„Abendphantasie‟ — „des morgens‟
Überlegungen zu unterschiedlichen Möglichkeiten der Selbstaussage
p. 147-159
Texte intégral
1In seinem„ Brief an meinen Freund, in dem ich ihm meine Lieblingsgedichte zum Lesen empfehle ‟führt Nietzsche die letzten Strophen aus dem Gedicht „ Abendphantasie ‟an, „ in dem sich die tiefste Melancholie und Sehnsucht nach Ruhe ausspricht ‟.1 Bezeichnenderweise hat Nietzsche eine Dynamik der Unzufriedenheit gerade dort erkannt, wo die meisten Interpreten, von einem dialektischen Denkmodell beeinflußt, vor allem die durch Entsagung gewonnene statische Erfüllung wahrnehmen. Die zentrale Frage„ Wohin denn ich? ‟ verleiht der„ Abendphantasie ‟nämlich eine Bewegung, die die Richtungen und problematischen Möglichkeiten der Selbstaussage geradezu dramatisch demonstriert. Dem Unternehmen sind Schranken gesetzt: „ Denn diese Dichter sagen nicht ‘ich’ im Sinne des Erlebnislyrikers [...]; Klopstock [...] meint so wenig wie später Hölderlin sich selber in seiner menschlich-allzumenschlichen Bedingtheit, sondern einzig in der Beziehung zum Höchsten, dem der Dichter nach beider Auffassung ihres heiligen Berufs geeignet ist.‟2 Gerade die Selbstverständlichkeit einer solchen Dimension aber wird durch die Ode „ Abendphantasie ‟in Frage gestellt, denn die„ menschlich bedingte ‟schwierige Selbstfindung im Irdischen wird hier effektvoll inszeniert. Bemerkenswert ist zudem, daß diese Spannung nicht spekulativ, sondern lyrisch formuliert wird. Die mit der„ Abendphantasie ‟zeitgleich entstandene und auch thematisch mit ihr verbundene Ode„ Des Morgens ‟ist dagegen gerade für die genregesetzlich implizierte Bewältigung der Subjektivität exemplarisch. Diese Ode vermag den Standort des Ich ohne Dissonanz zu bestimmen.
2Sowohl in der Gattungsgeschichte als auch in Hölderlins Dichtungspraxis richtet sich die Ode nach strengen inhaltlich-formalen Prinzipien. Wolfgang Binder hat die metrisch-rhythmischen Phänomene in der Hölderlinschen Ode eingehend untersucht:3 In der hier vertretenen alkäischen Strophe bewirkt die regelmäßige Verteilung der Hebungen und Senkungen einen fließenden„ undulierenden‟4 Rhythmus, der Zeitablauf und Bewegung zum Ausdruck bringt; das asklepiadeische Modell hingegen läßt Hebungen zusammenprallen, wirkt somit isolierend und konstruierend5 und bringt daher nicht Kontinuität, sondern ein„ architektonisches Gefüge‟6 hervor. Nach Binder besteht außerdem ein Zusammenhang zwischen Formmerkmalen und der Verwendung der von Hölderlin benutzten Odentypen. Der eine ist an Natur und Seele orientiert: „ Dieses Gleiten […] verleiht der alkäischen Strophe etwas Elementares, Naturhaftes, ganz im Sinne des alten Satzes ‘natura non facit saltus’, oder auch etwas Seelisches im Sinne der auf- und abflutenden Seelenbewegung ‟; der andere eignet sich aufgrund der rhythmischen Kontrastierung für diskursive Gedankenführung: „ [...] die asklepiadeische Strophe [verkörpert] eine Form der Diskontinuität und der Antithetik, die dem logisch gliedernden Gedanken eignet.‟7 Beiden Typen gemeinsam ist das antithetische Prinzip, das jedoch unterschiedlich realisiert wird: als Prozeß und Bewegung einerseits (vgl.„ Abendphantasie ‟, „ Des Morgens ‟), als begrifflicher Gegensatz und Gesetzmäßigkeit andererseits. Aus alledem geht hervor, daß die Odenform von einer Dynamik der Spannung und Auflösung getragen ist.8 Diese Spannung ist nicht diskursiver Art: Sie entsteht aus der Anwesenheit eines Ich, das in seiner Beziehung zu einem nicht subjektiven Gegenüber gezeigt wird. So lassen sich die„ dualistische Grundhaltung ‟und das Aufkommen emotionaler Faktoren erklären, jene„ leidenschaftliche und doch unbefangene Art, mit der das individuelle Ich des Dichters sich auseinandersetzt mit einem Du der gegenständlichen Welt ‟.9 Die Ode vereint somit formale Strenge und Gefühlsausdruck eines mit einer fremden Wirklichkeit konfrontierten Subjekts, „ eine kühle Distanz und dennoch tiefe Ergriffenheit vom Erlebnis, die sich in strenger, getragener Formgebung bändigt‟10.
3Diese spezifische Funktion der Ode wird durch die Werkgeschichte bestätigt: Sie hilft dem Dichter, wie Stephan Wackwitz zeigte,11 über die Versuchung der Abstraktion hinweg und bietet einen Ausweg aus der Aporie der Tübinger Hymnen; sie führt Wirklichkeitsbewußtsein und Drang nach Ideal zusammen, indem sie den klar konstituierten Gegensatz von„ subjektiver Idealität ‟und„ objektiver Wirklichkeit‟12 auflöst. Die Ode ist also der Ort, wo sich das Gefühl und die Einsicht in dessen Gefahren gleichzeitig manifestieren.
