Kaunische Mauern – zwischen Stil und Pragmatismus
p. 317-329
Texte intégral
1Neben den bekannten Felsgräbern von Kaunos sind unter den herausragenden Denkmälern der Stadt in gleicher Weise die Reste der Stadtmauer zu nennen, die vor mehr als einenhalb Jahrhunderten als weithin sichtbare Zeugen zur Entdeckung der Ruinen führten und damit unmittelbar anschliessend zu deren Identifizierung mit dem antiken Kaunos beitrugen1. So wurden sie auch schon von den frühesten Besuchern gewürdigt2, besonders eindrucksvolle Abschnitte wurden frühzeitig in Photos und sogar Zeichnungen bekannt gemacht3, und im Kontext der Geschichte der Stadt Kaunos spielten sie immer wieder eine wichtige Rolle4. Unterschiede im Mauerwerk – polygonal und isodom – wurden registriert, ebenso die Einbindung oder Anfügung von Türmen, ihre unterschiedlichen Mauerformen, die Anlage und Verteilung der Tore oder auch eine Einzelheit wie die ‘Zinnenform’ der Brustwehr in einem sehr gut erhaltenen Abschnitt der Westmauer. Und früh schon diskutierte man angesichts der erstaunlichen Formenvielfalt die Möglichkeit, daß Teile der Stadtmauer zu unterschiedlichen Zeiten errichtet seien (s. Anm. 2 und 3), oder dass gar spätere Reparaturen zu so unterschiedlichen Mauerformen geführt hätten (s. Anm. 4). Nicht zu übersehen ist dabei, dass man sich bis in jüngste Vergangenheit mit sehr kursorischen topographischen Skizzen begnügte, die von der geographischen Situation, vom konkreten Verlauf der Mauer und von der Verteilung der Türme kaum oder gar nichts erkennen lassen5. Und ebenso wenig ist zu übersehen, dass zumeist vor dem Hintergrund antiker historischer Quellen einzelne Mauerbereiche angesprochen und bewertet wurden, dass aber eine systematische Betrachtung und Auswertung der Mauer selbst im Sinne eines eigenwertigen archäologischen Denkmals nie versucht wurde6. So mag es gerechtfertigt sein, unter einem speziellen Aspekt jenen Teil der umfangreichen Ummauerung der Stadt Kaunos ins Auge zu fassen, der am besten erhalten ist.
2Vor allem die W-Mauer hat in ihrem nördlichen Teil die Jahrhunderte erstaunlich gut überdauert, besonders im Bereich A77, eine 2-Schalen-Mauer, die weitgehend bis zum Wehrgang einschließlich der c. 3 m hohen Mauerbrüstung mit ihren 1,45 m breiten, hohen ‘Fenstern’ aufrecht steht; durchgehend besteht die Mauer aus sorgfältig zugehauenen Quadern, die isodom mit regelmäßigen Bindern verlegt sind. Ganz offenkundig hebt sich von diesem Teil der südliche ab, der bis zur Anhöhe Sivri Hisar polygonales Mauerwerk zeigt; nur die grossen vorgelegten Bastionen sind ihrerseits wieder isodom angelegt. Über diese grobe Unterscheidung hinaus ergeben sich freilich noch weitere Besonderheiten.
