruskischen Könige ab und begann einen Existenzkampf mit Etrurien, den es nach zwei Jahrhunderten schließlich gewann69. Wie Rom diesen Kampf gewinnen konnte, scheint für Mühlestein völlig unerklärlich gewesen zu sein, wie folgendes Zitat zeigt:
“Und es ist eines der größten Wunder der Geschichte, daß dieser rauhe römische Haufe (sic!) noch nicht mal ethnisch homogener Stadtbauern, Hirten und Zöllner an der großen Salzstraße vom Meer in die Berge und an der Wasserstraße des Tiber sich gegen die glanzvolle Feudal-Übermacht der Etrusker und durch den unentwirrbaren Knäuel nie endender Feindseligkeiten ringsum sich überhaupt den Ausgang in die Weltgeschichte zu erkämpfen vermochte. Ein Wunder des Charakters noch weit mehr als ein solches der physischen Kraft”70.
33Das frühe Rom ist in der Sicht Mühlesteins kein Volk, sondern vielmehr ein unorganisierter Haufen von Hirten und Söldnern, der einer großen kunstschaffenden Feudalmacht gegenübersteht. Rom besiegt schließlich die Etrusker und Karthager und erobert so das Mittelmeer. Indem die Römer aber die Etrusker besiegen und erobern, nehmen sie laut Mühlestein auch etruskische Bestandteile in ihre Kultur auf. Es kommt zu einem Aufgehen der Etrusker im “künstlerisch unschöpferischen” Rom und dadurch schließlich zu geistesgeschichtlichen Folgewirkungen, Kulturmischungen und zu kulturstiftenden Reaktionen. Diese schöpferischen Elemente leben laut Mühlestein dann in “Renaissancen” bis in die italienische Renaissance und die europäische Neuzeit fort. Der etruskische und der iranische Impuls bilden in Mühlesteins Modell zusammen eine kulturrevolutionäre Explosivkraft71:
“Wie eine schimmernde Kette – fast als einziges Licht – ziehen sich diese ‘Renaissancen’ durch die dunkelste Epoche des Abendlandes von der Antike bis zum hohen Mittelalter,… In allen diesen regionalen ‘Renaissancen’ lassen sich entweder wesentliche etruskische Formelemente als Leitfossile oder aber ganze künstlerische Phantasiekomplexe etruskischer Herkunft nachweisen,… Aus wahrhaft weltgeschichtlichen Dimensionen, sowohl zeitlich wie räumlich, trafen diese beiden Kulturströme in Italien zusammen – und sonst nirgendwo! Nur hier also konnte sich eine Kulturrevolution von solcher Explosivkraft und solcher geschichtlicher Spannweite ereignen, daß sie für die Kultur eines ganzen Erdteils – und darüber hinaus – bis heute entscheidend geblieben ist”72.
34Die Etrusker fungieren also hier als Träger einer idealisierten vorindogermanischen Kulturstufe und werden zum Ursprung und Beginn der europäischen Kultur stilisiert. Mühlestein projiziert auf komplexe und interessante Weise ein universalhistorisches Weltbild von Kulturkämpfen in die etruskische Kultur hinein.
Schlussfolgerungen
35Zusammengefasst weist Hans Mühlestein folgendes Etruskerbild auf: Die Kultur der Etrusker entstamme einer vorindogermanischen Mittelmeerkultur und besäße aufgrund mehrerer Einwanderungswellen zahlreiche orientalische Elemente. Die Etrusker seien weiterhin eine mutterrechtliche Gesellschaft und eines von wenigen Kulturstiftervölkern gewesen, die in einer von Kulturkämpfen geprägten Weltgeschichte durch ihr Aufgehen in das Römische Reich bis in die europäische Neuzeit eine kulturstiftende Wirkung gehabt hätten. Dieses stark idealisierte und konstruierte Bild von den Etruskern besteht aus drei hauptsächlichen Komponenten:
- Die Herkunftsthesen: Ein großer Teil von Mühlesteins Schriften beschäftigt sich mit dem damals sehr ausgiebig diskutierten ‚ Herkunftsproblem‘der Etrusker. Mühlestein folgt mit seinen Überlegungen zur Herkunft der Etrusker also einem zu dieser Zeit sehr aktuellen etruskologischen Diskurs, der seit dem 19. Jahrhundert bis zu Massimo Pallottinos Etruscologia (Mailand 1942) geführt wurde. Mühlestein benutzt seinen Diskurs, um zahlreiche “orientalische” Elemente und Kulturen (etwa die Turša = Seevölker, die Lyder und das minoische Kreta) mit den Etruskern zu verbinden.