4„ Abendphantasie ‟und„ Des Morgens ‟fallen thematisch und chronologisch mit theoretischen Überlegungen zusammen, die darauf abzielen, den dichterischen Enthusiasmus auf das harmonische Zusammenwirken von Gefühl und Geist zu gründen: „ Das Gefühl ist aber wohl die beste Nüchternheit und Besinnung des Dichters, wenn es richtig und warm und klar und kräftig ist. Es ist Zügel und Sporn dem Geist. […] Ist es aber zu zart und weichlich, so wird es tötend, ein nagender Wurm.‟13 Aus der Bemühung, das dichterische Unternehmen vor einer ausufernden Subjektivität zu schützen, entsteht die scheinbar widersprüchliche Synthese„ da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Grenze deiner Begeisterung ‟,14 die Schillers Lehre –„ Bleiben Sie der Sinnenwelt näher, so werden Sie weniger in Gefahr seyn, die Nüchternheit in der Begeisterung zu verlieren‟15 – in einer Maxime zusammenfaßt. So etabliert sich ein von„ Abendphantasie ‟und„ Des Morgens ‟bestätigter Funktionszusammenhang zwischen der dreistufigen Bewegung der Ode und der notwendigen Rückkehr von der Begeisterung zur Reflexion: „ Ein – oft dramatischer – Wechsel der poetischen Tonlage und das Phänomen, daß die Thematik und Stimmung der Gedichtanfänge am Schluß in einer Art reflektierender Coda wiederaufgenommen wird, kennzeichnet jedenfalls viele Oden.‟16
5Mit solchen Beobachtungen läßt sich die philosophische Bedeutung dieser„ Ernüchterung ‟allerdings nicht erschöpfen, denn sie drückt weniger Desillusion als vielmehr den Willen aus, das„ Geistige ‟mit dem„ Sinnlichen ‟ zu vereinen: „ […] weil diese Harmonie das Zusichkommen des Geistes und die Hinwendung zum Stofflichen vereinigt, weil sie zugleich ‘geistiger’ wie auch eine ‘Realisierung’ des Geistigen ist, nennen wir sie eine ‘Vollendung’. ‟ So kommentiert Lawrence Ryan auf dem Hintergrund von Hölderlins poetologischen Fragmenten die letzte Strophe der„ Abendphantasie ‟.17 Die Übereinstimmung der Hölderlinschen Ode mit dem Gattungsgesetz scheint nämlich einherzugehen mit der normativen Beschreibung des dichterischen Schaffens, wie sie in„ Wechsel der Töne ‟oder in„ Die Verfahrungsweise des poetischen Geistes ‟entworfen wird. Im Hinblick auf„ Abendphantasie ‟ und„ Des Morgens ‟versucht Ryan diese doppelte thematische Angleichung nachzuweisen und paraphrasiert den symmetrischen Verlauf der beiden Gedichte folgendermaßen: „ Auch im einzelnen fällt die Parallelität zwischen der ‘Abendphantasie’ und der ‘Morgenphantasie’ (wie unser Gedicht ursprünglich hieß) auf. Beide gehen von einem (naiv dargestellten) Naturbild aus, in dem aber bereits das Gefühlsmoment (dort die Ruhelosigkeit des heimatlosen Menschen, hier das überschwengliche Emporstreben) mitschwingt, das in der zweiten, heroischen Partie vorherrscht und den Grundton des ganzen Gedichts bildet; und mit der Vision des am Abendhimmel aufblühenden ‘Frühlings’ oder dem Aufblick zur stolz vorüberwandelnden Sonne kommt dann die ‘Phantasie’ zu Wort, wobei aber zugleich die damit verbundene ‘Auflösung’ des ‘Individuellen’ fühlbar wird; und beide Gedichte klingen in einem Ton der Resignation aus, worin die Bescheidenheit der ‘naiven’ Gesinnung als ein innerliches Gegenstück zur anfänglichen Wirklichkeitsnähe empfunden wird.‟18 Dieser Verlauf entspricht der Folge der Tonlagen –„ naiv, heroisch, idealisch, naiv ‟–, die die Aktualisierung des Geistes im Stoff des Gedichtes selbst sichtbar machen.„ So können wir von der poetischen Verfahrungsweise sagen, daß sie sich nicht nur im Gedicht widerspiegelt, sondern sich in ihm ‘vollzieht’, und zwar in Übereinstimmung mit Hölderlins theoretischer Darstellung ihres Entwicklungsweges. Kraft dieses Vollzugscharakters wird das Gedicht gleichsam zu einem geistigen Akt, in dem der poetische Geist sich in seiner Äußerung wiederfindet.‟19
6Die formale Perfektion der Ode besteht demnach darin, einen poetischen Prozeß zu gestalten, bei dem die Harmonie nach dem Gesetz vom„ Wechsel der Töne ‟am Ende wiederhergestellt wird: Die Ode, „ wie sie Hölderlin verstand und pflegte, [stellt] einen ‘Widerstreit’ nicht nur als solchen [dar], sondern vor allem als Ausdruck einer in der Rückkehr zu sich selbst sich vollendenden poetischen Verfahrungsweise ‟.20 Die Deutung der Oden nach Hölderlins poetologischem Modell, wie sie Ryan hier vornimmt, muß die Begriffe„ Synthese ‟, „ Ganzheit ‟, „ Vollendung ‟in den Vordergrund stellen. Der hier vorgeschlagene Ausgleich der Gegensätze wird aber der Eigenart der subjektiven Aussage in„ Abendphantasie ‟nicht gerecht, was sich durch die Lektüre von„ Des Morgens ‟einleuchtend belegen läßt. Die augenfällige thematisch-formale Verwandtschaft wird durch ein Manuskriptblatt bekräftigt, das auf der Vorder- und Rückseite den Entwurf zu je einem der Gedichte trägt, wobei„ Des Morgens ‟noch„ Morgenphantasie ‟betitelt ist und den harmonischen Schluß noch nicht aufweist. Die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen der Morgen-Ode zählen übrigens zu den Indizien, die die eben postulierte Symmetrie der„ Abendphantasie ‟und ihres Gegenstücks relativieren.