3An der Feldseite des nördlichen Mauerabschnittes ist zu beobachten, dass die unteren Quaderlagen der erhaltenen Mauer (Abb. 1) fast doppelt so hoch sind wie die oberen (0.56 bzw. 0,30 m)8, die damit kleinteiliger, leichter, wirken; möglicherweise sollte die Mauer dadurch auch optisch höher wirken9. Da nun die Mauer den Berghang ansteigt, werden die niedrigeren oberen Lagen zwangsläufig nach einem gewissen Abschnitt zu unteren Quaderlagen; um die Höhe anzupassen, treten in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen anstelle der flachen Quader deutlich höhere, so dass dann z. B. 7 niedrige Quaderlagen durch 5 höherformatige ersetzt werden (Abb. 2). Dieser Wechsel erfordert es, dass die einzelnen Quader an der ‘Nahtstelle’ mit entsprechenden Ausklinkungen genau aufeinander abgestimmt werden – ein staunenswerter Arbeitsaufwand10. Diese ‘Fugen’ verlaufen meist nicht vertikal, sondern in klarer Treppung über 1 bis 2 m hin; ferner betreffen sie in der Regel nicht die volle Mauerhöhe, sondern lassen meist im Bodenbereich einzelne Quaderschichten durchlaufen, gelegentlich auch bis zu sechs Schichten; so ist es wenig plausibel, diese Fugen im Sinne von Arbeitsabschnitten einzelner Bauhütten deuten zu wollen11. Ferner sind z. B. auf eine Strecke von c. 80 m bei einer Höhendifferenz von c. 15 m sechs solcher Fugen zu beobachten, wobei die Abstände je nach Steigung des Hanges zwischen c. 5,5 und 27,5 m messen. Auch dieser Sachverhalt macht deutlich, dass diese Fugen offenbar nicht durch pragmatische Gesichtspunkte wie Baulose bestimmt sind, sondern der aesthetischen Absicht folgen, auch am Hang die Mauer im Sinne einer stabilen ‘Basis’ und eines zunehmend leichter wirkenden ‘Oberbaus’ zu gliedern. An einem Nutzbau wie einer Stadtmauer, die sich weit abgelegen vom Haupttor der Stadt über fast 2 km den Berghang hinaufzieht, scheint die Berücksichtigung solcher aesthetischen Kategorien recht erstaunlich – verursachten sie doch durch genau abgestimmte Ausklinkungen der Quader bzw. durch sorgfältige Verzahnung der unterschiedlich hohen Schichten einen gewaltigen zusätzlichen Arbeitsaufwand bei Errichtung der Mauer.
4Der beschriebene Sachverhalt der Stadtmauer-Feldseite wird ergänzt durch den Befund auf der Stadtseite (Abb. 3). Dort sind im gleichen Mauerabschnitt die Höhen-Unterschiede zwischen hohen ‘Basisquadern’ und den flacheren Schichten der Mauerkrone deutlich geringer; dennoch sind analog zur Feldseite auch hier immer wieder Mauer-Fugen zu beobachten, die beispielsweise für den Ausgleich von 6 flacheren mit 5 höheren Schichten sorgen. Im Unterschied zur Außenseite scheinen kompliziertere Ausklinkungen seltener zu sein – vielleicht ein Hinweis darauf, dass auf diese Weise die repräsentative Feldseite bevorzugt behandelt werden sollte.
5Weiter führen die Unterschiedlichkeiten im südlichen Teil der W-Mauer, der nur auf den ersten Blick hin einheitlich polygonal zu sein scheint. Näheres Zusehen lässt erkennen, dass z. B. im Bereich A5 (Abb. 4) neben großen dunklen Konglomerat-Blöcken hellere Kalksteinund Marmorblöcke verwendet sind, die ganz unterschiedliche Formate aufweisen, die teilweise einen kursorischen Kamm-artigen Randschlag zeigen, und deren Fugen nicht immer dicht schliessen; in Zwickeln sind auch mehrfach kleine Füllsteine eingepasst. Die Eigenart solcher Abschnitte wird deutlicher, wenn man weiter südliche Teile der Mauer vergleicht. So ist südlich des W-Tores [A3] für die polygonalen Blöcke fast regelmässig jener Kamm-artige Randschlag verwendet12, der bei engem Fugenschluss den Eindruck vermittelt, als verbinde die Steine so etwas wie ein Reißverschluss. Hinzu kommt, dass gerne fast elegant gebogene Konturen benutzt werden, wie sie im weiteren Verlauf nur selten zu beobachten sind. Für den Randschlag sowie für den dichten Fugenverband sei an ein Beispiel in Xanthos erinnert, an einen Mauerabschnitt auf der Lykischen Akropolis, der aufgrund einer Inschrift in die Zeit vor 197 v. Chr., d. h. vielleicht ins späte 3. Jh. v. Chr. datiert wird – ein erster grober Anhaltspunkt für den Zeithorizont des kaunischen Mauerabschnittes13.