- Die Vorstellung von einer idealen Gesellschaft: Mühlestein sieht in den von ihm konstruierten vorindogermanischen Matriarchaten des Mittelmeers ideale Gesellschaften, zu denen die Indogermanen einen Kontrast bilden. Die Etrusker stellen für ihn den letzten Rest dieser mutterrechtlichen Gesellschaften dar und sind für ihn das zentrale Kulturstiftervolk der Antike. Besonders deutlich wird diese Sichtweise beim Vergleich zwischen den Etruskern und dem Gegenspieler Rom, den Mühlestein als einen kulturell unterlegenen Haufen von Hirten sieht. Als Ursprung dieser Ideen und größter Einfluss ist sicher Bachofen zu sehen, der für die Etrusker ebenfalls ein utopisches Matriarchat postuliert.
- Die Auflösung dieser Gesellschaft und ihr Nachleben: Die indogermanischen Einwanderungen läuten für Mühlestein das Ende der utopischen etruskischen Kultur ein und sind Ausdruck universalhistorischer Vorstellungen von epochalen Kulturkämpfen, welche die Geschichte nachdrücklich prägen. Die Etrusker gehen im Römischen Reich auf, hinterlassen aber einen kulturstiftenden Impuls, der bis in die europäische Neuzeit wirken sollte. Vorbilder dieser gesamtgeschichtlichen Vorstellungen von immerwährenden Kulturkämpfen bilden sicherlich Oswald Spengler und sein Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes. Spengler postuliert in seinem Hauptwerk zyklische Aufstiege und Niedergänge von Kulturen und ‚ Seelen‘, die den verschiedenen Kulturen innewohnen. Diese Vorstellungen übernimmt Mühlestein sicher für den etruskischen und iranischen Impuls, die in einem Gegensatz zueinanderstehen. Zudem beschreibt Spengler in seinem Werk Unterschiede, Unverständnis und Zusammenstöße von Kulturen als eine zentrale historische Konstante. Diese Ideen erinnern stark an Mühlesteins Konzepte von einander gegensätzlichen Kulturen und von Psychomachien.
36Mühlesteins Konstruktion der Etrusker als utopisches Kulturstiftervolk ist geprägt von den Erfahrungen und Ideenströmungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Etrusker fungieren bei Hans Mühlestein als Katalysator und Sinnbild eines universalhistorischen Weltbilds. Die aus heutiger Sicht eigentümlich anmutende und unwissenschaftliche Rezeption der Etrusker mag uns als Warnung und als Antrieb zugleich dienen. Als Warnung vor der kulturwissenschaftlich unreflektierten Projektion von eigenen Vorstellungen und aktuellen politischen Ideen in eine antike Kultur. Als Antrieb durch die Anziehungskraft, die dem Studium der Etrusker und Italiker innewohnt. Massimo Pallottino beschrieb diesen Anreiz in Bezug auf George Dennis folgendermaßen:
“Ma l’etruscologo non può ignorare del tutto la suggestione che l’oggetto dei suoi studi esercita così diffusamente sul mondo della cultura. Egli deve, anzi, rispondere a questo richiamo, accoglierne la sollecitazione emotiva e non temere il contagio dell’entusiasmo”73.
Notes de bas de page
1 Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine veränderte und erweiterte Fassung meines Vortrags im Rahmen des dritten Treffens der Arbeitsgemeinschaft “Etrusker und Italiker” des Deutschen Archäologen-Verbands am 07.01.2012. Das Eingangszitat ist Mühlestein 1928b, 134 entnommen.