7Aber vorerst sollen die Ergebnisse der Manuskriptuntersuchung durch Friedrich Beißner zusammengefaßt werden: Es stellt sich nämlich heraus, daß die Oden jeweils ausgehend von einer Selbstaussage verfaßt wurden. Die dritte Strophe der„ Abendphantasie ‟wurde vor den drei vorhergehenden Versen geschrieben; der Entwurf zur metaphorischen Beschreibung des Himmels in den Strophen 4 und 5 bricht bei dem Wort„ Abendhimmel ‟ab, stellt aber schon den Begriff„ allein ‟heraus, woraus das Schlüsselwort der vorletzten Strophe, „ einsam ‟, hervorgegangen ist. Auch für die„ Morgenphantasie ‟läßt sich mit Sicherheit sagen, daß die dritte Strophe mit ihrem subjektiven Aufschwung als erste abgefaßt wurde. Aus dem Manuskript ergibt sich also nach Beißner, daß die Konzeption der Oden von gefühlsmäßigen Prioritäten bestimmt wurde: „ Die Handschrift zeigt, daß Hölderlin als Oden-dichter den bewegteren Gefühlston innerer Beteiligung sucht und die betrachtende Einstimmung […] zunächst beiseite läßt.‟21
8Trägt die vollendete Ode dem poetologisch-philosophischen Konzept Hölderlins Rechnung, so ist sie gleichwohl das Ergebnis einer Verarbeitung der Subjektivität, die die intendierte Aktualisierung des Geistes und des Göttlichen mit dem subjektiven Ausdruckszwang zu vereinbaren hatte.„ In Hölderlins Entwicklung treten früh zwei Kräfte hervor: ein philosophischer Drang nach dem Absoluten und ein überzarter Sinn für die Bewegungen des eigenen Gemütes ‟.22 Wenn uns die Lyrik Hölderlins bisweilen immer noch so nahe geht, dann vielleicht, weil die Angst, die bei der maßlosen Anstrengung des Geistes mitwirkt, auch als menschliche Grundgegebenheit aufscheint. Gerade„ Abendphantasie ‟und„ Des Morgens ‟erhellen aus komplementären Perspektiven die Integrationsmöglichkeiten des Subjekts in die Ordnung des Göttlichen: Die beiden Oden zeigen, daß dieses Sich-Einfügen aus entgegengesetzten Kräften resultiert, deren Zusammenführung nur schwer zu erreichen ist.
9Die ersten beiden Strophen eines jeden Gedichts sind Naturbeschreibungen, was die Interpreten als ungewöhnlich hervorheben. Es sind anscheinend idyllische Bilder; die unterschiedliche Perspektive wird aber sofort spürbar, so daß die beiden Gedichteingänge nicht gleichermaßen als„ gegenständliche Schilderung‟23 eingestuft werden können. Weder im Sinne der Wirklichkeitsnähe noch der Subjektlosigkeit kann der Begriff „ gegenständlich ‟die Gemeinsamkeiten der beiden Passagen zusammenfassen. „ Abendphantasie ‟beginnt mit bemerkenswert harmonischen Bildern, deren Wirkung vom Rhythmus intensiviert wird. Ryan stellt fest, daß es sich allerdings mehr um„ Beruhigung ‟als um„ Ruhe ‟handelt und daß die Dynamik des„ heroischen Tons ‟der naiven Schilderung zugrundeliegt: „ […] die ‘Wirklichkeit’ des Stoffes wie die ‘Präcision und Ruhe und Bildlichkeit’ des vorwiegend ‘beschreibenden’ und ‘mahlenden’ Ausdrucks setzen sich in ihrem naiven Charakter von einem hintergründigen heroischen Ton ab, der aber in dieser Darstellung weiter ‘wirkt’.‟24 Aber selbst Hölderlins Formeln lassen sich nur bedingt auf die erste Strophe anwenden, wo„ Präcision ‟und „ Bildlichkeit ‟durch eine Fülle von Stimmungsnotaten aufgewogen werden: ruhig, genügsam, Herd, gastfreundlich, friedlich, Abendglocke. Die Fiktion des Erlebnisberichts wird nicht aufrechterhalten: Die zweite Strophe bringt eine vom Adverb„ wohl ‟getragene Spekulation über den Weltzustand an fremden Orten, in„ fernen Städten ‟. Ryan bemerkt nebenbei,25 daß hier eine„ Verallgemeinerung ‟einsetzt, in der sich ein„ mehr reflektierter Ton ‟ bekundet, der die Frage des Ich vorwegnimmt. Diese Beobachtungen sollten dahingehend ergänzt werden, daß die pseudo-naive Wirklichkeitsbeschreibung nur als Einführung in die Thematik der Ausschließung fungiert; die Idylle wird nicht suggestiv, sondern explizit dargestellt: dafür sorgen die adjektivischen Bestimmungen ruhig, genügsam, gastfreundlich, fröhlich, still, gesellig und die methodische Veranschaulichung der idyllischen Werte: wohlverdiente Ruhe, Heimkehr, Geselligkeit, Abendstimmung, Naturfrieden. Diese beiden Strophen sind demnach eine implizit subjektive thematische Konstruktion, nicht die unmittelbare Wiedergabe des ‘naiv’, rein gegenständlich wahrgenommenen Realen.