6Nur wenige Schritte entfernt findet sich unmittelbar nördlich der großen, dem W-Tor vorgelagerten Bastion ein ganz anderer Polygonalverband (Abb. 5). Durchgehend ist auf den Randschlag verzichtet, die Blöcke haben vornehmlich rundliche Formate, und ihre Fronten treten recht einheitlich als kräftige Buckel vor. Die Fugen schliessen dicht, und zugleich ergibt sich analog zur unregelmässigen Ausladung der Fronten ein leichtes Vor und Zurück des Fugennetzes, so etwas wie ein Relief der Mauerfront. Dieser Mauerabschnitt verschwindet hinter der N-Mauer der mächtigen W-Bastion14, die mit ihrem isodomen Mauerwerk vor die Mauer gesetzt wurde – offensichtlich in einer späteren Phase. Diese Deutung des Befundes wird bestätigt durch die Anlage der ganzen Bastion, die bei einem Format von 13,7 x 13,7 m einen quadratischen Turm von 7 x 7 m, der in die Polygonalmauer einbindet, regelrecht ummantelt. Dieser Turm ist mitsamt seiner Eingangstür bis fast zum Türsturz noch tadellos erhalten und wurde anscheinend im Zuge der Erweiterung zur Bastion kurzerhand mit Steinmaterial verfüllt.
7Die beiden skizzierten Formen des Polygonalverbandes lassen daran denken, dass es sich um zeitbedingte Unterschiede in der Gestaltung der Mauer handelt; Zerstörungen, Erneuerungen sowie Erweiterungen der Mauer mögen es mit sich gebracht haben, dass neue, zeitgemässe Formen zur Anwendung kamen15. Freilich ist häufiger jene Form zu beobachten, die oben im Bereich A5 angesprochen wurde: Hier scheinen verschiedenste Formen von polygonalen Blöcken und unterschiedliches Material verwendet worden zu sein, wobei sowohl kleinere Flicksteine wie auch kleinere Lücken recht häufig begegnen. Die Frage liegt nahe, ob hier vielleicht im Rahmen einer Renovierung bereits verfügbares Steinmaterial, sowohl Blöcke ohne Randschlag wie solche mit Randschlag benutzt wurden, dazu vermutlich auch neu zugehauenes Steinmaterial.
8In der S-Mauer der bereits genannten großen Bastion am W-Tor (Abb. 6) sind neben den grossen, kräftig bossierten Quadern zur SW-Ecke hin im unteren Bereich auch sauber geglättete Marmorquader verbaut, von denen einer den Rest einer metrisch abgefassten Grabinschrift trägt16. Demnach galt das Grabmal einem Mann aus Arkadien, wohl aus Pheneos, der nach der Buchstabenform zu urteilen in der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. dieses Denkmal errichtet bekam. Dieser Datierungshinweis wird bestätigt durch Scherbenfunde aus dem Schutt vor der Mauer, attische Schwarzfirnis-Ware mit weiss aufgelegtem Blattdekor; sie gehört gleichfalls in die Zeit des späten 4. Jh. v. Chr. Damit ist ein ungefährer terminus post quem für die Errichtung der Bastion gewonnen.