2 Mühlesteins Werke und Thesen wurden so gut wie überhaupt nicht zitiert oder aufgegriffen. Die anscheinend einzige Rezension eines seiner Bücher stammt von Kretschmer (1932, 221 sq.) zu Mühlestein 1929b und fiel negativ aus: “M. verficht eine richtige Grundthese, aber seine Kenntnisse reichen nicht aus, sie erheblich weiter zu fördern” (Kretschmer 1932, 222). Pericle Ducati (1938, 54 sq.) bewertet Mühlesteins Thesen zur Herkunft der Etrusker (ohne Bezug auf ein bestimmtes Werk) zusammen mit denen von Carl Schuchhardt als Wiederauferstehung der früheren ‘Etruskomanie’: “N’est-ce pas un peu d’étruscomanie qui persiste?” (Ducati 1938, 55). Ich danke Enrico Benelli für diese Information.
3 Zu Leben und Werk von Hans Mühlestein s. die autobiographischen Angaben in der Dissertation (Mühlestein 1928a, 131) und in dem Band Schweizerische Arbeiterdichter der Gegenwart (Mühlestein 1939) sowie Kuster 1984; Huonker 1986, 63, 146 sq.; Studer 1997; Studer 2009. s. außerdem folgende Onlinedatenbanken: mémreg, Hans Mühlestein (15.3.1887-15.5.1969), <http://www.memreg.ch/dossier.cfm?action=show&id=126> (03.05.2014); Professorenkatalog der Universität Leipzig–catalogus professorum lipsiensis, Prof. Dr. phil. Hans Mühlestein, <http://www.uni-leipzig.de/unigeschichte/professorenkatalog/leipzig/Muehlestein_719/> (03.05.2014).
4 Mühlestein 1928a, 131; Mühlestein 1939, 53; Kuster 1984, 7; Studer 1997, 288; Studer 2009, 789. Bereits ein Jahr später erschien das erste von Mühlestein verfasste Werk unter dem Titel ‘Ein Buch Gedichte’ (Bern 1906).
5 Mühlestein 1928a, 131; Mühlestein 1939, 53; Kuster 1984, 7 sq.; Studer 1997, 288; Professorenkatalog der Universität Leipzig (wie Anm. 3).
6 Huonker 1986, 63 mit Verweis auf: Verein schweizerischer Literaturfreunde, Hrsg. (1924), Führer zum literarischen Schweizerbuch, Zürich, 22.
7 Mühlestein 1939, 53: “Ab 1920 spezialisierte ich mich in Italien als Etruskerforscher; von da ab bis 1931 jährlich viele Monate in Italien”. Vgl. außerdem Kuster 1984, 22.
8 So besuchte Mühlestein 1926 etwa die Ausgrabungen von Raniero Mengarelli in den Nekropolen von Caere, wie aus einem Foto in den Monumenti Antichi (MonAnt 42, 1955, 5 sq. Abb. 1) hervorgeht. Ich danke Filippo Delpino für diesen Hinweis.
9 StEtr 1, 1927, 434; Mühlestein 1939, 53 sq.
10 Zu Otto Waser s. Isler 1988 mit weiterführender Literatur.
11 Ein Jahr davon galt als Ehrenjahr außerhalb der Statuten als Erkennung seiner Publikationen. Das Stipendium wurde von Franz Oppenheimer vermittelt (Mühlestein 1939, 54; Kuster 1984, 33 mit Verweis auf Seite 1 des Manuskripts von Mühlesteins fragmentarischer Autobiographie).
12 Mühlestein 1928a, V; Mühlestein 1929a, 10-12; Mühlestein 1929b, VIII; Mühlestein 1939, 54; Kuster 1984, 33; Studer 1997, 288; Studer 2009, 789.
13 Briefwechsel H. Mühlestein – A. Paquet (7 Dokumente; Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Sign. Nachl. A. Paquet (II) A 8 III (Mühlestein, Hans)).