10Demgegenüber ist das idyllische Bild, das das Gedicht„ Des Morgens ‟ eröffnet, eine echte phänomenologische Erfassung des Naturerwachens. Wolfgang Binder hat die virtuose Anpassung der Form an die deskriptive Funktion nachgewiesen: „ Jeder Satzteil greift über den metrischen Einschnitt hinaus, so daß ein totales Enjambement entsteht. Das ruhigbewegte Auf und Ab der alkäischen Strophe wird ständig synkopisch überspielt; die parataktisch nebeneinanderstehenden Sätze haben ihre Mitte da, wo im Silbenmaß Übergang von einem Vers oder Versteil zum nächsten ist, so wie der Morgen den Übergang von der Nacht zum Tage bildet.‟26 Die Fiktion einer tatsächlich gesehenen Welt ist hier aufrechterhalten, obwohl die zweite Strophe schon in die kommende Metaphorik hinüberleitet: Der Blick in den Himmel setzt die horizontale Blickrichtung gleichsam organisch fort und legt die Richtung der latenten Sehnsucht nahe. Symbolträchtige Wörter wie ‘verkündend’ oder ‘wandelbar’ drücken die Ambivalenz des Naturphänomens schon aus. Der Grundunterschied ist hier aber, daß der aufsteigende Blick, der zugleich auf die Bewegung einer im Erscheinen begriffenen Figur verweist, mit der naturgemäßen Einfügung der sinnlichen Welt in die göttliche Ordnung einhergeht (denn die Anrufungen in den folgenden Strophen vergöttlichen den Tag). Die metaphorische Vorbereitung des subjektiven Ausrufs nimmt die Integration der individuellen Sehnsucht in die kosmische Ordnung vorweg und trägt somit zur Ausgeglichenheit der abschließenden Entsagung bei.
11Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Eingangsbild in dem einen Fall auf eine Thematik der Ausschließung, in dem anderen auf eine Thematik der Integration deutet. Aus dem Vergleich geht als erstes Ergebnis hervor, daß die Subjektivität unterschiedlich verarbeitet wird.„ Des Morgens ‟zielt auf Relativierung der Subjektivität: Diese hält sich zurück, im fortschreitenden und klarer werdenden Bewußtsein einer Ordnung, die schon vorausgeahnt und durch die Naturbeobachtung nahegelegt wird.„ Abendphantasie ‟hingegen ist auf Kontrastierung angelegt, so daß die Subjektivität sich in den mittleren Strophen in einer vom Reflexionszwang befreiten Entgrenzungsdynamik manifestieren kann.
12Die Rede des Ich im jeweils zweiten Teil beider Oden ist erfüllt von dem Drang zum Göttlichen und der Einsicht in die irdische Begrenztheit. Beide Gedichte teilen dieselbe demonstrative Bewegung. Die Art aber, wie der subjektive Aufschwung gefaßt ist, läßt bedeutende thematische Divergenzen erkennen. Die dritte Strophe der„ Abendphantasie ‟besteht aus zwei dramatisch angelegten Fragen, die einen erklärenden Rückblick auf die anfängliche Idylle umrahmen. Die stark diskursive Gliederung stützt sich auf systematische Gegensätze, die rhythmisch-klanglichen Sequenzen heben die Individualität des Ausdrucks hervor: „ wohin denn ich ‟, „ nimmer nur mir ‟, „ in der Brust der Stachel ‟; das Verfahren setzt sich über die Strophengrenze fort: „ o dorthin nimmt mich ‟, „ einsam […] wie immer, bin ich ‟. Der Einsatz von vielfachen Alliterationen und Vokalkombinationen um den zentralen i-Laut macht die Klanggestaltung des ganzen Gedichts zudem bemerkenswert. Das Wort„ ich ‟ eröffnet und schließt die mittlere Strophengruppe ab, in der sich Aufschwung und Rückfall des Subjekts vollziehen. Durch die gezielte Konzentration aller Betonungsverfahren erhält dieses Wort eine emotionale Intensität, die durch die kraftvolle Entgrenzungsmetaphorik („ In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb’ und Laid! – ‟) und die schlicht menschliche Not des empirischen Fazits („ und einsam / Unter dem Himmel, wie immer, bin ich – ‟) noch gesteigert wird. Anders ist es im Gedicht„ Des Morgens ‟, wo die Affirmation des lyrischen Ich nicht eine solche Schärfe und Ausschließlichkeit erreicht. Sein Erscheinen vollzieht sich nicht dramatisch, sondern progressiv: Eine Stimme erhebt sich, die den Gott zunächst anruft, bevor sie die Sorge des Ich vorträgt. Außerdem kommt das Subjekt ein einziges Mal in der Ich-Form vor, sonst nur als Objekt eines Du in einem als selbstverständlich hingenommenen Abhängigkeitsverhältnis. Parallel dazu wird die Anredeform in„ Des Morgens ‟weit häufiger und beständiger verwendet: Dort gilt die Anrufung dem vergöttlichten Tag allein, während sie sich in der„ Abendphantasie ‟ein einziges Mal an die höhere Sphäre wendet („ o dorthin nimmt mich, / Purpurne Wolken! ‟) und sich abschließend ausdrücklich davon abwendet („ Komm du nun, sanfter Schlummer! ‟, „ doch endlich, Jugend! ‟).