9Ähnliche Spolien wie in der genannten Bastion finden sich in zwei weiter nördlich gelegenen Bastionen an gleicher Stelle; im einen Fall ist deutlich, dass Schmuckprofile abgeschlagen wurden, als die Blöcke verbaut wurden; sie müssen also von repräsentativen Bauwerken stammen17. Kleinformatigere Spolien wurden zudem verwendet, als man auf der Stadtseite unmittelbar an die Polygonalmauer eine zweite Mauer anbaute: Offenbar um in einer zweiten Bauphase die Mauer zu verbreitern, wurde zur Stadt hin in zwei Meter Abstand eine schmale Mauerschale aus meist kleineren Quadern und Blöcken aufgeschichtet und der Zwischenraum zur Polygonalmauer hin mit einer Lehm-Steinpackung aufgefüllt. Diese Erweiterung der Mauer auf 4 m Breite sowie die Erweiterung der alten Türme zu mächtigen Bastionen scheinen, wie auch die reichliche Verwendung der Spolien zeigt, auf ein und denselben Anlass zurückzugehen. Dabei dürfte die Verwendung von Grabmälern in der Befestigung – eigentlich ein Sakrileg – auf einen Notstand verweisen, ähnlich z. B. der Situation in Athen nach der Schlacht von Chaironea, als Athen sich gezwungen sah, im Hinblick auf den anrückenden Feind seine verwahrlosten Befestigungen wieder in Stand zu setzen und dafür eben auch die Grabmäler der Vorfahren zu nutzen18. Ein vergleichbarer Notstand dürfte in Kaunos vorgelegen haben, als 227/6 v. Chr. ein schweres Erdbeben den Koloss in Rhodos einstürzen ließ, ebenso aber Stadtmauern und Schiffshäuser, die stabilsten Bauwerke ‘weitestgehend’19zerstörte und natürlich auch das nahe Karien heimsuchte20. Damit könnte der Hintergrund umschrieben sein, der die Situation an der Stadtmauer von Kaunos bis zu einem gewissen Grade erklären könnte: Die nahezu quadratischen alten Türme waren weitgehend stehen geblieben, sie wurden teilweise durch mächtige Bastionen ummantelt und stabilisiert, zugleich den Erfordernissen der neueren Wehrtechnik für Katapulte angepasst; die zweischalige Kurtine war hingegen offenbar weitgehend eingefallen, sie musste wieder aufgebaut werden, wobei man allem Anschein nach das alte Material weitgehend wiederbenutzte, wie die Blöcke mit und ohne Randschlag zeigen; zugleich versärkte man aber die Mauer auf ihre doppelte Breite21. Angesichts der Notsituation und angesichts der Menge an notwendigem Baumaterial griff man offensichtlich auch auf das Steinmaterial zurück, das die sicherlich ebenso zerstörten Nekropolen vor der Mauer boten. Bemerkenswert ist nun, dass man bei allem Pragmatismus in der Weiterverwendung des verfügbaren Steinmateriales doch beim Einsatz selektiv vorging, insofern man für die laufende Kurtine, insbesondere für die Feldseite den alten polygonalen Verband aufs Ganze wiederherstellte, für die mächtigen Bastionen aber die zeitgemäßen isodomen Bossenquader verwendete; nur für die neue Innenschale der jetzt 4 m starken Stadtmauer nutzte man ganz unterschiedliches Material, sowohl kleinere Bossenquader wie wiederverwendete Marmorquader (z. T. noch mit Klammerlöchern) wie polygonale Blöcke. Hinsichtlich der repräsentativen Feldseite der Stadtmauer scheint das kontrastierende Nebeneinander von polygonaler Kurtine und isodomen Bastionen bewusst eingesetzt zu sein und muss in der Zeit um 200 v. Chr. eine durchaus auffällige Erscheinung gewesen sein22.