14 Eine Einladung zum Vortrag (ohne Jahresangabe) befindet sich im Nachlass von A. Paquet (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Sign. Nachl.A.Paquet (II) A 8 III (Mühlestein, Hans). Da Mühlestein erst im Dezember 1927 zu einer Sitzung der Rheinvereinigung eingeladen wurde (s. Anm. 14), kann der Vortrag frühestens 1928 stattgefunden haben. 1932 verlässt Mühlestein Deutschland, so dass nur der Zeitraum 1928-1931 in Frage kommen kann. Die gesamte Korrespondenz (bis auf eine Postkarte von 1914) zwischen Mühlestein und Paquet stammt aus den Jahren 1927/1928, so dass als Datum der 17.11.1928 wahrscheinlich sein dürfte.
15 Paquet schien Mühlestein in diese Rheinvereinigung eingeladen zu haben. In einem maschinenschriftlichen Briefdurchschlag von Paquet an Mühlestein heißt es: “Lieber Hans Mühlestein, in der Anlage sende ich Ihnen das Einladungsschreiben für die zum 20. d.M. einberufene Sitzung unserer Rheinvereinigung. Ich hoffe sehr, dass es Ihnen möglich sein wird, an der Sitzung teilzunehmen, und ich zweifle nicht daran, dass Sie die Berührung mit diesem Kreise der Mühe wert finden werden...” (Durchschlag eines Briefes Frankfurt am Main vom 10.12.1927 von A. Paquet an H. Mühlestein; Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Sign. Nachl.A.Paquet (II) A 8 III (Mühlestein, Hans).
16 Mühlestein 1939, 54: “1929: Berufung durch den preussischen Unterrichtsminister Prof. Becker an die Universität Frankfurt a. M. als ‘ministerieller Lehrbeauftragter für Vorgeschichte der Kultur der Menschheit’, mit der Massgabe der Ernennung zum Ordinarius nach acht, spätestens zehn Semestern; mit dem Recht der Vertretung des Fachs in der Fakultät, der Gründung eines Instituts und einer Bibliothek, wozu ich über eigenes Budget verfügte”.
17 Kuster 1984, 34 mit Verweis auf Seite 2 des Manuskripts von Mühlesteins fragmentarischer Autobiographie.
18 Mühlestein 1939, 55: “Als nach der Vergewaltigung Preussens durch Papen am 20. Juli 1932 sich abermals keine einzige Stimme meiner akademischen Kollegen zum Protest erhob (obwohl angeblich ein Drittel unter ihnen “Sozialisten” waren), beschloss ich, zu demissionieren, und verliess am 30. Juli für immer Deutschland”. s. auch Kuster 1984, 33 sq.
19 Mühlestein 1939, 55-57; Kuster 1984, 35; Huonker 1986, 146 sq.; Studer 1997, 289.
20 Mühlestein 1939, 55; Huonker 1986, 147.
21 Studer 1997, 289; Studer 2009, 789 sq.; Professorenkatalog der Universität Leipzig (wie Anm. 3).
22 Mühlestein 1929b, VIII.
23 Das Buch ist vom Verlag auf 1928 vordatiert worden, erschien aber bereits im Herbst 1927, worauf Mühlestein (1957, 115 Anm. 3) selbst hinweist.
24 In einem Brief vom 30./31.10.1928 schreibt Mühlestein, dass er eine letzte Korrektur für das Buch abgeschlossen hat und bei dieser Gelegenheit Herman Wirths gerade erschienenes, nationalsozialistisch-esoterisches Buch “Der Aufgang der Menschheit. Untersuchungen zur Geschichte der Religion, Symbolik und Schrift der atlantisch-nordischen Rasse (Jena 1928)” oberflächlich eingebaut hat: “... (Dass ich bei einer letzten Korrektur meiner “Herkunft der Etrusker” Herman Wirth noch eingeschmuggelt habe – was ja nach Lage der Dinge leider nur noch in gänzlich ungenügender, nur grundsätzlich hinweisender Weise geschehen konnte – will ich nur nebenher erwähnen).” (Brief Frankfurt am Main 30./31.10.1928 von H. Mühlestein an Unbekannt; Thüringer Universitäts-und Landesbibliothek Jena, Sign. Di 1179). Das Buch war also Ende Oktober 1928 schon fast fertiggestellt. Die stark nationalsozialistisch bestimmten Thesen von H. Wirth wurden in “Exkurs III: Hinweis auf eine notwendige Ergänzung der prähistorischen Etruskerforschung” auf euphorische Weise wiedergegeben, danach jedoch in keinem anderen Buch mehr erwähnt. Wahrscheinlich erkannte der kommunistisch gesinnte Mühlestein nach der Drucklegung seines Buches die nationalsozialistische Ideologie H. Wirths.