13Es stellt sich heraus, daß die Ode„ Des Morgens ‟die Dialogsituation in die monologartige Anrufung einbezieht, denn die subjektive Rede gibt über den Gott wie über den Menschen Aufschluß, sie enthält ebensoviele Selbstreflexionen wie Vermutungen über das göttliche Gefühl. Das Ich wendet sich an ein Du, dem es implizit Reaktionen und Antworten unterstellt, die den sehnsuchtsvollen Enthusiasmus mäßigen und auf bescheidenere Erwartungen lenken. So dient die kommunikative Anlage der Ode zur Veranschaulichung einer Beziehung, in der die Subjektivität sich am Göttlichen mißt und bildet. Demgegenüber läßt die„ Abendphantasie ‟keine Antwort aufscheinen; das Ich gibt sich nicht dem Gedanken an das wohlwollende Lächeln des Göttlichen hin, sondern richtet sein Denken auf das ‘Törichte’ an seiner Bitte. Das Schweigen des Angerufenen wirkt sich konsequenterweise dergestalt aus, daß das Subjekt die eigene Ernüchterung selbst herbeiführt: „ Doch, wie verscheucht von thöriger Bitte, flieht / Der Zauber ‟. Mit thematischer Stringenz wird somit in die Darstellung der Einsamkeit übergeleitet. Für das Ich ist kein göttlicher Beistand zu erwarten, die vergeblich bemühten Kräfte der Selbstübersteigung schlagen zurück und verschärfen die ursprüngliche Not: „ dunkel wirds und einsam / Unter dem Himmel, wie immer, bin ich – ‟. Das Subjekt, das sein Unternehmen als ‘Torheit’ betrachtet, sieht sich in das altbekannte Menschsein zurückversetzt. Im anderen Gedicht hingegen bezeichnet es sich als„ frohen Übermüthigen ‟und beansprucht als erstes ‘Segen’, ‘Heiterkeit’und einen ‘stillen Pfad’ auf Erden. In der Ode„ Des Morgens ‟bringt der leicht selbstkritische Ton der versöhnlichen Rede den überheblichen Drang der Subjektivität somit paradoxerweise zur Geltung, während die Ernüchterungsmetaphorik der „ Abendphantasie ‟ihn bis zum Ende der vorletzten Strophe in seiner leidvollen Vergeblichkeit zeigt. Die Darstellung des subjektiven Aufschwungs selbst wird unterschiedlich gestaltet.„ Des Morgens ‟richtet sich dabei nach der impliziten dialogischen Bewegung und setzt den Anzeichen überschwenglichen Gefühls die spezifischen Eigenarten des göttlichen Gegenüber entgegen. So wird unter konsequenter Verwendung der Anredeform die subjektive Beziehung zum Göttlichen durch eine allegorieähnliche Personifizierung nahegelegt. Dem Tag werden konventionelle Attribute zugeschrieben, die in die verherrlichende Rede aufgenommen werden: schnell, golden, freudig, schön, jugendlich, herrlich, stolz, göttlich, gütig. Es ist zwar eine bewegte Passage, wie Detlev Lüders zeigt: „ Der Ton ungestümer Unruhe, der mit dem Auftreten des Ich (V. 9) einsetzt, ruft unmittelbar stärkere Unruhe im Satzbau hervor: während bisher nur eine einzige Stauung des Satzablaufs (‘Verkündende’, V. 6) auftrat, finden sich jetzt sieben solche Stauungen, die durch eingeschobene Anrufe (V. 10, 12, 16, 20) und steigernd-parallelen Bau von Satzteilen (V. 9,11,14) entstehen.‟27 Die rhythmischen Phänomene sind hier jedoch wohl überinterpretiert, denn allzu„ ernüchternd ‟wirken auf thematischer Ebene die Einsicht in die unvergleichliche Vollkommenheit des Gottes und die Furcht vor dessen Urteil. Es kommt also eine Art Kontrapunkt zustande, der die individuelle Sehnsucht und deren Gegenstand zugleich verbindet und trennt. So wie die Naturmetapher in der zweiten Strophe das himmelwärts schauende Ich bruchlos einführte, so kommt die Beziehung des Menschen zum angerufenen Gott zu dem glücklich-versöhnlichen Schluß: Die Anerkennung der eigenen Begrenztheit stellt göttliche Wohltaten in Aussicht und wiegt die Schmerzen der Entsagung auf.