10In Ergänzung zu den vorgetragenen Beobachtungen sei noch ein begrenzter Befund angeführt, der möglicherweise einen handfesteren Hinweis für die Chronologie von Mauerformen in Kaunos bietet. Unmittelbar nördlich der Thermen (C 4) befindet sich eine c. 6 m höher gelegene Terrasse, die zu den Thermen hin von einer c. 60 m langen Mauer U-förmig eingefasst wird; beide Ecken sind erhalten. In der östlichen Hälfte ist ein grosser Teil der Mauer eingestürzt, in der westlichen Hälfte ist sie dagegen weitgehend verdeckt durch eine spätere, unmittelbar vorgelagerte Zisternenanlage mit ihren 5 neben einander liegenden Kammern. Die westliche Terrassenecke (Abb. 7), die noch gut 3 m hoch ansteht, ist offensichtlich in späterer Zeit mit Hilfe von Mörtel neu aufgemauert worden, natürlich unter Verwendung alter Blöcke; nur der unterste, besonders große Eckblock, der nur zum kleinen Teil sichtbar ist, dürfte noch von einer älteren Phase stammen. Nach O hin schließt polygonaler Verband an, dessen bossierte Blöcke (ohne Randschlag) ursprünglich dicht gefügt waren, jetzt aber etwas klaffen, da die ganze Terrassen-Ecke ein wenig nach W abgesackt ist. Gerade noch erkennbar ist, dass der polygonale Verband nach oben von einer sauber angepassten Quaderlage abgeschlossen wird. Genau dieser Befund ist auch 6 m weiter östlich in einem kleinen Schnitt nachgewiesen (Abb. 8): Teils große, stark bossierte polygonale Blöcke dicht gefügt, darüber wie eine Ausgleichsschicht unterschiedlich flache Quader, und darüber 3 Lagen etwa 0,25 m hoher, isodom verlegter Quader mit Bindern, ganz ähnlich dem Mauerverband, den wir vom N-Teil der W-Mauer kennen.
11Ein isodomer Quaderverband kennzeichnet auch die östliche Terrassenecke (Abb. 9), die noch 6 m hoch ansteht; doch sind dort meist längere und höhere Formate gewählt, und in der Regel rahmt ein Kamm-artiger Randschlag die flach bossierten Quader-Spiegel. Im mittleren Bereich der Terrasse besteht die Mauer indessen aus einer über 6 m hoch anstehenden Polygonalmauer (Abb. 10), bei der auffällt, dass gerade im oberen Bereich große Blöcke dominieren, während nach unten zu kleinere Formate vorherrschen; die untersten, offenbar unbearbeiteten Steinlagen dürften das Fundament bilden, das unmittelbar auf dem Felsen aufliegt. Bei genauerem Hinsehen fallen dann zahlreiche kleine Flicksteine auf, dazu auch kleinere Lücken, womit der Verband trotz mancher sorgfältiger Anpassungen doch recht unruhig und kleinteilig, wie geflickt wirkt. Die reichlichen Keramikfunde der Mauer-Hinterfüllung (zumal im untersten, etwa 1 m hohen Aushub) zeigen neben wenigen Scherben einheimischer, archaischer Ware und neben Resten attischer Glanztonware klassischer Zeit vor allem Fragmente jener roten bzw. stumpf-schwarzen Ware, die in Kaunos vielfach anzutreffen ist und die wohl ins vorgerückte 3. Jh. v. Chr. gehört, vermutlich aber bis weit ins 2. Jh. v. Chr. reicht; erwähnt sei jedoch, dass keinerlei Reliefkeramik gefunden wurde, die vor allem aus dem 2. Jh. v. Chr. stammt und in Kaunos sonst gut bekannt ist, und auch jegliche spätere Keramik wie z. B. die auffällige ESA-Ware des Späthellenismus bzw. der frühen Kaiserzeit fehlt gleichfalls ganz. Wieder liegt es nahe, an ein Ereignis wie jenes Erdbeben zu denken, das vermutlich eine ältere polygonale Terrassenmauer zerstörte, die anschließend wieder hergestellt wurde; dabei hat man anscheinend nur die markanten Ecken in der ‘modernen’ Quadertechnik ausgeführt, einen großen Teil dazwischen aber im alten Polygonalverband wieder errichtet. Offenkundig ist eben dies nördlich der hohen östlichen Terrassenecke, wo am ansteigenden Hang der Übergang vom Polygonal-zum Quaderverband noch zu beobachten ist, und wo auch ein mit Randschlag versehener Quader gleichsam als Füllstein eingefügt wurde23.