25 Mühlestein (1929b, 31 mit Anm. 1) bezieht sich in seinem dritten Kapitel stark auf Meyer 1928, insb. 555-611.
26 Exkurs I: Sumerer und Etrusker. Exkurs II: Chalder und Etrusker. Exkurs III: Hinweis auf eine notwendige Ergänzung der prähistorischen Etruskerforschung.
27 s. o. dazu Anm. 2.
28 Mühlestein 1957, 283.
29 Mühlestein 1969, 5.
30 Mühlestein 1957, 107 Anm. 1: “Ich sollte sie [Anm. Verf.: eine Minerva-Figur aus Volsinii] in meiner umfassenden etruskischen Kunstgeschichte, die Ende 1955 druckfertig vorlag und deren über 400 Klischees gleichzeitig schon fertiggestellt waren, mit vielen anderen Erstpublikationen zusammen publizieren. Leider hat eine unqualifizierbare Machenschaft, zu der sich der Verleger selbst, sein Mäzen und sogar ein namhafter Gelehrter hergaben, das Erscheinen des Werkes, für das sich in einer früheren Phase noch Thomas Mann mit seltener Hingabe eingesetzt hatte und in dem ein Großteil meiner Lebensarbeit steckt, im letzten Augenblick verhindert”.
31 Studer 1997, 289.
32 So beruft sich Mühlestein 1957 (115 Anm. 2.3) immer noch für das Konstrukt der “Turša-Etrusker” auf E. Meyer (1928), Mühlestein 1929b, 1-48 und Mühlestein 1928b, 57 sq., 97, 114. Noch 1969 zitiert Mühlestein für “das voritalische Schicksal der Etrusker” Mühlestein 1957, 99-165 (Mühlestein 1969, 9 Anm. 1), für Kunstobjekte Mühlestein 1929a passim (z. B. Mühlestein 1969, 82 Anm. 76, 79; 119 Anm. 4; 120 Anm. 6) und zum “Mischkunst-Charakter” der orientalisierenden Kunst Mühlestein 1929a, 40 sq. (Mühlestein 1969, 134 Anm. 3).
33 Mühlestein 1928b, 18.
34 Mühlestein 1928b, 136 sq.
35 Mühlestein 1928b, 137.
36 Mühlestein 1957, 85. Den etruskischen Impuls definiert Mühlestein folgendermaßen: “Es gehört noch der älteren vorindoeuropäischen, wesentlich mutterrechtlich-religiösen Weltstufe an, die im Mittelmeer von der autochthon-mediterranen, vorgriechisch-ägäischen und vorgriechischkleinasiatischen Völkerfamilie... geschaffen wurde. Sie gipfelte schon in der ersten europäischen Hochkultur, der zauberhaften altkretischen Inselkultur,.... Diese kretisch-ägäisch-kleinasiatische Kultur ist es, welche, noch bevor sie durchgehend graecisiert wurde, durch die Etrusker – zwei Jahrhunderte vor Homer und vier Jahrhunderte bevor der iranische Impuls in die kleinasiatischen Ionier fuhr – nach Italien gebracht wurde. Hier stifteten sie die erste Hochkultur Italiens schon seit dem zehnten Jahrhundert v. Chr....” (Mühlestein 1957, 92 sq.).
37 Mühlestein 1957, 85. Den iranischen Impuls beschreibt Mühlestein wie folgt: “Der iranische Impuls, das Prinzip der bedingungslosen Autonomie als grundlegender bewegender Kraft für Geist und Geschichte, gehört einer jüngeren Weltstufe an, die wesentlich indoeuropäisch, wesentlich vaterrechtlich ist.” (Mühlestein 1957, 94).