14In der„ Abendphantasie ‟kommt, da keine persönliche Verbindung hergestellt wird, ein derartiger Kompromiß nicht zustande: Der Aufschwung in unerreichbare Höhen wird als Illusion entlarvt; um so ergreifender ist seine Darstellung. Diese hat mit der allegorisch-mythologischen Figuration des anderen Gedichts nichts gemein, ihre Originalität und Aussagekraft liegen in ihrem vollkommen metaphorischen Charakter. Die Metapher setzt sich aus vertrauten Naturbildern zusammen; nur die unerwartete Distribution und Assoziation dieser Elemente machen die Qualität und Mehrdeutigkeit dieser Sequenz (4. Strophe) aus. Der Sonnenuntergang wird nämlich als ein Schauspiel aus der Pflanzenwelt beschrieben, eine Assoziation, die eine Form der kosmischen Einheit von Erde und Himmel unmittelbar nahelegt.„ Abend ‟ und„ Frühling ‟lassen sich somit in Hölderlins menschheitsgeschichtliche Vorstellungen einordnen: „ Ein Abendrot am Himmel (vgl. ‘purpurne Wolken’, V. 16) gibt den Hinweis, daß der Abend kein Ende, sondern einen Anfang (‘Frühling’) vorbereitet (vgl., auf einer späteren Stufe, die dritte Entwurfsphase zu ‘Friedensfeier’, V. 77-79: ‘Denn sieh! es ist der Abend der Zeit, die Stunde/wo die Wanderer lenken zu der Ruhstatt. Es kehrt bald/ Ein Gott um den anderen ein’). Diesem Verheißenen muß der Sänger zugewandt bleiben […].‟28 Diese Interpretation kann sich außerdem auf das explizite Bild„ goldne Welt ‟berufen; sie erschöpft die Bedeutung der Metapher aber nicht, da sie nur deren thematische Verweise auswertet. Die andere Bedeutungsdimension entsteht aus der Häufung von Bildern des Aufblühens: „ blühet ein Frühling auf ‟bewirkt eine unbegrenzte Ausweitung; hinzu kommen das Adverb „ unzählig ‟und das wiederkehrende Verb„ blühn ‟, die den Effekt noch steigern. Eine solche Konzentration drückt einen Zustand des Entzückens und der äußersten Ergriffenheit aus, dessen Grund nicht explizit angegeben wird. Der metaphorische Bezug aber, in dem Naturwelt und Himmel eins werden, legt die Berührung mit dem Göttlichen nahe und rückt die verschwenderische Blumenfülle zumindest phänomenologisch in die Nähe mystischer Visionen. Der zur nächsten Strophe überleitende Ausruf bringt einen Tonwechsel. Das im Optativ formulierte Streben ist von bemerkenswerter subjektiver Intensität: Die Klage des Menschen äußert sich gleichzeitig mit dem Wunsch, im Unendlichen aufzugehen: „ und möge droben / In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb’ und Laid! – ‟. Die strukturierenden Alliterationen, der Kontrast von dumpfen und schrillen Vokalen verleihen dem Ausruf die Ausdruckskraft eines Schreis. Die Worte„ Lieb’ und Laid ‟erinnern an die menschlich-empirische Dimension des existentiellen Unbehagens. Das Streben selbst manifestiert sich durch eine Metapher der Entgrenzung, die scheinbar der Romantik verpflichtet, in Impuls und Ergebnis jedoch weit davon entfernt ist. Denn die „ Hyperbolisierung‟29 des Ich führt nicht zur Erkenntnis, sie kann nach der Verflüchtigung des ‘Zaubers’ nicht weiterbestehen: „ wie verscheucht von thöriger Bitte, flieht / Der Zauber ‟. Die metaphorische Illusion bricht zusammen und damit auch das Erlebnis beziehungsweise die Hoffnung, die die Metapher einzufangen versuchte. Soll das Ende der metaphorischen Illusion nun auch das Ende des„ metaphysischen ‟Trostes bedeuten? Gewiß nicht, denn unter der Verzweiflung entwickelt sich als Kontrapunkt eine Art negative, ebenfalls unromantische Weisheit: Die Auflehnung gegen das Menschsein, der Drang nach dem Unendlichen ermöglichen keinen Zugang zu der höheren Ordnung.
15Was bleibt, ist zu warten, bis die Leidenschaften sich im Alter legen, wie die letzte Strophe nahezulegen scheint. Sich mit dem Göttlichen zu verständigen, den Weg der konstruktiven, nicht den der zerstörenden Begeisterung zu gehen, wie es die Ode„ Des Morgens ‟beispielhaft vorführt.„ Abendphantasie ‟aber sollte eben nicht wie„ Des Morgens ‟gelesen und auf dessen Schema reduziert werden. Das Spezifische daran ist eine doppelte Widerlegung der als irdischer Friede, dann als himmlischer Frühling erscheinenden Idylle. In beiden Richtungen, der horizontalen und der vertikalen, werden der menschlichen Sehnsucht Schranken gesetzt: Auf den Wunsch nach gesellschaftlicher Eingliederung antwortet das Gefühl des Ausgeschlossenseins, auf das Streben nach dem Absoluten die Desillusionierung. Am Ende ist der Mensch„ der Erde wieder zurückgegeben‟30 („ einsam / Unter dem Himmel, wie immer, bin ich – ‟). Die Beschwörung von Schlaf undAlter, mit der das Gedicht abschließt, ist ein geringer Trost, eine dürftige Entschädigung. So zielt das Gedicht mit konvergierenden Ausdrucksmitteln auf die rückhaltlose Formulierung subjektiver Ratlosigkeit hin.