12Insgesamt scheint auch hier ein durchaus pragmatisches Vorgehen vorzuliegen, nämlich vorhandenes polygonales Steinmaterial weiter zu verwenden, verbunden mit einem selektiven Einsatz der ‘modernen’ regelmässigen Quaderformen, hier an den markanten Terrassen-Ecken. Dabei führt das unmittelbare Nebeneinander bzw. Ineinanderübergehen von Polygonalzu Quaderverband die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen klar vor Augen. Umgekehrt beleuchtet die Vielfalt der Mauer-und Steinformen die wechselvolle Geschichte der Terrasse bzw. Stadtmauer und verweist zugleich auf das Schicksal der Stadt, die immer wieder zerstört, aber auch immer wieder aufgerichtet wurde.
13Nachzutragen wäre hier noch, dass jenes in der Überlieferung genannte Erdbeben von 227/6 v. Chr. natürlich nicht ein vereinzelter Anlass war, vielmehr ist mit einer Vielzahl von solchen Erdbeben zu rechnen wie sie für diese Region bezeichnend sind, von denen aber nur die heftigsten der schriftlichen Erwähnung für wert befunden wurden. Nehmen wir dennoch jenes Erdbeben von 227/6 v. Chr. als Arbeitshypothese ernst, dann ergibt sich, dass zumindest bis ans Ende des 3. Jhs. v. Chr. ausgesprochen altertümliche Bauformen und Bauformate diesen öffentlichen Bereich von Kaunos bestimmten. Der Pragmatismus, mit altertümlicher Bausubstanz zu leben, muss einhergegangen sein mit einer positiv geprägten ästhetischen Wahrnehmung – man könnte vereinfacht auch sagen: mit einem recht konservativen Geschmack bis weit in den Hellenismus hinein.

Abb. 1. Kaunos, W-Mauer A 8, Feldseite.

Abb. 2. Kaunos, W-Mauer A 7, Feldseite.

Abb. 3. Kaunos, W-Mauer A 7, Stadtseite.

Abb. 4. Kaunos, W-Mauer A 5,Feldseite.

Abb. 5. Kaunos, W-Mauer A 3-4, Feldseite neben der Bastion.

Abb. 6. Kaunos, W-Mauer, Bastion W IV von S.

Abb. 7. Kaunos, Terrassenmauer C 4, SW-Ecke.

Abb. 8. Kaunos, Terrassenmauer C 4,W-Abschnitt.

Abb. 9. Kaunos, Terrassenmauer C 4, SO-Ecke.

Abb. 10. Kaunos, Terrassenmauer C 4, mittlerer Teil.
Notes de bas de page
1 Hoskyn 1842, 143-4.
2 Vgl. Collignon 1877, 338-9.
3 Vgl. Maiuri 1916-1920, 272-3. Merkwürdigerweise bildet Maiuri (Abb. 124-7) nur die stadtseitige Ansicht der Stadtmauerabschnitte ab, nicht die nach Aussen gerichtete repräsentative Feldseite.
4 Vgl. Bean 1953, 11-15; McNicoll 1997, 190-9; Pimouguet-Pédarros 2000, 242-53.
5 Eine geodätische Aufnahme des Geländes und der wichtigsten Ruinen zum ersten Mal vorgelegt im AA 1994, 186, Abb. 1.
6 Erste Ansätze bei Schmalz 1991, 137-9 und 1994, 187-201.
7 Bezeichnungen wie A7 beziehen sich hier wie im Folgenden auf den Übersichtsplan im AA 1994, 186 Abb. 1.
8 Dabei scheinen keine Standard-Formate verwendet worden zu sein; in dem näher betrachteten Abschnitt A7 variiert die Quaderhöhe beträchtlich, wobei praktisch alle Maasse zwischen den genannten Werten vorkommen; lediglich kann man feststellen, dass im nördlichen Abschnitt der Mauer Quaderhöhen über 0,49 m fehlen, und dass manche Höhen wie 0,48/0,49; 0,46; 0,40; 0,38 häufiger verwendet sind.