38 Mühlestein 1929a, 7.
39 Zu J. J. Bachofen s. Amann 2000, 13-15 und Fornaro 2012 mit Verweisen.
40 Mühlestein 1928b, 15.
41 Mühlestein 1928b, 134. Obwohl Bachofens Studie in der Etruskologie zu Recht als unwissenschaftlich zurückgewiesen wurde, hält Mühlestein es sogar für eines der bedeutsamsten Bücher zu einem etruskischen Thema überhaupt: “Es ist” Die Sage von Tanaquil. Eine Untersuchung über den Orientalismus in Rom und Italien “erschienen im Jahr 1870 – das fraglos fruchtbarste, weil ideenreichste und ideentiefste Werk, das jemals einem etruskischen Gegenstand gewidmet worden ist” (Mühlestein 1928b, 82).
42 Mühlestein 1928b, 38.
43 Mühlestein 1928b, 28.
44 s. dazu vor allem Mühlestein 1928b, 17-21.
45 Mühlestein 1928b, 15.
46 Zu T. Mommsen s. zuletzt Rebenich 2012 mit weiterführenden Hinweisen.
47 Mühlestein 1928a, 45 = Mühlestein 1929b, 45.
48 Mühlestein 1928b, 82.
49 Mühlestein 1928a, 37 = Mühlestein 1929b, 37 mit Verweis auf T. Mommsen, Röm. Gesch. I, S. 119 sq. (Zitierweise Mühlestein). Mommsen erläutert dort unmissverständlich, dass er die Frage nach der Herkunft der Etrusker für unlösbar und vor allem für uninteressant hält: “Ebenso wenig lässt sich bestimmen, von wo die Etrusker nach Italien eingewandert sind; und hiermit ist nicht viel verloren, da diese Wanderung auf jeden Fall der Kinderzeit des Volkes angehört und dessen geschichtliche Entwickelung in Italien beginnt und endet. Indess ist kaum eine Frage eifriger behandelt worden als diese, nach jenem Grundsatz der Archäologen vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder wissbar noch wissenswerth ist, “nach der Mutter der Hekabe”, wie Kaiser Tiberius meinte [Anm. Verf.: eine Anspielung auf Suet, Tib., 70.3]” (Mommsen 1888, 119).
50 Alle drei Zitate des Satzes entstammen Mühlestein 1928a, 38 = Mühlestein 1929b, 38.
51 Zu Eduard Meyer s. zuletzt Meißner 2012 mit weiterführenden Verweisen.
52 Mühlestein 1928b, 14.
53 Gemeint ist die damals in Mode gekommene, irrtümliche Identifizierung der Etrusker (= Tyrrhenoi/Tyrsenoi) mit den Turša in ägyptischen Beschreibungen der Seevölker.
54 Mühlestein 1928a, 31-41 = Mühlestein 1929b, 31-41.
55 Mühlestein 1928a, 37 = Mühlestein 1929b, 37.
56 Mühlestein 1928b, 48-55; Mühlestein 1928a, 51 sq. = Mühlestein 1929b, 51 sq.
57 Mühlestein 1928b, 54-56; Mühlestein 1928a, 53 = Mühlestein 1929b, 53.
58 Mühlestein 1928b, 56-58; Mühlestein 1928a, 53-55 = Mühlestein 1929b, 53-55.
59 Mühlestein 1928b, 61 sq.
60 Mühlestein 1928b, 83.
61 Mühlestein 1928b, 85-89.
62 Mühlestein 1928b, 91-93.
63 Mühlestein 1957, 100.
64 Mühlestein 1957, 100-103.
65 Mühlestein 1957, 151 sq.
66 Mühlestein 1957, 99-103.
67 Mühlestein 1928b, 106 f. 113 sq.
68 Mühlestein 1928b, 113.
69 Mühlestein 1928b, 118-123.
70 Mühlestein 1928b, 123.
71 Mühlestein 1957, 90-92.
72 Mühlestein 1957, 91 sq.
73 Pallottino [1985] 2002, 25 sq.
Auteur
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Abteilung für Klassische Archäologie ; rkraemer@uni-bonn.de
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