16Die Interpretationen der„ Abendphantasie ‟fallen im allgemeinen optimistisch aus und berufen sich dabei auf die letzte Strophe. So ist Detlev Lüders zum Beispiel nicht der Ansicht, daß der Zauber aufgehoben sei: „ Wenn der Schluß geneigt ist, […] in den ‘Schlummer’ zu flüchten […], so behält der ‘Zauber’ dennoch seine unscheinbar wirksame Macht ‟, und er argumentiert: „‘Törig’ ist zwar seine Bitte, mit den Wolken zum Himmel gelangen zu dürfen […]. Törig’ ist aber nicht der ‘Zauber’ selbst.‟31 Aber was soll ein Zauber, wenn der Glaube daran als Torheit bezeichnet wird? Ryan betont seinerseits die Harmonie, die die Strophe beherrscht und die an die anfängliche Idylle anknüpft: „ Aus dieser letzten Strophe der ‘Abendphantasie ’ spricht eine beruhigte Resignation, die dem Dichter den bisher unerreichbaren Frieden gewährt und somit einen Bezug zum naiven Anfangston herstellt.‟32 Hölderlins Poetik gemäß sieht er darin Ende und Erfüllung des„ Wechsels der Töne ‟, den„ unendlichen Augenblick ‟, wo die stillstehende Bewegung die Anwesenheit des Geistes anzeigt: „ […] aus der widerstreitenden Gegensätzlichkeit der Töne [ist] der ‘göttliche Augenblick’ hervorgegangen […], in dem der Dichter seine poetische Individualität ‘auffaßt’ und in Bewußtsein und Freiheit das ‘ursprüngliche Leben in der höchsten Form’ wiederfindet.‟33 Dieses gesteigerte Leben wird durch Einbeziehung des Geistes in die anfängliche Naivität erreicht: „ Die Schlußstrophe ist als Realisierung dieser ‘Unendlichkeit’ aufzufassen, als eine Wiederbelebung des Geistes durch die Wiedergewinnung der besonderen Tendenz, von der das Gedicht ausging.‟34
17Diese Interpretation, die die Übereinstimmung des Gedichts mit den poetologischen Texten nachzuweisen versucht, unterstellt der letzten Strophe der„ Abendphantasie ‟Ausgewogenheit und Harmonie, die sich bei der Lektüre nicht bestätigen. Thematisch löst die Schlußstrophe die im Gedicht behandelten Probleme nicht: Die Versöhnung setzt Absage an Traum und Jugendleidenschaften voraus und wird unter diesen negativen Prämissen in das Greisenalter hinausgeschoben. Der Kern der Aussage ist nicht so sehr Beruhigung als vielmehr Hoffnung auf Erleichterung. Außerdem ist der „ Stillstand der Bewegung‟35 kein thematischer Bestandteil einer Strophe, in der sich die Zukunft als semantische Dominante geradezu aufdrängt. Nicht nur die Verben und Adverbien verweisen auf künftige Zustände und Handlungen, auch die gesamte Schlußzeile weist dem Subjekt keine andere Perspektive zu als lebenslanges Warten. Bezeichnenderweise lautet die letzte Zeitangabe in „ Abendphantasie ‟„ dann ‟, in„ Des Morgens ‟„ heute ‟. Die letzte Strophe enthält also weder Vollendung noch Erfüllung, wohl aber Sehnsucht, wie sie Nietzsche empfunden hatte – eine in der Logik des Gedichtes selbst begründete Sehnsucht. Der Aspekt des Unvollendeten bringt die letzte Strophe der„ Morgenphantasie ‟ in eine merkwürdige Nähe zum Schluß der„ Abendphantasie ‟:
[...] doch lächelst des Sängers du
Des Übermüt ‘gen, daß er dir gleichen möcht’
Und wandelst schweigend mir, indeß ich
Sinne nach Namen für dich, vorüber !36
18Hier wird ersichtlich, was Umarbeitung und Titeländerung veranlaßt haben mag: Explizites Unbefriedigtsein, Hingabe an Unruhe und seelische Erregung sind dem einengenden, aber konstruktiven Dialog mit der Gottheit gewichen. „ Des Morgens ‟bietet durchaus eine Lösung: Der Wanderer wird seinen Weg mit Gottes Segen fortsetzen. Auch dem„ heimatlosen Sänger ‟aus der Ode„ Der Main ‟(dem dritten Gedicht der dreiteiligen Komposition) ist ein „ stiller Pfad ‟vorbehalten.„ Des Morgens ‟stellt die menschliche Sehnsucht als bedingt erfüllbar hin und läßt ein Ich auftreten, das Selbstbeschränkung und Leidenschaft zu vereinen weiß und vor den Augen der Gottheit bemüht ist, sich mit dem ihm zugemessenen Anteil am Absoluten zu bescheiden. Die Ode gestaltet somit eine Beziehung zum Göttlichen, die dem Hölderlinschen Modell des temperierten Gefühls am besten entspricht.„ Abendphantasie ‟ aber verdeutlicht in ergreifender Weise die schmerzlichen Voraussetzungen dieses versöhnlichen Vorgehens. Sie zeigt mit stark expressiven Mitteln die Auseinandersetzung des Ich mit den Menschen und mit der Gottheit. Die abschließende Synthese relativiert zwar — den Gesetzen der Gattung entsprechend — die Not, die aus dieser Spannung entsteht, sie kann sie aber nicht aufheben.„ Des Morgens ‟hingegen läßt die versöhnliche Lösung zustande kommen, indem es ein Ich vorführt, das von der Einsicht in die Macht des Göttlichen vorherbestimmt ist und sich um so bereitwilliger an die Regeln einer hymnischen Rede hält, die mit stereotypen Vorstellungen von der Gottheit arbeitet. Der Ton des Gedichts verliert dadurch an Originalität.