9 Trotz mancher Unterschiede zu vergleichen ist z. B. die Terrassenmauer des Athena-Heiligtums in Priene: Rumscheid 1998, Abb. 93; McNicoll 1997, 194, verweist für Kaunos auf die beschriebene Erscheinung und erwägt, dass es sich um eine Reparatur handeln könne, oder dass eine andere Bauhütte hier tätig war, oder dass es sich um eine Frage der Qualität handle.
10 In dem näher betrachteten Abschnitt A7 sind auf etwas mehr als 80 m Mauerlänge bei einer Höhendifferenz von c. 15 m sechs Fugen eingebaut; bei einer Mauerlänge von gut 450 m zwischen Sivri Hisar und dem Fort an der NW-Ecke der Stadtmauer (A7 bis A9) ist bei einer Steigung von etwa 70 m mit c. 30 Fugen zu rechnen – jeweils mit mehr oder weniger aufwendigen Ausklinkungen über mehrere Schichten hinweg. Leider ist die Mauer im oberen Teil stärker zerstört, gelegentlich bis auf zwei bis drei Schichten, so daß die Fugen nicht immer zu erkennen sind.
11 Eine solche Deutung könnte z. B. bei einer Fuge weiter nördlich im Bereich A7 nahe liegen, da sie hier über 4 bzw. 6 Schichten hin fast exakt vertikal angelegt ist (Abb. 1); doch ist auch hier wie in anderen Fällen zu beobachten, dass die Fuge nicht die ganze Mauerhöhe erfasst, sondern nur den oberen Teil; auch hier laufen mehrere Quader-Schichten im Bodenbereich unterhalb der Fuge unverändert durch. Hinzu kommt, dass die Fugen der Stadtseite nur ungefähr denen der Feldseite entsprechen, indessen nie genau korrespondieren.
Im Unterschied zu den kaunischen Fugen vgl. die ‚Baunähte’ an der Stadtmauer in Samos: Kienast 1978, 43 zu Taf. 34, 5.6. Dazu vgl. die Baunaht am größen Rundturm am Hafen in Knidos: McNicoll 1997, 58; den kaunischen Fugen sehr ähnlich ist der Befund in Knidos zwischen Turm 31 und 32 (McNicoll 1997, Abb. 26), doch fällt eine Bewertung ohne genaüre Kenntnis des Kontextes schwer (McNicoll, 58, vermutet eine zeitliche Differenz zwischen den beiden Mauerabschnitten, wobei die Rückseite zu bedenken wäre).
12 Vgl. Schmalz 1994, 191 Abb. 4.
13 Vgl. Metzger 1963, 14 und 82-3, Taf. 12, 2. Gut zu vergleichen sind auch die Mauern der Festung Kydna (Pydnai) im Xanthos-Tal, die Adam in die Zeit des Ptolemaios II. datiert: Adam 1982, 124-65. Zuletzt zur Datierung der Xanthischen Mauer: J. des Courtils 1994, 289-90.
14 Vgl. Schmalz 1991, Abb. 7.
15 Entsprechend vermutet z. B. J. des Courtils (1994, 290) Renovierungen als Hintergrund für die Unterschiede im Mauerwerk in Xanthos.
16 Vgl. Schmalz 1994 Taf. 7 Nr. 62; Marek 2006, Nr. 146.
17 A5, Bastion W IX.
18 Vgl. Ohly 1965, 304-9, 339-42.
19 Vgl. Pol. 5.88-90.; vgl. ferner Berthold 1984, 92-3.
20 Vgl. die Inschrift I. Iasos 1322: Pugliese Carratelli 1967-1968, 445-53, bes. 450.
21 Diese ‘Verdoppelung’ der Mauer reicht fast genau bis zum Turm W X oberhalb der Wasserleitung (s. Schmalz 1994, Abb. 1); ob von hier an die Mauer den Hang hinauf durch das Erdbeben nicht zerstört war oder eben nur in alter Stärke wiedererrichtet wurde, ist ohne detailliertere Untersuchung nicht zu sagen.
22 Wiederholt wird in der bisherigen Literatur die Frage diskutiert, welcher der beiden Abschnitte der W-Mauer der ältere ist, der südliche polygonale Teil oder der nördliche isodome. Dabei ist zu bedenken, dass z. B. an der mächtigen Bastion vor dem W-Tor (W IV = hier Abb. 6) das gleiche Verfahren der Fuge zu beobachten ist wie am N-Teil der Mauer; denn die SW-Ecke der Bastion ist auch im oberen Teil aus durchgehend mächtigen Quadern gefügt – wohl um besondere Stabilität zu signalisieren in Verbindung mit ihrer Betonung durch Gründung auf klassischen Spolien – so dass dann nach O und N hin die vier hohen Schichten durch fünf flachere ersetzt werden; dabei sorgt das oben beschriebene Verfahren der Ausklinkung für enge Verzahnung. Andererseits sind hier wie in der nördlichsten großen Bastion W IX jeweils in der SW-Ecke demonstrativ Spolien verbaut, die in Verbindung mit dem übereinstimmenden Mauerverband an gleichzeitige Errichtung denken lassen; umgekehrt ist gerade an der Ecke der Bastion W IX jenes System der doppelten Binder und Läufer zu finden, das an mehreren Türmen des isodomen N-Abschnittes zu beobachten ist, und das P. Pedersen als technische Besonderheit mit einer hekatomnidischen Bauweise verbunden hat (Pedersen 2001-2002, 109; s. auch den Beitrag von P. Pedersen in diesem Band); das gleiche System ist in Kaunos allerdings auch am Turm W X (A5) verwendet, dessen Mauerwerk nur zu den Ecken hin isodom ausgerichtet ist, ansonsten aber polygonal gebaut ist; zudem ist anzumerken, dass die beiden annähernd quadratischen Binder an den Turm-Ecken zwar durchaus in Kaunos vorkommen, dass ebenso häufig aber der eine auf Kosten des anderen deutlich breiter geraten ist, so dass die eigentümliche Paarigkeit der beiden Binder durchaus weniger zur Geltung kommt.
Zu einer ‘vor-maussolleischen’ Datierung jener merkwürdigen Verwendung doppelter Binder an den Turm-Ecken vgl. im übrigen Peschlow-Bindokat 2005, 18 f. (s. Taf. 6-7., 17, 38-9. u. a.). Die Unterschiedlichkeit der so mächtigen Bastionen im S-Teil der kaunischen W-Mauer und der kleineren Türme im N-Teil wird man wohl kaum als Argument gegen Gleichzeitigkeit ins Feld führen können; denn oberhalb der Wasserleitung steigt der Hang stark an, so dass Belagerungsmaschinen kaum mehr einzusetzen waren; Bastion W IX besetzt auf einer ersten steilen Anhöhe eine optimale strategische Position als Beobachtungsposten über die Ebene des heutigen Candir und als Standort weit reichender Verteidigungsgeschütze. Zum ‘trapezoidalen Stil’ ohne Binderblöcke (mit nahezu regelmässigem Quadermauerwerk an den Ecken: so in Kaunos z. B. der von Bastion W IV ummantelte ältere Turm) in Lykien sowie zum regelmäßigen Vorkommen von Binderblöcken im hellenistischen Mauerwerk Lykiens vgl. Marksteiner 1993, 44-6.
23 Vgl. Schmaltz 1994, 196, Abb. 7.
Auteur
Christian-Albrechts Universität zu Kiel
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