19Die vergleichende Lektüre der beiden Oden im Hinblick auf die unterschiedlichen Selbstaussagen kann deren Interpretationsmöglichkeiten zwar nicht erschöpfen, wohl aber ihren literaturgeschichtlichen Stellenwert perspektivisch erfassen und eine Ausdruckssituation erhellen, die sich bis ins 20. Jahrhundert maßgebend weiterentwickelte. Die„ Abendphantasie ‟nämlich nimmt mit ihrer zentralen Entgrenzungsmetaphorik jenen subjektivenAusbruch vorweg, der die poetische Innovation im 19. Jahrhundert vorantreiben wird, bevor sie abschließend auf banale Lebensweisheit zurückgreift, um die Qualen von dem Individuum abzuwenden. Demgegenüber zeigt„ Des Morgens ‟, wie sich das Ich der Allmacht des Göttlichen unterwirft und sich dabei bemüht, ihm in gegenseitiger Anerkennung näherzukommen. Das Gedicht versucht auf philosophisch-vernünftiger Grundlage den modus vivendi zweier ungleicher Parteien herzustellen. Liest man„ Des Morgens ‟aber aus der Perspektive der„ Abendphantasie ‟, so wird ersichtlich, welche Anstrengung erforderlich war, um die Expansionskraft der Subjektivität im Zaum zu halten und - an der Schwelle des 19. Jahrhunderts - die Erfahrung des Göttlichen allein aus der Kraft des poetischen Geistes neu zu beleben. Beide Oden vertreten somit auf komplementäre Weise jene Tendenzen, aus deren Verbindung die großen Werke von Hölderlins letzter Schaffensphase hervorgehen sollten.
Notes de bas de page
1 Friedrich Nietzsche, „ Werke III ‟, hrsg. von Karl Schlechta, München, 1972, S. 805.
2 Friedrich Beißner, „ Hölderlins Gedicht - Eine Einführung ‟, in: Ders., „ Hölderlin - Reden und Aufsätze ‟, Weimar, 1961, S. 10.
3 „ Hölderlins Odenstrophe ‟, in: Wolfgang Binder, „ Hölderlin-Aufsätze ‟, Frankfurt a.M., 1970, S. 47-75.
4 So Goethe, zitiert nach Wolfgang Binder, a.a.O., S. 54.
5 Nach Goethe: „ skelettierend ‟, ebd.
6 Wolfgang Binder, a.a.O., S. 54.
7 Ebd., S. 56.
8 Emil Staiger spricht von„ dramatischer Spannung ‟, Beißner von„ Gespanntheit ‟ (vgl. Wolfgang Binder, ebd., S. 56).
9 Karl Viëtor, „ Geschichte der deutschen Ode ‟, zitiert nach Stephan Wackwitz, „ Friedrich Hölderlin ‟, Stuttgart, 1985, S. 88.
10 Gero von Wilpert, „ Sachwörterbuch der Literatur ‟, Stuttgart, 1964, S. 472.
11 Stephan Wackwitz, a.a.O., S. 88-91.
12 Ebd., S. 90.
13 Zitiert nach: Friedrich Beißner (Hrsg.), „ Dichter über ihre Dichtungen - Friedrich Hölderlin ‟, München, 1973, S.43-44.
14 Ebd.
15 Brief vom 20.11.1796, zitiert nach Stephan Wackwitz, a.a.O., S.91.
16 Stephan Wackwitz, a.a.O., S. 92.
17 Lawrence Ryan, „ Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne ‟, Stuttgart, 1960, S. 104.
18 Ebd., S. 182.
19 Ebd., S. 104.
20 Ebd., S. 182.
21 „ Zu den Oden ‘Abendphantasie’ und Des Morgens ‟, in: Friedrich Beißner, „ Hölderlin - Reden und Aufsätze ‟, a.a.O., S. 60.
22 Wolfgang Binder, „ Hölderlins Dichtung im Zeitalter des Idealismus ‟, in: „ Hölderlin-Aufsätze ‟, a.a.O., S. 11.
23 Friedrich Beißner, „ Zu den Oden... ‟, a.a.O., S. 60.
24 Lawrence Ryan, a.a.O., S. 70.
25 Vgl. ebd., Anmerkung 42, S. 71.
26 Wolfgang Binder, „ Sprache und Wirklichkeit in Hölderlins Dichtung ‟, in: „ Hölderlin-Aufsätze ‟, a.a.O., S. 42.
27 Hölderlin, „ Sämtliche Gedichte - Studienausgabe in zwei Bänden ‟, hrsg. von Detlev Lüders, Bad Homburg, 1970, Bd. 11, S. 171-172.
28 Ebd., S. 168-169.
29 NachAde Kittang: „ hyperbolisation du Moi ‟(„ Discours et jeu - Essai d’analyse des textes de Rimbaud ‟, Grenoble, 1975, S. 36).
30 Arthur Rimbaud: „ je suis rendu au sol ‟(„ Une Saison en enfer / Adieu ‟), in der „ Nachdichtung ‟von Paul Zech. In: „ Das gesammelte Werk des Jean-Arthur Rimbaud ‟, Leipzig, 1927.
31 In: Hölderlin, „ Sämtliche Gedichte ‟, a.a.O., Bd. II, S. 169.
32 Lawrence Ryan, a.a.O., S. 103.
33 Ebd.
34 Ebd.
35 Zitiert nach Ryan, ebd.
36 Erster Entwurf, zitiert nach„ Sämtliche Gedichte ‟, a.a.O., S. 170.
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